München, Residenztheater, DAS SCHLOSS - nach Franz Kafka, IOCO Kritik

DAS SCHLOSS: Die von der renommierten Regisseurin Karin Henkel besorgte Inszenierung versucht, Kafkas Werk zusammenzufassen. Man sollte sich auskennen, wenn man die Aufführung besucht. Sie ist offenbar für Insider gedacht ......

München, Residenztheater, DAS SCHLOSS - nach Franz Kafka, IOCO Kritik
RESIDENZTHEATER MÜNCHEN; @ Matthias Horn

„Hier liegt immer Schnee. Auch im Sommer.“

 

von Hans-Günter Melchior

Jemand musste Franz Kafka (1883-1924) verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde der größte Teil seines Werkes in 1 Stunde und 45 Minuten gepresst.

Die große Greifhand, die sich über die Bühne senkte, stiftete den Zusammenhang. Die anonyme Macht, die uns im Griff hat. Unerklärlich und unerklärt. Dass die Greifhand auch die Greifenden in den Griff bekommen wird, wusste Kafka noch nicht. Er war nicht ein Philosoph, der Vernunftkritik betrieb, er war der Leidende und Mitleidende. Und er war der – juristisch eingefärbte – Denker, der mehr unter den Verhältnissen litt, als dass er sie kritisierte.

DAS SCHLOSS - hier das Ensemble @ Lalo Jodlbauer

Die von der zu Recht renommierten Regisseurin Karin Henkel besorgte Inszenierung versucht, Kafkas Werk zusammenzufassen. Man sollte sich auskennen, wenn man die Aufführung besucht. Sie ist offenbar für Insider gedacht, um einen längst in den Sprachgebrauch übergangenen Ausdruck zu verwenden, der Kafka bestimmt fremd war. Wer Kafka nur vom Hörensagen kennt, hat es schwer an diesem Abend. Und wie erwähnt: Ausführlichkeit hätte der Aufführung gut getan.

Zwar trägt das Stück den Titel Das Schloss. Es sind aber Assoziationen  – und mehr als nur oberflächliche Kenntnisse – zum übrigen Werk Kafkas zum Verständnis der Aufführung erforderlich.

Versuche sinnstiftender Ergänzungen der Regisseurin: Etwa die am Boden kriechenden Käfer. Die Wolkenkratzer, die an Amerika denken lassen. Die gestellte Sinnfrage, die Frage nach den Gründen, nach dem Was und Warum, die den Roman Der Process beherrscht.

Zunächst aber: Das Schloss. Unsichtbar. Hier mehr eine Metapher. Es liegt zum Beispiel nach dem unvollendeten, offenbar mutlos von Kafka mitten im Satz abgebrochenen Roman oberhalb eines Dorfes, das von ärmlichen bis an die Grenze des Kretinhaften geduckten Leuten bewohnt wird. Diese Bevölkerung sieht scheu nach oben zum Schloss, das zuweilen im Nebel verschwindet beziehungsweise sich im Nebel jeder Betrachtung entzieht und das aus Häusern besteht, die nicht minder schäbig sind als die Hütten der Dorfbewohner. Es gehört einem nicht näher benannten  Grafen. Auch eine herausragende Figur des Schlosses, ein gewisser Klamm, der zumindest zuweilen im Dorf lebt, wird nie gesehen. Außer von seinen Konkubinen. Von Frieda etwa, die der ins Dorf einreisende Landvermesser gerne heiraten würde.

Überhaupt: der Landvermesser. Eine unglückliche Figur, ständig schlafbehindert (wie Kafka selbst), ihm zur Seite zwei schemenhafte Diener, mehr Quälgeister als Helfer, schwirrende Gestalten, wie in ständiger Selbstauflösung begriffen mit andererseits diktatorischen Anwandlungen. Die nach unten durchsickernde Gewalt. Von der Regisseurin verdoppelt, verdreifacht.

Ein schäbiges, heruntergekommenes Schloss aus mehreren Häusern. Verwahrloste Macht. Dennoch thront das Schloss gottgleich und usurpatorisch über dem Dorf, macht die kleinen Leute noch einmal klein. Keiner der armen und sich unter der anonymen Macht duckenden Bewohner des Dorfes war je in diesem Zentrum der Herrschaft, keiner durchschaut die Gesetze des Herrschens, keiner fragt nach der Legitimation des Usurpators, der im ganzen Roman nur der „Graf“ ist und nie sichtbar wird. Die Macht an sich – ohne Gesicht.

Nie gelingt es dem Landvermesser, überhaupt eine Figur ohne genau definierten Auftrag, zum Schloss zu gelangen, um Befehle zu empfangen. Ein fahles Nichts liegt über den Dingen, dem Dorf, der Landschaft, dem Schloss. Verlorenheit.

Das Schloss hier Michael Waechter, Carolin Conrad @ Lalo Jodlbauer

Es ist schwer, ein Stück aus dem Roman ein Schauspiel herauszuschneiden, einem Werk, das zwar immerhin 312 Seiten hat (S. Fischer-Verlag, Franz Kafka Der Prozeß in der Fassung der Handschrift, Herausgegeben von Malcom Pasley), jedoch mitten im Satz (mutlos, ratlos, verzweifelt?) von Kafka jedoch abgebrochen und liegengelassen wurde. Ein Schleier des Nichts liegt über diesem Werk.

Karin Henkel hat sich dennoch, wohl in Zusammenarbeit mit Rita Thiele dennoch dazu entschlossen, aus dem unvollendeten Buch ein Gesamtwerk in Kombination mit den zwei anderen großen Romanprojekten Kafkas zu zusammenzustellen. Ein Wagnis.

Ergänzungen waren offensichtlich beabsichtigt. Der ganze Kafka. Zumindest Assoziationen zu Der Verschollene (der Amerika-Roman) und zum Process (in der Fassung der Handschrift) werden hervorgerufen.

Im Hintergrund der Bühne liegt, freilich allenfalls am Anfang, im Nebel oder hinter einer Nebelwand, – vielleicht – das Schloss. Später sieht man nur noch Hochbauten, Weder das Dorf noch das Schloss. Nur Wolkenkratzer, die an Amerika denken lassen. An den Roman Der Verschollene. Die Reise eines heimatlos gewordenen Flüchtlings in eine fremde Welt.

Und dann das Wartemotiv, Dieses quälende und nie erfüllte Warten auf eine Erklärung (etwa auf einen konkreten Schuldvorwurf im Prozess, eine Anklage im prozesstechnischen Sinn) wird zumindest verbal und am Rande gestreift. Eben Anklänge an den Roman Der Process. Es kriechen auch Käfer über die Bühne, die Gedanken an die Erzählung Die Verwandlung hervorrufen.

Zudem wird das Personal, des Landvermessers Dienerschaft etwa, auf der Bühne verdoppelt, ja verdreifacht. Bitte Frau Henkel, sagen Sie einem Kafka-Leser: was wollen Sie mir damit beibringen? Etwa die Gleichartigkeit der Situationen im Gesamtwerk des Autors? Die Verdoppelung? Diese geistig undurchdringliche, unverständliche, passiv sich verweigernde, gar feindselige Dienerschaft, der Anderen überhaupt, die Kafkas Werk durchzieht?

Das Alleinsein des Einzelnen in der Gesellschaft? Die Verschlagenheit der Kretins? K. ist ein Gepeinigter. Einer, der überflüssig gemacht wird. Kreatürlich, gequält, liegt er im Bett und kann nicht schlafen. Er ist konstitutionell schlaflos. Wie Kafka selbst.

DAS SCHLOSS hier Evelyne Gugolz_, Nicola Mastroberardino_, Carolin Conrad, Namami Weimar @ Lalo Jodlbauer

K. ist allein auf der Welt und sucht Anschluss. Zu Frieda, Klamms, des mächtigen, wie unsichtbaren Beamten, ehemaliger Geliebter. Es klappt nicht mit der Heirat, die sich der Landvermesser wünscht. Als wäre er tatsächlich „ein überflüssiger Mensch“ in der kalten, dahinvegetierenden Gesellschaft eines schäbigen Landes, das auch im Sommer der Schnee bedeckt. Als wäre Glück die Ausnahme in einer Gemeinschaft, die von einer nicht identifizierbaren, nicht greifbaren Macht durch eine nicht benennbare Gewalt bedroht wird.

Sind wir Heutigen selbst ratlos? Sieht so aus. Nur dass die Herrscher, ohne es zu wissen, inzwischen selbst beherrscht werden. Durch eine angeblich sich als Vernunft tarnende Macht, deren Logik sich nicht nur als zwingend und unausweichlich ausgibt, sondern auch so empfunden wird. Es ist die Logik der Kapitalmehrung, das primitive Einmaleins des Zusammenzählens und des Profits, der unter sich diejenigen begräbt, die das Einmaleins nicht beherrschen oder die nicht an die Rechenmaschinerie herankommen.

Die Schuld oder die Heuchelei oder die Selbstverleugnung der beherrschten Herrschenden besteht darin, dass sie die Unausweichlichkeit der Zwangslogik zur Moral erheben. Weil sie die einzigen sind, die am Ende daraus Vorteile ziehen.

Kafka war ein Vordenker. Was oder wie würde er heute schreiben? Würde er mit seinen Romanen fertig werden?

Das hervorragende Ensemble, Linda Blümchen, Carolin Conrad, Michael Goldberg, Evelyne Gugolz, Vincent zur Linden, Florian von Manteuffel, Nicola Mastroberardino, Vassilissa Reznikoff, Michael Wächter – und Pollyester hat sich durch einen Stoff gearbeitet, der einem so leicht keine Ruhe lässt. Dazu die Kinderstatisterie.

Was für ein Abend. Trotz mancher Einwände. Mit Kafka ist man noch lange nicht fertig. Links und rechts der Bühne ein Pult. Elektronik und Verkündigungen. Zum Teil ironische Kathederweisheiten.

Und über allem: Die Hand.  Nur wessen Hand? Wir müssen anfangen, uns selbst zu durchschauen. Mit der Eindringlichkeit und selbst der Frustration, die Kafka freilich nicht ausgehalten hat.

Kafka hatte Angst. Kein Vertrauen in die eigenen Erkenntnisse, Scheu vor der eigenen, kritischen Kunst, an die zu glauben, er sich nicht traute. Max Brod ist es zu danken, dass wenigstens das unvollendete Werk des Freundes erhalten ist.

Sind wir weitergekommen? Ist unser Denken mutiger als Kafkas? Trauen wir uns, die Verhältnisse bis zu einem Ende zu denken?

Man könnte es meinen. Glaubt man dem einhelligen Beifall der Zuschauer.

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