Weinbergkirche Pillnitz, 1 : 1 Concert mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden, IOCO Kritik, 19.05.2020

Weinbergkirche Pillnitz, 1 : 1 Concert mit der Sächsischen Staatskapelle Dresden, IOCO Kritik, 19.05.2020
Die barocke Weinbergkirche "Zum Heiligen Geist" in Pillnitz - Dresden © Marianne Thielemann
Die barocke Weinbergkirche "Zum Heiligen Geist" in Pillnitz - Dresden © Marianne Thielemann

Sächsische Staatskapelle  Dresden

1:1-Concert -  Sächsische Staatskapelle  Dresden

Kunstperformance von Marina Abramovic inspiriert

von Thomas Thielemann

Es bedurfte erst der Einschränkungen des Konzertlebens durch die Corona-Pandemie, dass die Anregungen der Performance-Künstlerin Marina Abramovic zum Trainieren des Hörens einem größeren Kreis von Konzertfreunden bekannt wurden.

Wegen der Befürchtung, dass die ständige Reizüberflutung der Zeitgenossen verhindert, dass diese Konzertveranstaltungen konzentriert wahrnehmen, hat die kreative Serbin ein System von Übungen zur Besinnung und Bewusstseinsschärfung, die „Abramovic-Methode Ausdauer und Aushalten“, entwickelt.

Anlässlich eines Symposiums zur „Zukunft des Hörens“ der Dresdner Philharmonie im Februar 2020 hatte ich die erste Berührung mit den Gedanken der Performance-Künstlerin. Aber da ich seit 1957 ziemlich intensiv Konzerte und Opernaufführungen besuche, hatte ich mich von den Anregungen zunächst kaum angesprochen gefühlt.

Im Frühjahr 2019 praktizierte Abramovic in Frankfurt mit einer größeren Gruppe über sieben Stunden mit zum Teil drastischen Übungen, gekappten üblichen Handy-Kommunikationskanälen und ohne Uhren ihr System: Langsames Gehen, mit verbundenen Augen auf kleinen Podesten stehen, Reiskörner zählen, fremden Menschen gegenübersitzend in die Augen schauen.

Sächsische Staatskapelle / Performance Concerts in der Weinbergkirche von Pillnitz © Markenfotografie
Sächsische Staatskapelle / Performance Concerts in der Weinbergkirche von Pillnitz © Markenfotografie

Tage später gab es dann ein fünfstündiges Konzert in der Alten Oper Frankfurt. Der Saal zur Hälfte bestuhlt und ansonsten mit Kissen ausgelegt. Nach einer gemeinsamen Übung boten Musiker nach ihren Intensionen einen Klangteppich ohne Unterbrechungen und ohne Beifall. Ein musikalisches Konzept war nicht erkennbar. Die Teilnehmer konnten zwar den Saal verlassen, wurden aber auf den Gängen und den Toiletten von Lautsprecherübertragungen eingeholt.

Mit ihrem Prinzip der zeitlichen Überdehnung setzte Abramovic die Regeln des klassischen Konzertbetriebs regelrecht außer Kraft.

Für das Kammermusik-Festival Sommerkonzerte Volkenroda 2019 im Thüringer Kloster Volkenroda entwickelte dessen künstlerische Leiterin Stephanie Winker mit ihrem Team, angeregt von Abramovics Performance The Artist Is Present, als  diese im New Yorker Museum  of Modern Art den Besuchern 90 Tage lang in die Augen schaute, das Format 1:1 Concerts. Musiker und Besucher sitzen sich gegenüber, schauen sich eine Minute in die Augen. Dieser Blickkontakt sollte die beiden Menschen füreinander öffnen. Aus diesem Moment heraus, entscheidet der Musiker, welches Stück er spielt und lässt durch die Nähe eine besondere Atmosphäre entstehen. Der Hörer hat seine Anonymität als Teil eines Publikums verlassen, wird zum konzentrierten Hören regelrecht verurteilt und auf das Geschehen fokussiert.

Auch für den Musiker dürfte das Heraustreten aus dem Orchester und der Konzentration auf einen Zuhörer eine interessante Erfahrung sein.

Sächsische Staatskapelle / Performance Concerts in der Weinbergkirche von Pillnitz © Markenfotografie
Sächsische Staatskapelle / Performance Concerts in der Weinbergkirche von Pillnitz © Markenfotografie

Solche Konzerte können überall stattfinden. Und da sie unproblematisch die Einhaltung der Regelungen der Corona-Einschränkungen erfüllen können, ist das Konzept inzwischen mehrfach aufgegriffen worden. So haben auch Musiker der Staatskapelle Dresden an fünf unterschiedlichen Orten der Stadt Veranstaltungen im Viertelstunden-Takt angeboten.

Die Konzerte sind kostenfrei. Es wird allerdings um eine Spende für den Nothilfefonds der Deutschen Orchester-Stiftung gebeten.

Nach Monaten ausschließlich digital vermittelter Musik waren meine Frau und ich regelrecht hungrig, wieder einmal Klänge in ihrer Entstehung erleben zu können, so dass wir uns für vier der Veranstaltungen bewarben.

In der Pillnitzer Weinbergkirche empfing mich die junge amerikanische Geigerin Paige Kearl aus der Gruppe der zweiten Violinen der Sächsischen Staatskapelle. Nach der nahezu wortlosen Begrüßung gelang zumindest mir der Aufbau einer gewissen Blickkontakt-Nähe zu der Musikerin. Zunächst überraschte mich die Virtuosin mit dem zweiten Satz Malinconia aus der zweiten Sonate des belgischen Komponisten Eugène Ysaÿ (1858-1931). Obwohl mir bisher unbekannt, fesselte mich doch die stilistische Nähe zu Johann Sebastian Bach. Danach spielte meine Partnerin den dritten Satz aus Bachs a-Moll-Partita.

Mich hatte das Spiel der jungen Amerikanerin emotional stark berührt. Nicht zuletzt auch dank der guten Akustik der Weinbergkirche kam der Wunsch nach einem Konzert mit großem Orchester nicht einmal auf.

Sächsische Staatskapelle / Performance Concerts in der Weinbergkirche von Pillnitz © Markenfotografie
Sächsische Staatskapelle / Performance Concerts in der Weinbergkirche von Pillnitz © Markenfotografie

Marianne Thielemann, meine Frau, traf in der Kunststube Pillnitz den Cellisten Bernward Gruner. Der erste Eindruck des Raumes mit den Bildern des auch malenden Künstlers und die sympathische Gastgeberin lenkten zunächst vom zu Erwartenden ab. Beim Blickkontakt wanderten ihre Gedanken, welche Empfindungen der erfahrene Musiker von der Begegnung mit ihr haben werde? Das Spiel von Prelude, Allemande und  Courante aus Johann Sebastian Bachs Cello-Suite Nummer 2 d-Moll hüllte sie dann regelrecht ein, und die Musik hätte nach den wenigen Minuten nicht enden sollen.

Unsere zweite Doppelbuchung der 1:1 Concerts führte uns in die Bühlauer Friedenskirche, wo uns im 15-Minuten Abstand, der stellvertretende 1. Konzertmeister der Staatskapelle Tibor Gyenge erwartete. Für uns beide spielte er jeweils zunächst aus Bachs d-Moll-Partita die Allemande und anschließend Fritz Kreislers Ohrwurm Liebesleid.

Bei der anschließenden familiären „Manöverkritik“ war aufgefallen, dass bei  den  Blickkontakten, möglicherweise wegen unseres erheblichen Altersunterschieds, eine gewisse Unsicherheit bei dem Violinisten zu spüren war. Die Bach-Darbietungen erhielten mit der nahezu idealen Klangentfaltung in dem schlichten Kirchenraum ihren besonderen Glanz. Beim Liebesleid war dann eher der Wunsch nach einer körperlichen Bewegung spürbar.

Trotz wenig intensiver Werbung für die Veranstaltungen waren die Konzerte am 15.- 17.5.2020 gut ausgebucht. Die Veranstaltungsreihe 1:1 Concerts soll an den kommenden Wochenenden weiter geführt werden.

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