Stuttgart, Staatsoper Stuttgart, GÖTTERDÄMMERUNG - Richard Wagner, IOCO Kritik, 04.02.2023
GÖTTERDÄMMERUNG - Richard Wagner
- Umräumen in der Heldengalerie - Götterdämmerung als Geflecht von Erinnerungen, Erzählungen, Deutungen, Wünschen, Vorstellungen - und „Kopf-Bildern“ -
von Peter Schlang
Langsam senkt sich aus dem Bühnenhimmel ein von allerhand Zivilisationsspuren gezeichneter, arg mitgenommener Rest der Weltesche herab, der berechtigte Assoziationen mit menschlichen Gebeinen hervorruft, und wird behutsam von den drei Nornen in Empfang genommen. Vergeblich zupfen und nesteln die in Tropen-Militär-Uniformen gekleideten Schicksalsgöttinnen, von Nicole Piccolomini, Ida Ränzlöv und Betsy Horne stimmlich und darstellerisch stark gegeben (Kostüme: Sarah Schwartz), an den dort hängenden Fetzen der ihnen einst gehorchenden Fäden. Aus diesen kläglichen Resten wird kein Ganzes mehr, keine in sich geschlossene Erzählung und erst recht kein Entwurf einer neuen Welt. Dann - und auch daher - schieben sie einen großen Museums-Transportwagen herein, aus dem sie Gemälde in unterschiedlichen Formaten herauswuchten und auf der Bühne verteilen: Portraits von Helden und Idolen - Ikonen einer untergegangenen (Männer-) Welt.
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In der am Sonntag, dem 29. Januar 2023 an der Staatsoper Stuttgart aus der Taufe gehobenen Neuproduktion der Götterdämmerung stehen sie für ein wesentliches Element dieses letzten Abends von Wagners Tetralogie Der Ring des Nibelungen, das Erinnern an Geschehenes, Vergangenes, Überliefertes und das Erzählen von Geschichten darüber, Geschichten über Gesehenes, Gehörtes, Erlebtes, Erinnertes, über angebliche oder erfahrene Tatsachen. Genau davon lebt und handelt ja dieser letzte Teil von Wagners Tetralogie über germanische Mythen und Sagenwelten auch, die mit dem Raub des Rheingoldes begann, das dann so viel Unheil anrichtete, alles durcheinander und schließlich der Götterwelt den Untergang brachte.
Marco Štorman, der sich 2019 in Stuttgart mit einer mitreißenden Inszenierung von John Adams‘ Nixon in China für noch größere Aufgaben empfohlen und im Juli letzten Jahres in der Staatstheater-Filiale, dem „Nord“, Monteverdis L’Orfeo als sommerliches Stationentheater herausgebracht hat, macht aus dieser Erzähl-Erzählung ein packendes, düsteres Lehrstück über Machtmissbrauch, kulminierende Krisen, Verführungen, Gewaltexzesse und andere höchst aktuelle Verfehlungen und menschliche Katastrophen. Dabei ignoriert er die in diesem Monumentalwerk angelegten Widersprüche und Brüche nicht - zwischen den ersten Entwürfen zum Rheingold bis zur Fertigstellung der Götterdämmerung liegen immerhin 25 Jahre - sondern überbrückt sie dramaturgisch geschickt.
Einen klugen und wichtigen Beitrag dazu leistet das Bühnenbild Demian Wohlers, das als Basis eine sakrale Trümmerwelt zeigt, auf der sich (u. a.) ein indianischer Totempfahl, die Reste griechischer Tempel, einer gotischen Kathedrale und die Mauer-, Kanzel- und Altarreste einer modernen Kirche mahnend nebeneinander finden. An diesen architektonischen Kulthügel lehnt er wechselnd und je nach Szene bzw. Stellung der Drehbühne Brünnhildes Felseiland oder - in Innensicht - den Palast der Gibichungen zu Worms an, letzterer sehr sinnig und schlüssig als Parlaments- oder Konferenzsaal mit Mikrofonen als Zentrum der Macht und Ort von Entscheidungen, hier allerdings mehr von Intrigen, angelegt. Hier weben nicht die Nornen an den Schicksalsfäden, hier zieht allein der fiese und von seinem Vater Alberich benutzte Intrigant Hagen die Fäden der Macht und sitzt an deren Schalthebeln - willig unterstützt von seinen Halbgeschwistern Gunther (Unterwürfig, schmierig dargestellt von Shigeo Ishino, der dieser karikaturhaften Herrscherrolle auch die dazu passende stimmliche Dimension verleiht.) und Gutrune, die von Esther Dierkes sowohl darstellerisch als auch stimmlich wunderbar und äußerst treffend als scheinbar gute, aber auf dem Markt nicht leicht zu vermittelnde Partie gegeben wird - eine hinreißende Charakterstudie. An den Rednerpulten dieser sichtbar dem angelsächsischen Kulturraum abgeschauten Regierungs- oder Konzernzentrale lassen die drei genannten Protagonisten ihre Beiträge wie Presse-Statements in die Mikrofone fließen, wobei der dämonisch-hintertriebene Hagen des in jeder Hinsicht fabelhaften Patrick Zielke zu keiner Sekunde Zweifel daran aufkommen lässt, wer der „Chef im Ring“ ist.
Wie auf den Leib geschneidert ist diesem grandiosen, mit einem rabenschwarzen Bass ausgestatteten Sänger-Schauspieler der schlüssige, ja geniale Einfall der Regie, die Rolle Hagens mit der seines Vaters Alberich zu verschmelzen. Dieser erscheint seinem Sohn im Schlaf, so dass der Doppeldarsteller Zielke Hagen und Alberich in ein sängerisches Zwiegespräch verwickeln muss. Das ist nicht nur szenisch eine echte Traumsequenz, sondern auch stimmlich und darstellerisch ein wahres Meisterstück: Patrick Zielke (vor dessen Namen im Programmheft als Rolle „Hagen (auch Alberich)“ steht, schafft es nicht nur, die Unterschiede zwischen den beiden Figuren und den in Hagen verursachten Konflikt mimisch und durch verschiedene Körperhaltungen zu verdeutlichen. Ihm gelingt auch das Kunststück, den Vater intonatorisch anders, nämlich heller, zu gestalten als den vernehmbar dunkler gehaltenen Sohn - und dies auch noch mit absoluter Wortverständlichkeit. So wird aus dieser Szene eine fesselnde psychologische Studie, die mit einen Grund dafür liefert, Patrick Zielke, der Ensemblemitglied am Nationaltheater Mannheim ist und vom Südwestrundfunk m vergangenen Jahr als „Bühnentier“ charakterisiert wurde, die „Sänger- bzw. Darstellerkrone“ dieser Produktion zuzusprechen.
In Abhängigkeit von und in Kontrast zu diesem Ränkeschmied gewinnen auch die beiden anderen, eigentlichen Hauptfiguren dieses letzten „Ringabends“, Brünnhilde und Siegfried, Gestalt und Kontur. Zu Beginn, noch im Vorspiel in einer Art Höhle - oder ist sie schon ein Felsengrab? – lassen sowohl Christiane Libor also auch Daniel Kirch noch die allerletzte stimmliche Präzision vermissen, was sich aber im Laufe der folgenden Szenen gibt. Trotz einiger in den Höhen flackernder und manchmal zu scharf kommender Töne Libors darf man beiden Liebenden eine recht solide Leistung bescheinigen kann, was angesichts der enormen Schwierigkeit und Anforderungen dieser zwei Rollen nicht selbstverständlich ist. Der Siegfried Daniel Kirchs hat zudem mit dem ihm von der Regie auferlegten Rollenbild zu kämpfen, nach dem der Held nach dem Genuss des Vergessenstranks seine Selbstständigkeit auch äußerlich weitgehend aufzugeben hat und sich als ziemlich willenlose, ein bisschen zu sehr herumkaspernde, recht alberne Marionette Hagens präsentieren muss. Auch die Blutsbrüderschaft Siegfrieds mit Gunther hätte man weniger klamaukhaft, ohne die rosarote Jogging-Zwillingskleidung und damit ohne die Kennzeichnung Siegfrieds als kostümierten Doppelgänger Gunthers darstellen können, aber ein Grund zu großer Kritik ist dies genauso wenig, wie dadurch dieser grandiose Abend ins Operettenhafte abgleitet.
ehr berührend und ein kleines Kammerspiel ist die Begegnung Brünnhildes mit ihrer Walküren-Schwester Waltraute, die von Stine Marie-Fischer mit weichem Timbre und großem stimmlichen wie schauspielerischen Einfühlungsvermögen verkörpert wird.
Bei dieser Zäsur muss der IOCO-Rezensent gestehen, dass er sich zu Beginn des 3. Aufzugs bei der Frage ertappt hat, wie die Sache ausgegangen wäre, wenn Siegfried der Aufforderung der Rheintöchter (Eliza Boom, Linsey Coppens und Martina Mikeli? tragen die gleichen Kostüme wie zu Beginn des Abends die Nornen.) gefolgt wäre, ihnen den gestohlenen Ring zurückzugeben. Doch da sich Opernhandlungen bekanntlich wie viele Begebenheiten im Leben nun einmal nicht beeinflussen oder gar ändern lassen, kommt es auch in Stuttgart zum dreifachen Tod auf der Bühne. Während der Ritt Brünnhildes in die (imaginären) Flammen mit dem bereits toten Siegfried auf einem Einhorn allenfalls anwesende Kinder in Begeisterung versetzt, kann der Tod Hagens in Stuttgart als ebenso spektakulär wie packend und schlüssig bezeichnet werden: Hagen wird von dem bereits beschriebenen Ast der Weltesche erdrückt und sucht noch im Sterben im vorbeifließenden Rhein nach dem von Brünnhilde dort hinein geworfenen Ring. Der aber wird erst - sogar in multiplizierter Form - von einer Schar Mädchen gefunden, die diese Ringe mit Hilfe von Taschenlampen als Hoffnungsschimmer in den Bühnenhimmel projizieren. So birgt der Untergang des Alten einen möglichen Neubeginn in sich - eine nicht nur für die „letzte Generation“ tröstliche Hoffnung, die durch die letzten Dur-Klänge aus dem Graben auch musikalischen Ausdruck erfährt.
Am Ende gab es uneingeschränkten Jubel für alle Aktiven vor, auf und hinter der Bühne – und für den überwiegenden Teil des Stuttgarter Publikums vermutlich eine ganz neue Erfahrung: Nach dem ersten Vorhang für alle Sängerinnen und Sänger, also auch für den unter der bewährten Leitung von Manuel Pujol erneut begeisternd agierenden Staatsopernchor Stuttgart, blieb der Vorhang für eine ungewöhnlich lange Zeit geschlossen. Der Grund hierfür erschloss sich nach seiner erneuten Öffnung: Dort hatte der Stuttgarter GMD Cornelius Meister das ganze Orchester versammelt. Das war nicht nur ein starkes Zeichen des Dirigenten, der mit seinen Musikerinnen und Musikern bei allen vier Premieren des neuen Stuttgarter Rings recht souverän und überzeugend auftrat, es war auch der Dank für eine sehr geschlossene Orchesterleistung an diesem längsten und für alle Beteiligten anstrengendsten der vier Ring-Abende. Mit beeindruckendem musikdramatischem Gespür arbeitete Meister viele Details heraus, machte Manches sonst Überhörte hörbar und war den Sängern bei allem angebrachten Forte und Fortissimo einumsichtiger, kongenialer und solidarischer Begleiter und Sachwalter der Sprache.
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