Paris, Théâtre des Champs-Élysées, Broadway Family Show, IOCO
11.12.2025
Eine Geschichte der Abstammung…
Isn’t it rich?
Are we a pair?
Me here at last on the ground
You in mid-air
Send in the clowns.
Isn’t it bliss?
Don’t you approve?
One who can’t move
Where are the clowns?
Send in the clowns.
(Send in the clowns / Auszug aus A Little night music von Stephen Sondheim)
Die Komödie des Glücks…
Die ehemalige weltberühmte französische Sopranistin Natalie Dessay hat sich entschieden, Musik auf eine neue Art zu erleben, wie ihre vielfältigen Projekte der letzten Jahre beweisen. Diesmal präsentiert sie gemeinsam mit ihrem Mann, dem französischen Bass-Bariton Laurent Naouri und ihren Kindern – der Sopranistin, Jazz- und Pop-Sängerin Neïma Naouri und ihr Bruder, der Saxophonist und Sänger Tom Naouri - ein Familienprogramm, das ganz den Broadway-Musicals gewidmet ist. Eine mitreißende und farbenfrohe Broadway-Show für die ganze Familie mit Werken großer Komponisten wie Irving Berlin (1888-1989), Leonard Bernstein (1918-1990), Michel Legrand (1932-2019) und Stephen Sondheim (1930-2021), nicht zu vergessen der große Meister George Gershwin (1898-1937), ein Pionier der Verschmelzung von Jazz und Klassik, der Maßstäbe für das gesamte amerikanische Musical setzte – alles unter der Leitung des französischen Pianisten Yvan Cassar.
Während die Traumfabrik des amerikanischen Films in Hollywood beheimatet ist, entstanden die populären Songs am Broadway. Nach ihrem Triumph in New York erfanden sich die Komödien im Film neu. Aber die Broadway-Produktionen waren jedoch zunächst Adaptionen, Imitationen oder Neuinterpretationen von Hits aus dem alten Europa. So wurde aus Der Freischütz (1824) von Carl Maria von Weber (1786-1826) im Jahr 1866 The Black Crook von Charles M. Barras (1826-1873) und komische Opern und Operetten von Jacques Offenbach (1819-1880) oder Charles Lecocq (1932-1918) wurden massenhaft importiert. An der Spitze von Manhattan trafen zahlreiche Immigranten mit ihrem kulturellen Gepäck ein. Zu dem multikulturellen Amerika des 18. Jahrhunderts gesellte sich im folgenden Jahrhundert eine große Bevölkerungsgruppe von Iren, Deutschen, und Engländern auf der Suche nach dem Goldrausch hinzu, dann um die Jahrhundertwende zum 20. Jahrhundert kamen die Italiener und die Chinesen, nicht zu vergessen die vielen jüdischen Künstler, die ab den 1930er Jahren vor der Nazi-Verfolgung flohen und sich in Hollywood oder am Broadway niederließen. Die Theater beherbergten zunächst prestigeträchtige Revuen unter der Schirmherrschaft von Florenz Ziegfeld (1867-1932): Den Ziegfield Follies: Sie feierten die Figur der jungen Amerikanerinnen, das „Girl“, sublimiert durch Lamé-Kostüme, Pelze und suggestive Drapierungen.

Manche mögen (es) „Show“…
Mit dem Erfolg von Gershwin erlangte die musikalische Komödie viel Prestige und entwickelte sich zu einem eigenständigen Genre. Von russischer Herkunft, mit soliden schriftstellerischen Fähigkeiten und tief verwurzelt in der klassischen und Afro-Amerikanischen Musik sowie der mitteleuropäischen jüdischen Folklore, eroberte er mit seinen Songs und ersten Komödien die Theater am Broadway – allein 1920 wirkte er in nicht weniger als sechs verschiedenen Revuen mit! Fred Astaire (1899-1987) und seine Schwester Adele Astaire (1896-1981) waren seine ersten Interpreten in Lady, Be Goods! (1924), uraufgeführt im Liberty Theatre. Als Tänzer, Sänger und Schauspieler führte Astaire zusammen mit seinen Partnerinnen Ginger Rogers (1911-1995) und Rita Hayworth (1918-1987) eine neue Choreographie auf der Bühne und im Film ein.
Wie Gershwin mit einem unaufhaltsamen melodischen Talent gesegnet, zeichnet sich Cole Porter (1891-1964) durch Boshaftigkeit und subtile Ironie seiner Texte – „Let’s Do It“ – sowie durch die extreme Raffinesse seiner eingängigen Melodien „Night and Day“ aus The Gay Divorcee (1934), „So in Love“ aus Kiss me, Kate (1948) oder „Easy to love“ und „I’ve got you under my skin“ aus der Komödie Born to Dance (1937). Auch hier greift das Kino auf seine Komödien zurück: Charles Walters (1911-1982), Vincente Minelli (1903-1986) und George Cukor (1899-1983) erwecken seine Songs in der Gestalt von Astaire, Bing Crosby (1903-1977), Grace Kelly (1929-1982), Judy Garland (1922-1969), Gene Kelly (1912-1996), Marylin Monroe (1926-1962), Frank Sinatra (1915-1998)… Darüber hinaus erlangen die größten Hits den Status von Jazz-Standards! Das Projekt Broadway, das Träumen und dem Glück gewidmet ist, zeigt dennoch auch von der alltäglichen Realität der Gesellschaft, von der Weltwirtschaftskrise bis zur Prohibition, einschließlich der Verschärfung der Rassenprobleme und der kleinen Enttäuschungen und großen Leiden der Show-Business-Welt, wie etwa Show Boat (1927), das von Jerome Kern (1885-1945) und Oscar Hammerstein II (1895-1960) gemeinsam geschrieben wurde: 18 Monate lang wurde es nach seiner Uraufführung gespielt, gefolgt von drei Verfilmungen.

Berlin, der mit seiner Familie aus Deutschland stammte und zunächst als Barpianist und später als aufstrebender Revue-Sänger tätig war, träumte von einer Opernkarriere und gründete trotz allem zusammen mit dem Produzenten Sam H. Harris (1872-1941) das Music Box Theatre. Er teilte seine Zeit zwischen Hollywood und dem Broadway auf, wirkte und feierte 1946 mit der Uraufführung von Annie get your gun, seinen großen künstlerischen Durchbruch. Das Libretto stammte von Dorothy Fields (1905-1974) und Herbert Fields (1897-1958) und war von den Abenteuern der Annie Oakley (1860-1926) alias Calamity Jane (1852-1903), einer Legende des Wilden Westens, inspiriert. Als Sohn eines Kantors und selbst Sänger in der Synagoge, komponierte Harold Arlen (1905-1986) viele Songs für das Theater und den Film, genau wie Berlin. „Somewhere over the rainbow“ aus Magicien d’Oz (1939) bleibt eines der bekanntesten, aber wir dürfen auch nicht „Get Happy“ aus The Nine Fifteen revue (1930) vergessen – das Garland zwanzig Jahre später in den Filmen Sommer stock (1950) - „Stormy Weather“ und „Come rain or come shine“ aus St Louis Woman (1946) oder Cabin in the sky (1940) am Broadway popularisierte, das drei Jahre später von Minelli und Busby Berkeley (1895-1976) für den Film adaptiert wurde – mit einer ausschließlich afro-amerikanischen Besetzung, darunter Ethel Waters (1896-1977), Lena Horne (1917-2010), Louis Armstrong (1901-1971), Eddie Anderson (1905-1977) und Rex Ingram (1893-1950).

Broadway öffnet sich einer neuen Generation, symbolisiert durch Bernstein! In Verbindung mit dem Choreografen Jerome Robbins (1819-1998) verschmilzt er seinen Stil mit verschiedenen Genres – ungezügelte Rhythmen, gesteigerte Romantik, jüdischer Humor und Parodien aller Art – von On the Town (1944) bis West Side Story (1957) und seinem Repertoire an berühmten Songs (1957).
Nachdem er erfolgreich die Songtexte für West Side Story geschrieben hatte, wurde Sondheim allmählich zu einer der Säulen des „neuen“ Broadway, zunächst mit dem Vaudeville-Stück Gypsy (1959), das das Leben eines Burlesque-Star thematisierte und für das er die Texte zu der Musik von Jule Styne (1905-1994) verfasste. Danach ab Mitte der 1960er Jahre mit Werken, deren alleiniger Autor er war: Company (1972), Follies (1971), A little Night Music (1973) mit dem berühmten Song „Send in the Clowns“, adaptiert nach dem Film Herbst-Sonate (1978) von Ingmar Bergman (1918-2007), oder auch Sunday in the Parc with George (1984), seine ambitionierteste Partitur. Wenn Jerry Herman (1931-2019) als Komiker nicht den Durchbruch schafft, führt er zunächst spekulative Stücke auf, bevor durch den Humor und die Verhöhnung, seine ersten Komödien begleiten, die 1961 am Broadway aufgeführt wurde, den idealen Ton findet: Milk and Honey mit seinen amerikanischen jüdischen Touristen auf einer „Pilgerreise“ nach Jerusalem, drei Jahre bevor Hello Dolly (1964), seinem großen internationalen Erfolg! Die bittersüße Chronik der Liebes-Streitigkeiten von New Yorker Gangstern in Guys and Dolls (1950) von Frank Loesser (1910), deren Song „Luck be a Lady Tonight“ ihm die Möglichkeit gab, umfangreich für den Film von Raoul Walsh (1887-1980), Henry Hathaway (1898-1985), Mark Sandrich (1900-1945), George Marshall (1891-1975), Robert Butler (1927-1023), Robert Siodmak (1900-1973), Norman Z. McLeod (1898-1964) … Joseph L. Mankiewicz (1909-1993) zu schreiben, der sein Musical Guys and Dolls im Jahr 1968 mit Sinatra, Marlon Brando (1924-2004) und Jean Simmons (1929-2010) adoptierte.

Schließlich ist der Name Legrand zwar nicht direkt mit der Welt des Broadway verbunden, doch komponierte er mehrere Filmmusiken, darunter die des überaus erfolgreichen Film Yentl (1938), für den er einen Oscar gewann. Der Film, bei dem Barbra Streisand (*1942) Regie führte und gleichzeitig die Hauptrolle spielte, basiert auf einer Kurzgeschichte von Isaac Bashevis Singer (1902-1991) und erzählt die Geschichte einer jungen Jüdin im Litauen des 19. Jahrhunderts, die sich als Mann verkleidet, um studieren zu können. Legrand transzendiert das Musical auf eine Weise, die eine Komödie im französischen Stil formalisiert, in der alles Musik und Gesang ist, einschließlich der Dialoge, mit seinem langjährigen Komplizen Jacques Demy (1931-1990), dem Regisseur von Les Parapluies de Cherbourg (1964) über Trois Places pour le 26 (1988), bis Peau d’âne (1970) und Les Demoiselless de Rochefort (1967) – wo wir diese Maxime finden: „Un jour sérieux, un jour rieurs; notre vie joue en alternance la tragédie de l’existance et la comedié du bonheur!“ Broadway! Yes….!
Zum Konzert im Théâtre des Champs-Élysées / Paris am 11. Dezember 2025:
Die Familie Naouri-Dessay am Broadway…
Den Auftakt macht ein perfekt eingespieltes Jazztrio mit Cassar am Klavier, der französische Kontrabassist Benoit Dunoyer, der französische Schlagzeuger Nicolas Montazaud und Tom Naouri am Saxophon als Verstärkung. Das Ensemble eröffnet mit einem schwungvollen Set, das die folgenden Blues-Klänge und die eventuellen tanzbaren Rhythmen ankündigt. Besonders bemerkenswert ist die klare Kommunikation zwischen den Musikern. Der Kontrabassist konzentriert sich voll und ganz auf das Klavier, der Pianist sucht stets den Blick des Schlagzeugers!

Es folgen kurze Ausschnitte aus Bernsteins: West Side Story mit Natalie Dessay und ihrer Tochter Neïma Naouri. Die ehemalige Koloratur-Sopranistin, bekannt für ihre großen Opernrollen – unter anderem Die Königin der Nacht aus Die Zauberflöte, KV 620 (1820) von Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791), die Titelrolle aus Lakmé (1883) von Léo Delibes (1836-1891) und die Olympia aus Les Contes d‘Hoffmann (1881) von Jaques Offenbach (1819-1880), zeigt sich hier gleichermaßen leidenschaftlich für Jazz und Musical, wie auch ihr im Jahre 2000 aufgenommenes Claude-Nougaro (1929-2004)-Tribute-Album beweist. Auf der Bühne ist eine subtile Verschmelzung von Opern- und Popp-Gesangstechniken zu erkennen. Vibrato in der Kopfstimme vermischt sich mit Atemzügen, Schreien und Keuschen, die vom Drama vorgegeben werden. Die Mikrofonverstärkung hebt die leiseren Passagen hervor und erweitert so das Ausdrucksspektrum der Künstlerinnen. Im Verlauf des Programms werden die Gesten und Gesichtsausdrücke, die die Handlung illustrieren, immer deutlicher und lassen auf eine zunehmend souveräne Darbietung hoffen. Das Familienporträt wird durch Laurent Naouri komplettiert, dessen monotone Passagen in der tiefen Lage seiner Stimme das Publikum fesseln.

Die familiäre Nähe wird noch deutlicher spürbar, wenn der Bass-Bariton den Text des berühmten Songs „Maria “personalisiert und dabei den Namen seiner geliebten Frau Natalie verwendet. Der zweite Teil des Abends war intimen Duetten und Songs gewidmet, ein krasser Gegensatz zu der donnernden Jazz- und Blues-Musik! Nach Bernstein präsentierte das Programm unter anderem großartige Songs von Legrand, Sondheim und Gershwin. Der versierte Cassar bewies ein bemerkenswertes Hörvermögen und unterstützte die Improvisationen des französischen Trompeters Sylvain Gontard mit anerkennenden Nicken, während der Musiker selbst gekonnt mit einem Dämpfer die Klänge variierte. Genretypisch genossen die Sänger den Einsatz verschiedener Gesangstechniken: Mal gesprochen, mal geflüstert, gelegentlich sogar gerufen. Der Einfluss der amerikanischen Prosodie zeigte sich in der Betonung der Konsonanten und der aspirierten „h“-Laute etwa in dem ergreifenden „Papa can you hear me?“ Das Konzert endete mit einem Paukenschlag: Dem energiegeladenen „I Got Rhythm“, einem explosiven Finale einer Aufführung, die emotionale Momente gekonnt mit frenetischer Energie verband. Die Zuschauer verließen den Saal mit dem Gefühl, für einen Abend ein vollwertiges Mitglied der Familie Naouri-Dessay gewesen zu sein…