Paris, Philharmonie, DIE SOLDATEN - B. A. Zimmermann,

DIE SOLDATEN: 1940 wurde  Zimmermann (1918-1970) zur Wehrmacht eingezogen. Im katholischen Umfeld des Salvatorianer-Kollegs aufgewachsen nahm er an den Feldzügen in Frankreich, Polen und Russland teil. Als berittener Kurier kannte er die Frontlinien des sogenannten Deutschen Reiches .......

Paris, Philharmonie, DIE SOLDATEN - B. A. Zimmermann,
Philharmonie de Paris @ Beaucardet / Philhamonie de Paris

Bernd Alois Zimmermann: DIE SOLDATEN (1965) - Oper in vier Akten und fünfzehn Szenen - mit einem Libretto des Komponisten - nach dem gleichnamigen Drama (1776) von Jakob Michael Reinhold Lenz

 von Peter Michael Peters

VON VIEL KLANG UND NOCH MEHR WUT…

Wie ich dir sage, es ist eine Hure vom Anfang an

gewesen, und sie ist mir nur darum gut gewesen,

weil ich ihr Präsente machte. Kurzum, Herr Bruder,

eh‘ ich mich’s versehe, krieg‘ ich einen Brief von

dem Mädel: Sie will zu mir kommen nach

Philippeville. Nun stell Dir das Spektakel vor, wenn

mein Vater die hätte zu sehen gekriegt.

 (4. Akt / 2. Szene / Ciacona III / Szene des Desportes)

 

Eine Oper aus der Zeit der großen Not…

Das Hauptwerk von Bernd Alois Zimmermann (1918-1970)  Die Soldaten wurde 1965 mit dem österreichischen  Dirigenten Michael Gielen (1927-2019) an der Oper Köln uraufgeführt.

Im Jahre 1940 wurde  Zimmermann im Deutschland von Adolf Hitler (1889-1945) zur Wehrmacht eingezogen. Der junge Mann, der im katholischen Umfeld des Salvatorianer-Kollegs im Kloster Steinfeld aufwuchs, nahm an den Feldzügen in Frankreich, Polen und Russland teil. Als berittener Kurier kannte er die Frontlinien des sogenannten Deutschen Reiches äußerst gut! Seine Briefe beschwören die Melancholie der Landschaften des Nordens herauf, die von Granatsplittern zerstörten Bäume, den monströsen Raum des Urals, in dem er kämpfen und siegen muss, ein schweres Feuer der russischen Artillerie, zehn Stunden lang, bis das Pfeifen von Kugeln zu hören ist eingebettet in Köpfe, Orte ohne alles, ohne Licht, ohne Zivilisation…

Zimmermann findet sich in sumpfigen Gebieten wieder, von wo er stark betrunken herausgebracht wird, bis zu dem Punkt, das er 1942 demobilisiert wird. Seine Krankheit hat sich am Ende seines  Lebens sehr verschlimmert: Psychiater stellten die Diagnose einer manischen Depression fest! Zur Situation junger Menschen in diesen Zeiten, in denen jeder Gefahr lief zum „Schwein“ zu werden! Auch wird er sich später kaum äußern über die absolut brutalen Kriegshandlungen der deutschen Wehrmacht!

Trailer - DIE SOLDATEN - Doku - François-Xavier Roth

Fünfzehn Jahre später, im Herbst 1957 machte Erich Bormann (*1966), der zu der Zeit amtierende Intendant der Oper Köln, dem Komponisten Zimmermann auf Die Soldaten aufmerksam, ein Drama von Jakob Michael Reinhold Lenz (1751-1792), die der Verlag Reclam im selben Jahr neu aufgelegt hatte. Zimmermann, der das Stück bereits gelesen hatte, war sofort begeistert, unterbrach seine Kantate Omnia tempus habent (1957) und begann mit der Arbeit an einer Oper, die nach vielen Wechselfällen erst 1965 entstehen sollte.

Lenz war ein Meteor am deutschen Literatur-Horizont! Doch sein sehr heller, leuchtender Schein strahlte noch Jahrzehnte lang weiter. Und heute sind es die Opern-Komponisten: Die sein Aussterben verhindern! Lenz wurde am 23. Januar 1751 in Seßwegen, Livland, 150 km östlich von Riga geboren. Als Sohn eines Pfarrers war er von Natur aus auf das Studium der Theologie und Philosophie ausgerichtet: Als großer leidenschaftlicher Zuhörer der Emanuelle Kant- (1724-1804) Lesungen an der Universität von Königsberg entdeckte er auch die Ideen von Jean-Jacques Rousseau (1712-1778), den er zu einem seiner Vorbilder machen wird. 1771 ging er nach Straßburg, um die Kinder einer Adelsfamilie zu unterrichten. Aus dieser schlecht erlebten Erfahrung schuf er 1774 ein bitteres und grausames tragikomisches Drama Der Hofmeister oder Vorteile der Privat-Erziehung, aus dem die französische Komponistin Michèle Reverdy (*1943) eine bemerkenswerte Oper im Jahre 1990  für die Bayerische Staatsoper München schuf. Aber das wichtigste Ereignis seines Aufenthaltes in Straßburg war jedoch die Begegnung mit Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832). Der Dichter war nur zwei Jahre älter als er und schloss gerade sein Jura-Studium in der elsässischen Hauptstadt ab. Er wird eine bedingungslose und blinde Bewunderung für den großen Dichter empfinden, die nicht weit davon entfernt ist: Eine äußerst kranke Identifikation hervorzurufen! So sehr, dass er sich in die Frau verliebte, die Goethe liebte, Frédérique Brion (1752-1813) und nach dem Weggang des Dichters vergeblich um ihre Hand anhielt. Um die Verbindung noch weiter zu vertiefen, erlebte er eine unerwiderte Liebe zu Cornelia Schlosser (1750-1777), Goethes Schwester. Und vor allem, als sich sein Idol 1776 in Weimar niederließ, machte sich auch Lenz auf den Weg, um sich dort niederzulassen… und wurde sofort von der Herzogin wegen seines ungezügelten Verhaltens und seiner Ablehnung weltlicher Konventionen oder der höfischen Etikette entlassen. Aber es gibt einen tieferen Grund für dieses wachsende Unbehagen und die daraus resultierende Entfremdung: Lenz verstand Goethes ästhetische Entwicklung nicht mehr und konnte ihr auch nicht folgen!

DIE SOLDATEN - Philharmonie de Paris - hier die Solisten, François-Xavier Roth, Dirigent, Gürzenich-Orchester @ Peter Michael Peters

Die Verkörperung von Sturm und Drang…

Zu der Zeit, als Lenz sich mit Goethe identifizierte, waren beide leidenschaftliche Anhänger der literarischen Bewegung, die später Sturm und Drang heißen wird, nach dem gleichnamigen Titel eines Theater-Stücks von Maximilian Klinger (1752-1831) aus dem Jahr 1776. Dies war die erste große revolutionäre Bewegung in der jungen deutschen Literatur! Eine fast revolutionäre Reaktion der Zwanzigjährigen auf die Sechzigjährigen wird als Vorbild für alle künftigen Ansprüche der deutschen Jugend dienen: Insbesondere im Bereich der Kunst! Aus Protest gegen den normativen und gesetzgebenden Gedanken der Aufklärung und ebenso gegen die Oberflächlichkeit des Rokoko-Stils neigen die Stürmer dazu, das Chaos für fruchtbarer zu halten als rationale Konstruktionen. Den Inhalt über die Form zu stellen und der Begeisterung der Sinne und auch der rauesten Realität eine Stimme zu verleihen. Es war eine überaus kollektive kreative Ära: In der zu Ehren von Brion verfassten Sammlung mit dem Titel Sesenheimer Liederbuch (1770/72) ist es sehr schwierig zu erkennen, welche Gedichte von Goethe und welche von Lenz stammen. Das Stück Der Hofmeiser war Goethe zugeordnet und Die Soldaten zu Klinger… Aber die Besonderheiten sind unbestreitbar: Lenz‘ Sprache ist grüner, weniger höflich und während Goethe und Klinger noch nach Analogien in anderen Epochen suchen, treibt Lenz die Gesellschafts-Kritik weiter durch die Darstellung zeitgenössischer Handlungen stark voran. Vor allem, wenn die Sturm und Drang Epoche für Goethe, Friedrich von Schiller (1759-1805) und Klinger nur ein Abschnitt in der literarischen Laufbahn war. Aber jedoch für  Lenz ist es so, dass sein ganzes Leben und auch seine Schöpfung sich wohl dort buchstäblich erschöpft hatte. Nun, wenn Goethe seine Funktionen als Geheimrat des Herzogs Carl August von Sachsen-Weimar (1737-1806) übernahm, hatte er bereits seine Entwicklung zum literarischen Klassizismus begonnen. Lenz sieht so, das alles woran er glaubte, verschwinden war und erkennt auch, dass seine glückliche Zeit in Straßburg in Weimar nicht weitergehen kann. Er wird nicht mehr schreiben: Seine kreative Karriere hat nur fünf Jahre voller eruptiver und oft fragmentarischen Schriften gedauert! Es bleiben ihm noch sechzehn Jahre zu leben, was mit einer unumkehrbaren physischen und psychischen Frist einhergeht!

Die Explosion der klassischen Dramaturgie…

Die Ästhetik der Sturm und Drang-Bewegung von Lenz konnte ihre Erfüllung nur im dramatischen Schreiben finden. Der Hofmeister und noch mehr Die Soldaten sind für ihn die Orte des Experimentierens mit äußerst gewagten und innovativen Theater-Theorien, die er 1774 in seinen Anmerkungen über das Theater zum Ausdruck gebracht hatte. Dieser Text zeigt den Einfluss von Goethe und Johann Gottfried von Herder (1744-1803) und kann als das wahre Manifest des Sturm und Drang angesehen werden. Aufschlussreich ist auch die Beobachtung, dass Lenz der Erstausgabe seines Aufsatzes eine Prosa-Übersetzung eines Stück von William Shakespeare (1564-1616) – Love’s Labour’s Lost (1597) – beigefügt hatte, einem absoluten Vorbild dieser gesamten Autoren-Generation. In seinen theoretischen Schriften erklärte Lenz den aristotelischen und klassischen Theorien, insbesondere den Französischen einen wütenden Kampf an. Die Herrschaft der Einheiten wird kategorisch abgelehnt, da sie dem natürlichen und organisierten Leben widerspricht. „Ich möchte Ihnen hundert Einheiten geben, die alle eins bleiben. Der Dichter und das Publikum müssen diese Einheit spüren und dürfen sie nicht beherrschen. Gott ist nur einer in der Gesamtheit seiner Werke!“ Deshalb spielen sich seine Dramen an den unterschiedlichsten Orten ab und erstrecken sich über Zeiträume von bis zu mehreren Monaten. Nicht mehr die Handlung steht im Vordergrund, sondern die Farbgebung der jeweiligen Personen. Deshalb wird die Haupt-Handlung von einer Vielzahl von Neben-Handlungen begleitet und in eine Abfolge von Fragmenten zerstäubt, die kaum den Namen einer Szene beanspruchen können. Es müssen tatsächlich so viele autonome Moment-Aufnahmen werden. Darüber hinaus muss die Nicht-Behandlung der regeln es ermöglichen, die Natur so darzustellen wie sie ist: Der Dramatiker darf daher nicht davor zurückschrecken Hässlichkeit und Erniedrigung hervorzurufen. Lenz erklärte, dass er „für das Volk schreibe“ und das er das von Natur aus Abscheuliche nicht beschönigen wollte. Er wird auch deshalb die Verwendung einer rohen Sprache befürworten, die seiner Meinung nach viel reicher ist als die kultivierte Sprache. Dieses Anliegen, das wirkliche Leben darzustellen, veranlasste Lenz neben seinen Theater-Stücken Essays zu schreiben, in denen er seine dramatischen Themen theoretisch beleuchtete: So wird er das Drama Die Soldaten mit einer Studie unter dem Titel Über Soldaten-Ehen (1776) vergleichen. Schließlich hebt sich Lenz aus der Theater-Landschaft des Sturm und Drang dadurch ab, dass er praktisch der einzige Autor war, der sich für das Genre der Komödie interessierte und dem Humor, der meist sehr bissig ist, einen Platz einräumt. Er übersetzte auch die Komödien des Titus Maccius Plautus (um 254-184 v. J.C.).

Der Wahnsinn…

Seit seinem Ausschluss aus Weimar, „aus reiner tölpischer Dummheit“, wie Goethe in sein Tagebuch schreibt, führt Lenz ein rastloses Leben auf Wanderschaft! Er blieb zunächst im Rheinland, dann in der Schweiz, wo wir ihn als Gast bei Johann Kaspar Lavater (1741-1801) wieder treffen, einem Zürcher Theologen, ein Freund von Goethe und der Erfinder der Physionomie-Forschung, der sogenannten Deutung der Gesichtszüge. Im Jahr 1777 traten die ersten Anzeichen einer Geistes-Krankheit auf, die sich nur verschlimmern sollte. Vom 20. Januar bis zum 8. Februar 1778 wohnte er beim Pfarrer Johann Fredrich Oberlin (1740-1826) in Waldersbach im Steintal. Dieser gute Mann, ein wahrer Wohltäter seines benachteiligten Vogesen-Tals – wo er die Landwirtschaft entwickelte, Straßen und Brücken baute und die erste errichtete Grundschule gewehrleistete – gewährte Lenz seine Gastfreundschaft und versuchte ihn ohne großen Erfolg zu trösten. In seinem Tagebuch notierte er gewissenhaft die Verhaltens-Entwicklung des Dichters, das aus einem Wechsel zwischen Phasen der Demenz mit Selbstmordversuchen und einer Phase von großer Klarheit bestand. Ein Jahr später 1779, finden wir ihn bei Johann Georg Schlosser (1739-1799), Schwager von Goethe und Ehemann seiner Schwester Cornelia. Sein Zustand verbessert sich überhaupt nicht mehr, sodass Schlosser völlig hilflos die Brüder von Lenz benachrichtigte. Diese holten den Dichter ab und brachten ihn zu ihrem Vater im heutigen Lettland zurück. Von dort aus führte die ermüdende Wanderung des unglücklichen Dichters nach Riga, Sankt Petersburg und schließlich Moskau, wo er am 24. Mai 1792 tot auf der Straße in einem Zustand völliger Armut aufgefunden wurde.

DIE SOLDATEN hier Laura Aikin, Mezzo-Sopran

Lenz wird von Zimmermann neu gelesen…

Zimmermann bleibt der Sprache von Lenz sehr treu, fügt der Handlung jedoch mithilfe von Stummfilmen und Magnet-Bändern einige Ereignisse hinzu. Vom Theater-Stück bis zur Oper gibt es eine Art Verhärtung, die ausreicht, um Lenz‘ Tragik-Komödie in eine absolute Tragödie zu verwandeln.

Es ist eines der Schlüsselwerke des 20. Jahrhunderts! Die 1965 in Köln uraufgeführte Oper von Zimmermann erzählt keine Geschichten, sondern stellt eine Situation außerhalb der Zeit und „der Menschen dar, wie wir sie in allen Epochen und an jedem Tag treffen können, weniger vom Schicksal bedingt, sondern vielmehr von der fatalen Konstellation der Charaktere und Umstände“.

Warum das Stück von Lenz? Denn der deutsche Dichter, der ein bedingsloser Verehrer von Goethe war, erklärte der berühmten Herrschaft „der drei Einheiten“ – Ort, Handlung, Zeit – und auch dem sogenannten klassischen Theater den Kampf an. Seine Dramen spielen sich an einer Vielzahl von Orten ab und erstrecken sich über mehrere Monate, wobei sie eine große Einheit der inneren Handlung bewahren. Wie Lenz‘ Theaterstück, das ihm als Libretto dient, ist Zimmermanns Werk ein Ort zum Experimentieren mit gewagten und neuen Theater-Theorien.

DIE SOLDATEN - hier Miljenko Turk, Bariton

Die sphärische Zeit. Der Komponist Zimmermann findet sehr viele Inspirations-Quellen in den Theorien von Lenz, die mit seiner dramatischen Zeit-Auffassung völlig übereinstimmt. Die Überlagerung mehrerer Handlungen führt den Komponisten zur Aufhebung von Raum und Zeit: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind gleichzeitig verfügbar und hörbar. Die Wahl von Lenz‘ Stück ist auch eine Art literarische Rache für Zimmermann, der Goethe hasste.

„Die Soldaten“ singen! Die Rollen sind nicht einfach zu interpretieren: Die Stimmbereiche sind sehr breit und alle Arten der Stimmführung sind erforderlich, vom gewöhnlichen Sprechen bis zum reinsten Gesang, einschließlich recto tono, die Sprechstimme, im Takt sprechen, murmeln oder schreien. Hinzu kommen zahlreiche Schwierigkeiten bei der Ausführung, die insbesondere mit der komplexen Schreibweise  des Werks zusammenhängen, die eine sorgfältige Lektüre erfordert.

Stilistische Einheit: Die Soldaten machen Anleihen bei allen Schätzen des kulturellen Gedächtnisses und bei den unterschiedlichsten Sprachen. Üppige Klänge und brillante Virtuosität gepaart mit asketischer Einfachheit, orthodoxer serieller Gedanken: Die an Zitate aus gregorianischen Chorälen, Jazz, Folklore und Chorälen von Bach grenzt. All dies wird in einer panakustischen Form umgesetzt, die Sprache, Gesang, Dekor, Film, Bellet und Pantomime vereint. Gerade diese Integration von Elementen der Musikgeschichte, der traditionellen Oper und des Musik-Theaters in ein und demselben Werk macht die Stärke dieser Oper aus.

DIE SOLDATEN hier Tomas Tomasson, Bass

DIE SOLDATEN - Philharmonie de Paris - 28. Januar 2024

Die Raum- und Opfer-Philosophie der Soldaten…

Mit fast zwanzig Solo-Rollen, vier Akten und fünfzehn Szenen, die sich wie ein roter Faden um das Schicksal Maries drehen, ist die Oper Die Soldaten eine gewaltige Herausforderung: Weil jeglicher Versuch einer eventuellen Beschreibung ein großes Risiko ist! Entweder aufgrund der Schwierigkeit der Ausführung oder auch der Zurückhaltung der Programmierer sind die Produktionen immer noch selten: Als dass sich eine Form der Interpretations-Tradition herauskristallisieren könnte! Nachdem der 100. Geburtstag von Zimmermann in Frankreich völlig untergegangen ist, war es wohl notwendig zweimal den Rhein und die Pyrenäen zu überqueren, um drei Aufführungen von Die Soldaten besuchen zu können.

Die Soldaten von Zimmermann gehören zu den ganz wenigen zeitgenössischen Opern, die dem Konzept eines Gesamtkunstwerks am nächsten kommen würden. Aber über Richard Wagner (1813-1883) hinaus veranschaulicht dieses Konzept hier die paradoxe Fähigkeit des Werks, gleichzeitig alle technischen und ausdrucksstarken Merkmale zu berühren: Aus denen es besteht! Es handelt sich um ein nicht klassifizierbares und „unmögliches“ Werk, das alle möglichen Arten der Gesangs-Stimme vereint: Vom schrillen Schreien bis zum Flüstern, einschließlich der gesprochenen Stimme oder des ausgewachsenen Vibrato! Heterophonie verbindet sich mit einer Schichtung der Stile, vom Johann Sebastian Bach (1685-1750) Choral bis zur Jazz-Combo, einschließlich eines frenetischen und verrückten Serialismus. Tatsächlich steht das Werk am Ende einer Entwicklung, die ihren Ursprung in der Sturm und Drang-Bewegung hatte, einer Reaktion gegen die Hegemonie der Aufklärungs-Philosophie an der Wende des 18. Jahrhunderts.

Lenz schrieb: „Gott ist nur einer in der Gesamtheit seiner Werke“ – ein Grundgedanke für Zimmermann, der in der Komposition eine Form des religiösen Ausdrucks sieht, etymologisch verstanden als ein Bindeglied, das die Einheit und Beständigkeit der Welt offenbart. Wie ein gewisser Bach seiner Zeit signierte Zimmermann die meisten seiner Werke mit dem Akronym OAMDG (Omnia Ad Majorem Die Gloriam). Zimmermann erneuert die Beziehung zur musikalischen Zeit, indem er die physische und objektive Zeit durch die gefühlte Zeit ersetzt. Kurz vor seinem Selbstmord im Jahr 1970 komponiert er sein letztes Werk Ich wandte mich und sah an alles Unrecht das geschah unter der Sonne, es ist ein authentisches spirituelles Testament: In dem Gott vom Großinquisitor zur Rede gestellt wird! Eine sehr ironische Anlehnung aus dem Roman Die Brüder Karamasow (1880) von Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1821-1881), dessen Stimme sich mit Fragmenten von Predigern vermischt, um dem „lieben Gott“ vorzuwerfen, er habe zu sehr an den Menschen geglaubt.

DIE SOLDATEN hier François-Xavier Roth, Dirigent

Die Neu-Inszenierung einer Aufführung, die als „unaufführbar“ gilt, erfordert eine Reflexion über den Begriff des Repräsentations-Raums. Dieser Bühnenraum ist wiederum theatralischer Raum und mentaler oder phantastischer Raum, in dem der komplexe Charakter von Marie einen ganz besonderen Platz einnimmt. Über Die Soldaten hinaus ist sie es, die nicht nur für das Drama von  Lenz, sondern auch für Georg Büchner (1813-1837) und Frank Wedekind (1864-1918) durch Kapillar-Wirkung zum Mittelpunkt der Handlung wird. Wobei die erste der Frage ist, die des Bühnenraums und die zweite, wie die Figur der Marie in diesem Kontext konstruiert wird?

Zum Raum ist das Gestern der Zeit…

Der grosse Saal der Philharmonie de Paris empfing das Kölner Gürzenich-Orchester unter der Leitung seines Chef-Dirigenten, dem Franzosen François-Xavier Roth zu einer grandiosen Halb-Inszenierung des spanischen Regisseur Calixto Bieito und sie wurde von einem Team hervorragender großer Sänger unterstützt. Es war ein optischer und akustischer Schock.

Das Werk wird selten aufgeführt und in Frankreich nur ganz selten, da es außergewöhnliche Orchester- und Gesangs-akustische Mittel erfordert. Eine serielle Musik, die alle Intervalle der Zwölfton-Musik und desgleichen auch atonale: Daher praktiziert die Komposition auch die Gegenüber-Stellung und zeitliche Überlagerung der Handlung. Die gesamten Szenen und Charaktere vermischen sich und bilden ein sogenanntes komplexes Patch-Work, das die musikalischen Themen und die Wahl der Instrumentierung und des Gesangs ständig reproduzieren. Kein anderer Saal als die Philharmonie de Paris in Frankreich eignet sich so gut für diese Ambitionen eines Gesamtwerks: Die Zimmermann wie Wagner, Richard Strauss (1864-1949) oder Arnold Schönberg (1874-1951) behauptete. Die Geschichte selbst ist kreisförmig, es gibt keine zeitliche Abfolge und die kleinen Szenen sind so viele Farbtupfer in einem impressionistischen Bild, dessen Zusammenhang bewusst gestört wird.

Ein außergewöhnlicher Raum mit noch größeren Dimensionen…

Der große Pierre Boulez (1925-2016)-Saal verfügt über eine modulare Bühne, die auf beeindruckende Dimensionen erweitert werden kann: Sie hatte somit jede Plattform verloren, um den Raum bis zu den ersten Reihen des Parterres einzunehmen und einen großen Teil des üppigen Orchesters unterzubringen. Die Instrumente des „klassischen“ Orchesters in großer Besetzung, aber auch ein riesiges Klavier, die Orgel, ein Cembalo, eine Celesta, eine Akustik-Gitarre zwischen den Violinen, eine beeindruckende Reihe von Schlagzeugern, Glockenspiele inklusiv. Der Saal verfügt aber auch über eine Backstage-Bühne, die dort für die von Bieito vorgeschlagene Halb-Inszenierung genutzt wird, mit Bewegungen der Sänger und Statisten, Lichtern in allen Farben und verschiedenen Beleuchtungs-Effekten. Das elektronische Diffusions-Gerät mittels Magnet-Bändern wird in völliger Harmonie mit allen klassischen Instrumenten eingesetzt und von geschickt verteilten Lautsprechern übertragen. Das gesamte System wird durch eine echte Verräumlichung der Percussions vervollständigt und bereichert , von denen sich ein Teil in den für diese Art von Effekten vorgesehenen Räumen seitlich des Saals und im hinteren Boden befindet. Die Welle der Trommelwirbel, die von links nach rechts hin und her wogt, lässt den ganzen großen Saal vor Emotionen erzittern. Ein beeindruckendes zentrales Steuerungs-System ermöglicht die Steuerung aller Klang-Elemente: Um eine perfekte Balance zu gewährleisten.

Das Wunder von Roth im zeitgenössischen Repertoire…

Die tosenden Klangwellen, wie auch die romantischen lyrischen Klänge, die Andeutung an Bachs Choräle wie die Jazz-Melodien, die tausend Ausbrüche der Partitur, werden nacheinander oder gleichzeitig unter der sehr präzisen Leitung von Maestro Roth zum Ausdruck gebracht. Dem nach der  jüngsten konzertanten Aufführung der Oper Le Grand Macabre (1978) von György Ligeti (1923-2006) im Auditorium Radio France wohl keine Geheimnisse der zeitgenössischen Musik mehr unbekannt sind. Was das Kölner Gürzenich-Orchester betrifft, dem unter seiner Leitung in der Philharmonie von Köln und Hamburg nun diese dritte gewaltige Leistung in der Philharmonie de Paris gelang. So vereinte es eine so beachtliche Kraft, dass man sich fragt, wie ein solcher Zusammenhalt entsteht, insbesondere in einer bewusst unstrukturierten Komposition. Und wir wissen nicht mehr genau, was wir bewundern sollen: Die gewaltige Kraft des Instrumental- und Vokal-Ensemble im Sinne der Musik von Wagner, Strauss und natürlich Zimmermann oder die fast  kammermusikartige Präzision von Roths Taktstock. Wir bewundern vor allem das endgültige Gesamt-Kunst-Werk!

Da es sich um ein ebenso theatralisches wie musikalisches Werk im Sinne von Zimmermann handelt, der selber ein Libretto  nach dem gleichnamigen Drama von Lenz schrieb, das genauso gequält ist wie seine Musik und in dem jede Vorstellung von Zeitlichkeit verschwindet: So wie in dramatischen Zeiten eines Krieges! In denen die Mittel zur totalen Zerstörung zur Verfügung stehen, um die Erinnerung der Menschheit für immer auszulöschen: Wir haben diese Situation im Moment vor unserer eigenen Tür! Denn wenn er den roten Faden seiner „Geschichte“ aus einem für die Epoche äußerst revolutionären Stück des Jahres 1776 adaptiert ohne den Text praktisch zu verändern. So  schafft er ein Werk, das in den Ängsten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verankert ist und von den schwerwiegendsten Ereignissen geprägt ist: Die die Menschheit je erlebt hatte!

Bieito in reduzierter Version…

Bieito bietet, begrenzt durch die Geographie des Ortes eine räumliche Anordnung, die dieses räumliche und zeitliche Mosaik nicht vollständig widerspiegelt. Aber wir erkennen deutlich die zunehmenden Gefahren und die Rolle dieser Soldaten, die im Gleichschritt marschieren, Helme tragen und diese so beunruhigende zivilisierte Militär-Gesellschaft bilden, während sie wie Herr und Frau Jedermann gekleidet bleiben. Marie, die ihr Double als Tänzerin hat, wird schließlich zum Spielzeug dieser fast alltäglichen Banalität: Manipuliert, getäuscht, geschlagen und vergewaltigt! Wir würdigen die Leistung aller Sänger dieser traurigen, ja finsteren Maskerade, der Bieito auch noch einen Hauch von Vulgarität hinzufügt, um den ganzen Schrecken der Trivialisierung der Ausbeutung zum Ausdruck zu bringen. Bieito hatte dieses außergewöhnliche Werk bereits schon 2013 in Zürich inszeniert. Anschließend beschloss er, alle Protagonisten wie Instrumentalisten und Chorsänger gleichermaßen als Soldaten zu verwandeln! Sein Vorschlag für den grossen Saal der Philharmonie de Paris unterscheidet sich zwangsläufig aufgrund des relativ kleinen Bühnen-Raums, den er aber sehr gut nutzt. Allerdings finden wir in den zahlreichen körperlichen Auseinandersetzungen, die von den Sängern gespielt wurden, auch einige markante Züge der brutalen Gewalt-Figuren aus der Produktion in Zürich wieder. Ohne das Finale zu vergessen, in dem die Szene gelbgetönt ist wie auf alten Sepia-Fotos und in dem Marie ihre Arme weit ausstreckt, um in ihrem Hemd die blutüberströmte Christus-ähnliche Figur zu erfassen: Das Opfer der Menschen! Auch Maries gesamte Entwicklung wird in gewisser Weise gleich behandelt, vom ernsthaften jungen Mädchen über die Hure bis hin zum Soldaten!

Eine Gesangs-Plattform der Superlative…

Denn auch sie haben es nicht leicht und Roth verliert sie als guter Anführer nie aus den Augen. Die Vielzahl der von lyrischen Künstlern geforderten Stimm-Formen reicht vom Sprech-Gesang des Wildhüters oder des Lakaien bis hin zu den verschiedenen sehr spannungsgeladenen Stimm-Lagen: Bass, Bariton, Tenor, Alt, Mezzo-Sopran und Sopran einschließlich Koloratur. Der gewünschte Gesangsstil umfasst alle Formen zeitgenössischer lyrischer Kunst: Rufe, Schreie, Flüstern, Tonabweichungen, Parlando, usw. und erinnert ganz offensichtlich an den Stil von Alban Bergs (1885-1935) Wozzeck (1925). Die Stimmen sind hell, klar und die Diktion tadellos in die herzzerreißenden Theater-Aufführung integriert.

DIE SOLDATEN hier Emily Hinrichs, Sopran

Es ist die amerikanische Sopranistin Emily Hindrichs, die die Marie singt und ihre sinnliche Präsenz sowie ihre leuchtende Stimme strahlen über die gesamte Aufführung. Ihre Inkarnation wird durch die Inszenierung sehr hervorgehoben, die den Blick buchstäblich auf sie und ihr Double, die deutsche Tänzerin Denise Meisner richtet. Die perfekte Performerin, die diese schwierige Übung: Ihre Rolle in dem gewissermaßen engen Raum zu „tanzen“, der für die Weiterentwicklung der Sänger reserviert war, erfolgreich gemeistert hatte. Darüber hinaus ist es ihr anderes Ich, das verletzt und allen möglichen sexuellen Übergriffen ausgesetzt war: Die oft deutlich angedeutet werden!

Die berühmte amerikanische Koloratur-Sopranisten Laura Aikin hat sich im Laufe ihrer langen Karriere gewissermaßen zu einem Mezzo-Soprano mit Koloraturen entwickelt. Sie war die unvergessliche Lulu (1937) in Bergs Meisterwerk und leiht hier der Gräfin de la Roche ihre Stimme und das wiederum noch immer mit einer erstaunlichen szenischen und  stimmlichen Leichtigkeit. Der weiß-russische Bariton Nikolay Borchev interpretiert den Tuchmacher Stolzius, dessen Bitterkeit wir angesichts der vielen Täuschungen, denen er zum Opfer fällt, nachvollziehen können. Wir denken unweigerlich sofort an die gequälte Figur des Wozzeck in der gleichnamigen Oper! Der isländische Bass Tomas Tomasson hat die männliche Stimme und das maskuline Aussehen, das man sich von dem Kaufmann Wesener aus Lille, dem Vater von Marie vorstellt: Der mit seiner Tochter einige ganz außergewöhnliche Duette singt. Der deutsche Tenor Martin Koch ist sehr überzeugend in der unverschämten anmaßenden Rolle des Verführers Desportes, ebenso wie auch der österreichische Bariton Wolfgang Stefan Schwaiger als Captain Mary. Bemerkenswert sind auch die beiden „Mütter“: Die brasilianische Altistin Kismara Pezzati als Weseners alte Mutter und auch die moldawische Altistin Alexandra Ionis als die Mutter von Stolzius. Sowie der britische Bass Lucas Singer als Obrist, Comte de Spannheim, der australische Tenor John Heuzenroeder als Pirzel und auch der deutsche Bariton Oliver Zwarg in  der Rolle des Eisenhardt. Aber auch nicht zu vergessen die deutsche Mezzo-Sopranistin Judith Thielsen mit einer hinreißenden Stimme als Charlotte und natürlich der kroatische Bass Miljenko Turk als brutaler Haudy.

Zusammen oder einzeln, ihre Präsenz und die Klarheit ihrer Klangfarben, ihrer Stimmen, ihrer Diktion machen sie zu den Haupt-Protagonisten dieses komplexen Werks in einem Saal: In dem die Akustik für die Instrumente das Wichtigste ist und normaler Weise für die lyrischen Künstler jedoch viel schwieriger ist! Sie alle aber liefern sehr intensive schöne Darbietungen in einem unaufhörlichen Wirrwarr von Klanggefügen ab, was die Darbietung umso bewundernswerter macht.

Eine Botschaft gegen alle Kriege…

Noch nie hatten wir den Eindruck eines universellen Werks mit einer so starken zeitlosen Botschaft, das sich gestern, heute, morgen an alle Generationen und alle Epochen wendet, um diesen unversöhnlichen Kreislauf der Gewalt immer auf das Neue anzuprangern. Auf der Partitur steht: Zeit: gestern, heute und morgen. Und sein letztes Aufglühen ist so groß, dass wir am Ende dieser Welle von unheimlichen Geräuschen und gewaltigen Emotionen  fassungslos und sprachlos bleiben!

Es genügt zu sagen, dass der Auftritt in der Philharmonie de Paris ein einmaliges Ereignis mit erwartetem und bestätigtem Erfolg war. Die enormen Ovationen, die das Publikum am Ende dieses einzigartigen künstlerischen Erlebnisses bot, respektierten die Stille des Staunens, die der Explosion der Freude vorausging. Ein sehr beeindruckendes Phänomen, das wir beobachteten: Wenn die intensive Arbeit alle Erwartungen übertroffen hat! (PMP/01.02.2024)