Paris, Parc Floral, FESTIVAL AU VERT 2025

20.07.2025
BACH AND BEYOND - Francesco Tristano, Klavier
Werke von Bach, Gulda, May, James und Tristano.
ES GIBT NUR EINE MUSIK, FREI UND OHNE GRENZEN…
Das neu komponierte Klavier…
Als ungewöhnliche Klavierpersönlichkeit gilt Francesco Tristano als eines der originellsten Talente seiner Generation. 1981 in Luxemburg geboren, gab er mit zwölf Jahren seine erstes Konzert und spielte seine ersten Kompositionen. Angezogen von klassischen Komponisten wie Johann Sebastian Bach (1685-1750), Girolamo Frescobaldi (1583-1643) und Domenico Scarlatti (1685-1757) entwickelte er auch eine Leidenschaft für Jazz, zeitgenössische und elektronische Musik, desgleichen besonders auch die Techno-Musik.
Als Absolvent der Juilliard School New York gewann er 2004 den Internationalen Klavier-Wettbewerb von Orleans. Er beherrscht mühelos verschiedene Musikstile und nimmt sein Publikum bei seinen Konzerten stets mit auf einen gekonnten und künstlerischen Balanceakt: Er vermischt Epochen, spielt eigene Kompositionen oder interpretiert die anderer neu und erkundet dabei die Möglichkeiten der Improvisation.
Frei, unerschrocken und originell – Tristanos Ansatz bricht mit den Normen, ist manchmal provokant, zeugt aber dennoch von seiner Intelligenz und seinem Respekt vor der Tradition. Tristano hat mehr als zwanzig Alben veröffentlicht. Nach drei Alben bei Sony Classical veröffentlichten Alben gründete Francesco sein eigenes Label „Into-the-future“, auf dem er 2023 begann, die Gesamtwerke von Bach zu veröffentlichen, mit der Veröffentlichung der Englischen Suiten, gefolgt von den Sechs Partitas im Jahr 2024.
Bachs Suiten sind mehr als Grooving…
Der Pianist und Kompositeur Tristano ist ein musikalischer Vagabund. Mit seinen Dreißigern kann er auf eine beeindruckende Karriere zurückblicken, die ihn unaufhörlich durch die verschiedenen künstlerischen Bereiche von Klassik, zeitgenössischer und Technomusik führt. Nachdem er während seines Studiums am Konservatorium die Musik von Bach in den Mittelpunkt gestellt hatte, machte er den Komponisten zum zentralen Bestandteil seiner Identität als „klassischer Pianist“. Die anschließende Auseinandersetzung mit zeitgenössischer und elektronischer Musik im Rahmen seines Studiums weckte in ihm den Wunsch, die damit verbundenen Techniken zu studieren und sie in seine eigene Identität als Interpret zu integrieren.
Doch wie eine kurze Dokumentation des WDR über den Künstler zeigt, ist dieses vielseitige Engagement für die Musik sowohl anstrengend als auch aufregend. An einem bestimmten Tag wird Tristano auf dem Flug von seinem Zuhause in Barcelona nach Zürich zu einer Probe mit dem Zürcher Kammerorchester gefilmt, wo er am nächsten Tag als Solist für Wolfgang Amadeus Mozarts (1756-1791) 8. Klavierkonzert N° 8 in C-Dur, KV. 246 (1777) gebucht ist. Am selben Tag fliegt Tristano nach Malaga, um in einem Nachtclub ein Live-Set zu spielen, wo er an den Decks mischt und auf einem Synthesizer improvisiert.
Skrupellos? Tristano würde das anders sehen! So wie wir es verstehen, will er dieses anstrengende künstlerische Projekt dem Publikum zeigen, dass die gegensätzlichen Genres, mit denen er sich beschäftigt: Viel mehr gemeinsam haben als sich voneinander zu trennen. In seinen eigenen Worten „Musik ist Teil desselben Klangflusses: Universell, eins und unteilbar“. Tristanos Enthusiasmus ist bewundernswert, doch unsere Position neigt leider unangenehmerweise dazu, den Wortlaut seines Vorschlags zu hinterfragen. Wir sagen hier bewusst „Wortlaut“, weil – wie später erläutert – das, was er hier schreibt, sich in der Wirklichkeit leider nicht in seinen Kompositionen widerspiegelt, was er tatsächlich meint. Zunächst einmal gibt es diesem verworrenen Diskurs rund um die Dichotomie zwischen „Klang“ und „Musik“, die hier jedoch nicht näher erläutern werden muss. Was wir hier jedoch infrage stellen, ist Tristanos eigenes Verständnis von musikalischer „Universalität“ – weit entfernt von dem, was musikalische Universalität tatsächlich beinhaltet. Einfach ausgedrückt: Musik als „universelle Sprache“ wird nicht anhand der Gemeinsamkeiten musikalischer Genres und Kulturen verstanden, sondern anhand ihrer unterschiedlichen Merkmale, was die enorme Vielfalt musikalischer Musik in verschiedenen Kulturen verdeutlicht. Diese Verständnis von „Universalität“ ermöglicht es uns, Barock, elektronische und zeitgenössische Musik als klar abgegrenzte Genres zu betrachten, was ein befreiender Gedanke ist.
Unserer Meinung nach ist Tristanos Prosa manchmal unklar, aber wir verstehen trotzdem, worauf er hinauswill. In der Dokumentation bezeichnet er Bach als „eine Art Proto-Techno“, weil ihn die Mechanik des Basso continuo an den wummernden Bass des Techno erinnert. Als begeisterter Hörer sowohl barocker als auch elektronischer Musik war Tristanos Diskussion über Bach aus der Perspektive des Techno sicherlich aufschlussreich. Wir glauben, er ist da irgendetwas auf der Spur! Dank seiner einzigartigen Position als musikalischer „Universalgelehrter“ ist Tristanos Verwendung der „Techno“-Terminologie zur Erläuterung stilistischer Merkmale eine hervorragende Möglichkeit, dem Publikum Barockmusik näherzubringen und auch umgekehrt. Gerade bei Barockmusik, deren Besonderheiten über den konventionellen Weg der klassischen Aufführung vermittelt werden, kann die Erklärung musikalischer Genres anhand normativer Begriffe die musikalische Zugänglichkeit erheblich verbessern. Genau das meint Tristano unserer Meinung!

Abschließend möchten wir unsere Ausführungen anhand von Tristanos einflussreichem Album „BachCage“ verdeutlichen. Aufnahmen von Musik von Bach und John Cage (1912-1992) werden hier durch eine Mischung aus Techno- und Trance-Effekten gefärbt. In den Liner Notes begründet Tristano seinen Einsatz elektronischer Effekte damit, um die Grenzen zwischen den beiden Komponisten zu verwischen. Diese Werke durch diesen elektronischen Filter zu hören, war zwar erfrischend, brachte die beiden Komponisten für uns aber nicht zusammen. Sie sind sich einfach unähnlich! Bachs Musik sprüht und ist voller Künstlichkeit! Cages Musik ist kontemplativ und Zen-artig! Das Klavier verwandelt sich in ein Gamelan! Der elektronische Anstrich war zwar provokant, aber in einem anderen Sinne. Als wir den zusätzlichen Hall in der Gigue der B-Dur-Partita hörten, konnten wir nicht anders, als Bachs bekannten Satz als Techno-Track zu erleben und gespannt auf den Höhepunkt zu warten.
Der Zugang zum Barockrepertoire durch die Linse elektronischer Musik kann sicherlich neue Zuhörer ansprechen, die sonst nie Barockmusik erlebt hätten. Genau das sollte unserer Meinung nach Tristanos Erbe beinhalten.
PROGRAMM:
Francesco Tristano: Electric Mirror (2019)
J. Sebastian Bach: Englische Suite N° 3, BWV 808 (etwa 1722)
Francesco Tristano: Pastorale (2017)
J. Sebastian Bach: Partita N° 2, BWV 826 (1727)
Francesco Tristano: Ciacona seconda (2021)
J. Sebastian Bach: Englische Suite N° 5, BWV 810 (1715-20)
J. Sebastian Bach: Französische Suite N° 1, BWV 812 (1720-1724)
Friedrich Gulda (1930-2000): Prelude & Fuge (1965)
Derrick May ( *1963) & Michael James (*1962):
Strings of life ((1987)
(Version von Tristano)
Zum Konzert am 20. Juli 2025 im Parc Floral im Rahmen des Festival Classique au Vert 2025:
Ein außergewöhnlicher Pianist…
Seit 1993 ist der Parc Floral einer der wenigen Orte, an denen man mitten im Pariser Sommer Musik erleben kann. Früher war das Programm umfangreicher, aber auch heute non finden vom 28. Juni bis 6. September acht Konzerte am Samstag- oder Sonntagnachmittag statt, deren Vielfalt es jedem ermöglicht etwas zu finden, zumal man dafür nur den bescheidenen Eintrittspreis für den Park bezahlen muss: 2.70 Euros und reduziert nur 1.55 Euros.

Unter anderem in diesem Jahr: Kammermusik mit Raphaëlle Moreau und Célia Oneto Bensaid, Guillaume Bellom, Anna Agafia und Stéphane Huang, das Agate Quartett, Geneviève Laurenceaus, Smoking Joséphine Quintett hat sich einen schönen Platz an der Sonne – oder genauer gesagt im Schatten der großen weißen Leinwand – erobert, aber das Festival begrüßt auch die Mezzo-Sopranistin Isabelle Druet mit Vincent Dumestre und sein Ensemble Le Poème Harmonique, ein Konzert mit Thibault Cauvin und dem Orchestre de Chambre de Paris, das ein Stück von dem sehr gefragten französischen Komponisten Philippe Manoury (*1952) Scale für Streicher-Ensemble, uraufführen wird.
Wie immer in der freien Natur gibt es mehr oder weniger angenehme Tücken, mit denen man rechnen muss: Das gute Wetter und der Wind in den Bäumen auf der einen Seite und die schreienden Kinder, die quakenden Enten und der Regenguss, der schnell einsetzen kann, auf der anderen. Aber zumindest die Qualität des Zuhörens verdient Lob und der Klang ist durchaus zufriedenstellend. Das Publikum sitzt bequem in gemütlichen Sitzen und auch angenehm überdacht gegen Regen oder zu viel Sonne in diesem schönen Freilicht-Theater.
Tristano bietet ein Programm mit dem Titel „Bach & Beyond“. Das ist völlig normal, denn wie der luxemburgische Pianist dem Publikum erzählt, hatte er seinem ersten Klavierlehrer schon früh gesagt, dass er nur seine eigenen Kompositionen und die von Bach spielen wolle. „Bach ist die Sonne“, verkündet er ins Mikrofon: Tatsächlich verwandelt sich das Wetter, morgens regnerisch, dann unsicher, am Ende des Konzerts ein strahlend blauer Himmel und angenehme Wärme.
Bach augmentiert, Bach paraphrasiert…
Das Programm vereint Bach-Suiten und Tristanos Kompositionen in einer engen Kette. Der Musiker komponiert so eine Art „Grand“ Suite, ein Barockgenre par excellence, in dem jedes Stück seinen Platz hat und vom Tanz seinen einzigartigen und charakteristischen Rhythmus erhält. Zur Allemande, der Sarabande oder auch der Gigue passt Tristano seine eigenen Rhythmen an, die von afro- oder lateinamerikanischen Tänzen oder auch repetitiver Musik inspiriert sind. Sie werden durch ein rhythmisches Pedal unterstrichen, das mit dem rechten Fuß bedient wird und bei einem akustischen Instrument normalerweise dazu dient, die Resonanz aufrechtzuerhalten.
Das Klavier wird zudem durch die „Präparierung“ einiger tiefer Saiten ergänzt, ganz im Stil von Cage. Der Pianist streicht sie im Stehen und befreit sich so von der Pflicht, am Hocker sitzen zu bleiben. Der ganze Körper nimmt dann am Spiel teil, wobei die gerundeten Schultern, die bei Bach relativ unbeweglich waren, sich dem Tempo seiner eigenen Kompositionen anzupassen. Der Klavierspieler Tristano kann sich zudem mit der linken Hand auf der akustischen und der rechten auf der digitalen Tastatur zu spielen. Die Klangfarben verwandeln sich in elektrisierende Klangschauer, erweiterte Orgelmixturen, von denen Bach hätte träumen können.

Aber Bach gereinigt…!
Trotz dieser Neigung zum Mischen, zum Hybridisieren scheint dem Pianisten ein gewisser Purismus zu beseelen. Schon allein durch seine frühreife und entschlossene Vorliebe für einen einzigen Komponisten – Bach - , wenn nicht für eine einzige Epoche – den Barock. Dann durch diesen „Beat“, der wie ein einziges Herz zwischen den Werken schlägt, den Punkt dichter Kristallisation der Musik, die er einübt und die sich dort windet. Es ist zugleich Takt, Tempo, Pulsation, Drive, Groove, Spielabsicht, Phrasierung; harmonischer Rhythmus oder gar Swing und schließlich Trance! Er ist es, der sowohl die lange melodische Schlange auf dem Basso continuo bei Bach als auch, wie ein Infrabass, der die Körper, Themen, melodisch-rhythmischen Abschnitte, Riffs und Ostinati durchquert: Zum Rollen bringt!
Auch beim Pianisten herrscht Respekt vor Gattung und Form, so wie bei der Suite, die für den Kantor wie ein Ausdruck musikalischer Universalität wirkt. Die beiden Werke Bachs werden vollständig und ohne Interpolation gespielt: Ebenso bleibt Tristano bei den Reprisen, die die sogenannte binäre Form der Tänze charakterisieren, hinsichtlich der Ornamentik nüchtern, zweifellos um das Tempo zu halten: Im Takt zu bleiben! Schließlich bleibt die tonale Einheit zwischen den Suiten von Bach und seinen eigenen Kompositionen gewahrt, deren tonaler Pfad zwischen benachbarten Tonarten verläuft, ja sogar schwebt, wie im Herzen barocker Tänze.
Die Verstärkung des Klaviers zwingt Tristano wie bei Bach, zu einem zarten und konzentrierten Spiel, einer millimetergenauen Kontrolle der Akzente, einer Dosierung der gehaltenen Töne und der Resonanzen, so dass der Intensitätsanstieg von einem Tanz zum nächsten „wohltemperiert“ bleibt. Das Ergebnis ist ein geschmeidiger Anschlag mit elastischem Anschlag und Rückprall, der in seinen hämmerndsten Kompositionen zwischen Haut und Metall seinen Weg findet.
Was Bach betrifft, hat Tristano begonnen, eine vollständige Edition seiner Einspielungen im Selbstverlag herausgeben, darunter auch die Englischen Suiten, die gerade erschienen sind. Gemessen an den drei Suiten und der Partita, die er ausgewählt hat, alle in Moll, ist sein Bach gut getaktet, nicht mechanisch, distanziert, aber auch nicht trocken noch überartikuliert und die verschiedenen Stimmen sind deutlich voneinander unterscheidbar. Mit ausgeglichenem Temperament erlaubt er sich bei den Sarabanden keine Überschwänglichkeit, sondern lässt hier und da etwas Humor walten, ohne zu vergessen, dass all diese Stücke ihre Daseinsberechtigung im Tanz haben. Auch die digitale Fingerfertigkeit kommt nicht zu kurz, wie beispielsweise das Capriccio der Zweiten Partita oder das Präludium der Fünften Englischen Suite zeigen, was bei jemanden, der, obwohl er seinen Nachnamen Schlime noch nicht ausgelöscht hatte, 2004 den Internationalen Klavierwettbewerb von Orléans gewann, nicht überrascht.

Was seine eigene Musik betrifft, so berührt sie andere Welten als die der sogenannten „klassischen“ Musik, ohne die Neuronen übermäßig zu beanspruchen, aber auch ohne sie anzugreifen: Zur Eröffnung des Konzerts ist Electric Mirror teuflisch eingängig, während Pastoral mit der Piano Lesson (1993) nach Michael Nymans- (*1944) Saite irritiert, mit einem repetitiven Tropismus, der sich auch wenig überraschend in der allzu jazzigeren Ciacona seconda wiederfindet.
Das Programm hätte genauso gut „Bach, Tristano & Beyond“ heißen können, denn der Pianist schließt zunächst mit einer Hommage an einen gewaltigen Bilderstürmer namens Goulda, der auch ein großer Bach-Interpret war und dessen Präludium und Fuge klassischer Formen und Jazz mit belebender Brillanz und Humor verbindet. Auch wenn seine Performance ausschließlich akustisch bleibt, gibt er schließlich einen Einblick in sein Elektro-Universum mit einem Arrangement von Strings of Live von May und James, einem Referenztitel aus It’s My House mit Techno-Musik: Eine sanfte Einleitung wie in einer Bar mit gedämpften Licht, dann ein sich aufdrängender Rhythmus, ein Crescendo und ein Abschluss durch das Schlagen auf den Resonanzboden und zupfen der Klaviersaiten – der Seiten des Lebens, versteht sich natürlich…
Ein wunderschöner Sonntagnachmittag mit einem extraordinären Konzert und anschließend ein Glas köstlichen Wein mit Freunden oder auch Allein, bei einem ausgezeichneten sonnigen Wetter ohne auch zu heiss zu sein. Was will man mehr? Athena und Bacchus haben es gut mit uns gemeint:
Finch’ han dal vino calda la testa,
una gran festa fa preparar!
Se trovi in piazza qualche ragazza,
teco ancor quella cerca menar.
(Arie des Don Giovanni / Auszug)