Paris, Opéra Comique, Liederabend Stéphanie d’Oustrac, Pascal Jourdan, IOCO
01.12.2025
L’ A M O U R D U C H A N T - EIN JAHRHUNDERT FRANZÖSISCHER MELODIEN…
Eine illustrierte Geschichte der Melodie…
In der Intimität des Saal Favart, einem wahren „Schaufenster“ für die Stimme, vibrieren wir mit den größten Stars der Opernszene. Ein „Liederabend“, der der Liebe zum Singen gewidmet ist, ein reiner Moment musikalischer Magie. Ein Jahrhundert französischer Melodien! Der Abend vereint vier bedeutende Persönlichkeiten des Repertoires : Pauline Viardot-Garcia (1821-1910), eine Pionierin der Romantik und Freigeist des 19. Jahrhunderts; Jacques Guillaume de Sauville de la Presle (1888-1969), ein kultivierter Erbe der französischen Schule; Henri Duparc (1848-1933), ein musikalischer Poet mit der gewaltigen Inbrunst eines Charles Baudelaire (1821-1867) und Francis Poulenc (1899-1963), der das Programm mit Akzenten beschließt, die Ironie und Emotion vereinen.

Zwischen klarer Textverständlichkeit und harmonischer Fülle weben die Stimme - die nebenbei gesagt, die Urenkelin von Presle und Poulenc ist – der französischen Mezzo-Sopranistin Stéphanie d’Oustrac und dem französischen Pianisten Pascal Jourdan.
Die seit vielen Jahren unzertrennlichen Künstler haben zusätzliche zwei talentierte Damen der Académie de l’Opéra-Comique eingeladen: Die bezaubernde französische Mezzo-Sopranistin Flore Royer und die französische Pianistin Flore-Elise Capelier. Sie werden zwei Melodien [*] von Duparc interpretieren.
Der Abend begann mit zwei Werken der zu ihrer Zeit äußerst bekannten und beliebten Sängerin und Komponistin Viardot-Garcia und zwar als erstes das Melodrama „Scène d‘ Hermione“, CWV 1007 (1887) aus Andromaque (1667) von Jean Racine (1639-1699). Diese sehr hochdramatische und starke Szene ist ein ideales Beispiel der französischen Gesangskunst am Ende des 19. Jahrhunderts. Aus den Douze mélodies russes (1891) eine Melodie nach einem Gedicht von Mikhaïl Lermonfort (1814-1841), die wie ein melancholisches dahin fließendes Wiegenlied sich den Träumen nähert N° 4. „Berceuse Cosaque“, VWV1039 (1892).
Der Großonkel Jacques de la Presle von d’Oustrac, war ein sehr fruchtbarer Komponist und er komponierte weit mehr als hundert Melodien. Sein Werk ist eigenartiger Weise dem großen Publikum nicht sehr bekannt geworden und wird auch in Konzertsälen wenig programmiert. Hoffen wir das die Zeit und der Geschmack sich ändert wird, denn unserer Meinung hat der Musiker es wohl aus verdient! Heute Abend sang die Urenkelin zwei seiner schönsten Melodien: „Voeu“ (1912) und „Nocturne“ (1911) nach Gedichten von Henri de Régnier (1864-1936). Er mag wohl nicht der unvergesslichste aller französische Dichter sein, doch seine Verse ermöglichten es La Presle, einige sehr verführerische Partituren zu schreiben, insbesondere das „Nocturne“. Für neugierige Musikliebhaber, Stéphanie hat mehrere CDs aufgenommen mit fast unbekannten Werken verschiedener Komponisten, darunter natürlich auch die Werke von ihrem Urgroßvater.

Mit der berühmten Melodie N° 4. „L’Invitation au voyage“ (1870) aus dem Notenheft Treize mélodies (1868/1884) von Duparc geht es weiter. Der große poetische Musiker hat sich hier aus Les Fleurs du mal (1857) von Baudelaire inspiriert. Diese wunderbare Melodie, entstanden während der Belagerung von Paris, soll nach dem Wunsch des Dichters entsprechend der „femme aimee“ gewidmet werden, somit übergibt der Komponist sein Werk an „Madame Henri Duparc“, die zur Zeit der Komposition noch Ellie Mac Swiney (1845-1934) hieß. Das N° 1. „Chanson triste“ (1868) ist aus Melancholia (1868) von Jean Lahor (1840-1909), aus dieser ersten erhaltenen Melodie wird Duparc all die polyphonen und klanglichen Feinheiten herausarbeiten, die in den Arpeggien der ursprünglichen Romanze noch nicht erkennbar waren. Man muss nicht unbedingt ein Anhänger von Sigmund Freud (1856-1939) sein, um zu erahnen, wie tief der junge Duparc diese Worte empfunden haben muss: „[…] pour fuir la vie importune […] mon triste Coeur […] ma tête malade“. Nochmal einmal der freudlose Baudelaire in N° 13. „La Vie antérieure (1876) aus Spleen et Ideal (1869)! Die Zerstörung des Recueilllements (1886) macht dieses Meisterwerk, das mit einiger Mühe erneut im Jahre 1911 von Duparc überarbeitet werden musste, zum authentischen melodischen Vermächtnis des Musikers, in dem der Komponist nach eigenen Angaben Skizzen seiner zukünftigen Oper Roussalka (1870) eingeschoben hat, die aber ebenfalls zerstört wurden. Die N° 9. „Sérénade florentine“ [*] (1880), auch nach einem Gedicht von Lahor aus L’Illusion (1875) wird abgerundet durch ein flüchtiges Nachspiel in zärtlichen Doppelnoten, gehört diese verträumte Wiegenlied-Serenade in einer sternenklaren Nacht zu den sanftesten und anspielungsreichsten - und an Gabriel Fauré (1845-1924) erinnernden - Melodien von Duparc, der eine Vorliebe für „die kleine Florentiner Serenade bekannte, weil sie sich ausreichend von dem traurigen oder heftigen Ton der anderen abhebt“. Die letzte Melodie von Duparc an diesem reichen „Liederabend“ ist auch noch einmal von einem Gedicht von Lahor aus L’Illusion inspiriert, N° 7. „Extase“ [*] (1875). Laut Pierre de Bréville (1861-1949): „Ungeduldig mit einem Einwand von Richard Wagner (1813-1883), der zur „tarte à la crème“ der Kritiker geworden war, amüsierte sich Duparc damit, diese Melodie absichtlich im „style de Tristan“ zu komponieren. Dieses „Lent et calme“, außerhalb der Zeit, gebadet in Chromatik, Appoggiaturen und Neunten erinnert unweigerlich an „Träume“ aus den Wesendonck-Liedern (1857/58), eine Skizze zum nächtlichen Duo von Tristan und Isolde (1858): Der Aufruf zur befreienden Vernichtung!
Nichts ungewöhnliches, das unsere elegante Diva einschließlich ihrem Pianisten das Ende dieses so ereignisreichen Abends mit einem Zyklus von Poulenc, ihrem zweiten Urgroßvater beendet! Dieser Ausnahme-Komponist in der Musik-Geschichte: Urkomisch, frech, einfallsreich und natürlich schleppt er immer einen duftenden Hauch von „Halbseide“ hinter sich her. Ja – neben seiner großen und tiefen Religiosität, haftet das gewisse „Halbseidene“ an ihm und man spürt und fühlt es immer wieder mit viel Begeisterung in seinen Werken wieder.

Fiançailles pour rire (1939): Von einem slowakischen Schloss aus schrieb die Dichterin Louise de Vilmorin (1902-1969) nach ihrer Heirat mit dem ungarischen Grafen Paul Pálffy d’Erdöd (1890-1968) diese Gedichte. Aber der Krieg war gerade ausgebrochen und hielt sie länger dort fest, als ihr lieb war. In Gedanken an ihr erzwungenes Exil vertonte Poulenc diese Gedichte, halb frivol, halb nostalgisch! „Das ist die gesamte Verbindung zwischen meinem Werk und diesem schrecklichen Wirbelsturm“, warnte er jene, die darin eine tragischere Botschaft vermuten. Er wollte mit diesem Zyklus das weibliche und zarte Gegenstück von Tel jour, telle nuit (1936/37) schaffen, mit einem leichteren, frecheren Ton. Doch diesen neuen Melodien fehlt die Geschlossenheit des von Paul Éluard (1895-1952) inspirierten Meisterwerks und auch die Musik vermittelt nicht immer die tragischen oder libertinen Untertöne dieser vieldeutigen Gedichte. Ein einzelnes Motiv durchzieht N° 1. „La Dame d’André“, eine sehr stimmige Seite, unmissverständlich in ihrer heiteren Schlichtheit! N° 2. „Dans l’herbe“ spricht sie von Tod und Einsamkeit, mitunter in sibyllinischen Worten; das schwarze Klavier unterstreicht mit schweren Viertelnoten den Schmerz einer von Pausen unterbrochenen Gesangslinie. In N° 3. „Il vole“ wird das Klavier virtuos, „im Stil einer Klavier-Etüde“, eine zweischneidige Melodie, lyrisch oder atemlos, unterstreicht die Ambivalenz der Wörter „fliegen oder stehlen“ – wie ein Herzensbrecher oder wie ein fliegender Vogel. Viel Tod und Erotik berühren sich in N° 4. „Mon cadavre est doux comme un gant“, einem Gedicht mit doppelter Bedeutung, von dem Poulenc nur die düstere Seite zu bewahren scheint: Verschlungene Gesangslinien, eine instabile und chromatische Harmonik, ein Klavier in gedämpften und sehr ruhigen Achtelnoten erinnert an die verborgene Sinnlichkeit seiner scheinbar morbiden und eisigen Verse. Von den trägen Zigeunerwalzern ist N° 5. „Violon“ nur ein fernes Echo. Die eleganten Budapester Keller werden an das Seine-Ufer versetzt, so sagt Poulenc: „wie der Foxtrott von L’Enfant et les Sortilèges (1925) sein Casino de Paris und die Rue d’Athènes spürt, wo Maurice Ravel (1875-1937) lebte“. Das Des-Dur in N° 6. „Fleurs“ steht bewusst im Kontrast zum vorhergehenden A-Dur: „Wenn diese Melodie separat gesungen wird, sollte ihr stets eine Melodie in einer entfernten Tonart vorangestellt werden […], um den Eindruck eines fernen Klangs zu bewahren“, sagt Poulenc. Die dichte und sehr ruhige Akkordführung erinnert an N° 2., die ebenfalls von der schmerzhaften Erinnerung an eine verlorene Liebe geprägt ist.
Alles schöne hat leider einmal ein Ende und so wird mit dem weltberühmten Melodrama La Dame de Monte-Carlo (1961) mit einem Text von Jean Cocteau (1889-1963) der Abend enden. Drei Jahre nach La Voix humaine (1959) komponierte Poulenc seinen zweiten Monolog für Sopran und Orchester, wie den ersten speziell für Georges Prêtre (1924-2017) und insbesondere für Denise Duval (1921-2016). Das Wunder wiederholte sich leider nicht! Pierre Bernac (1899-1979) urteilte, es sei „ein sehr schwaches Werk, das Poulenc sicherlich nicht geschrieben hätte, wäre er nicht von der Sehnsucht nach seiner strahlenden und erfüllten Jugend, die Monte-Carlo so treffend verkörpert, überwältigt gewesen“. Im Gegenteil, der Komponist verteidigte es und bat darum, es mit derselben Inbrunst wie das Gebet der Tosca (1903) im zweiten Akt der gleichnamigen Oper von Giacomo Puccini (1858-1924) aufzuführen. Dieser Monolog stellte eine große Schwierigkeit dar, erklärte der Komponist: „Der Monotonie zu entkommen und gleichzeitig einen unveränderlichen Rhythmus beizubehalten. Deshalb habe ich versucht, in jeder Strophe des Gedichts die Farben zu erhellen oder bzw. zu verdunkeln: Melancholie, Stolz, Lyrik, Gewalt und Sarkasmus, schließlich auch jämmerliche Zärtlichkeit, Angst und „Platsch“ im Meer!“
Zum „Liederabend“ in der Opéra-Comique / Paris am 1. Dezember 2025:
Stéphanie bringt La Dame de Monte-Carlo zu neuem Glanz...
Wir besuchen die „Liederabende“ in der Opéra-Comique mit dem verheißungsvollen Titel L’ Amour du Chant sehr gerne, denn der Saal Favart ist mit seiner Größe und Akustik ideal für diese Art von Bühnen- Repräsentationen geeignet. D’Oustrac bietet in einer Stunde ohne Pause – vielleicht auch ein wenig mehr – eine große Anzahl von französischen Melodien, begleitet am Klavier von dem exzellenten Jourdan.
Ist es wohl richtig, mit der tragischen „Scène d’Hermione“ aus Racines: Andromaque, vertont von Viardot, zu beginnen? Es erfordert ein gewisses Feingefühl und Energie, diesen Monolog: Der weder eine Kantate noch eine Opernszene ist, ohne jegliche gesangliche Vorbereitung anzugehen! Man würde es vorziehen, wenn dem Stück einige Melodien vorausgingen, damit sich unsere Interpretin einsingen kann! Die „Berceuse Cosaque“ ebenfalls von Viardot und insbesondere die beiden Melodien von einem ihrer Urgroßväter La Presle hätten diese Aufgabe wohlauf erfüllen können.
Die Academie de l‘Opéra-Comique ist ein ausgezeichneter Ausbildungsort für junge Künstler: Hier nutzte d’Oustrac die Gelegenheit, die Mezzo-Sopranistin Royer und die Pianisten Capelier einzuladen, um das vielversprechenden Talent dieser beiden jungen Künstler zu erproben: Mit zwei Melodien von Duparc haben sie ihr Können eindeutig bewiesen. Bravo, Brava, Bravissimo! Danach kehrt die Diva mit ihrem Pianisten für weitere Melodien zurück. D’Oustracs Charme ist ungebrochen, doch haben uns andere Abende mit ihr durch ihre Leichtigkeit und Klangfülle noch mehr begeistert; einige der tieferen Töne klingen hier gelegentlich etwas „schief“. Mit den Melodien von Urgroßvater Poulenc erleben wir die Künstlerin in ihrer ganzen Pracht als Interpretin und in La Dame de Monte-Carlo kann sie ihre Intelligenz für den Text und die dramatische Situation am besten zum Ausdruck bringen.
Eine Reihe von Zugaben, darunter „Le Porc à l’espagnol“ (1935) von Ennemond Trillat (1890-1980) und ein zartes Wiegenlied von Manuel de Falla (1876-1946), rundeten den Abend fröhlich ab.