Paris, Cité de la Musique, Konzertsaal, Ensemble Intercontemporaine, IOCO

19.09.2025
C I T Y L I F E
NEW YORKER CHRONIKEN…
Es lässt sich kaum bessere Musik machen…,
mit der die New Yorker ihre Stadt erkennen und lieben als in City Life: Der amerikanische Musiker Steve Reich (*1936) komponierte dieses Meisterwerk aus Rohmaterial, das so nah wie möglich am Alltagsleben seiner Heimatstadt eingefangen wurde. Hupen, Protestschreie, Feuerwehrsirenen bilden die Klangfarbenpalette dieses Porträts einer Stadt, die mal rebellisch, mal farbenfroh und mal tragisch ist. Obwohl untrennbar mit dem Big Apple verbunden, wurde City Life in Frankreich, genauer gesagt in Metz, geboren: am 7. März 1995, kreiert vom EIC unter der Leitung von dem amerikanischen Dirigenten David Robertson (*1958). All diese New Yorker Geräusche und Klänge begleiten zweifellos die Geburt von Urban Legends, denn während eines Spaziergang durch Straßen, Parks und Brücken New Yorks träumte der französische Komponist Tristan Murail (*1947) sein Stück, dass ein bisschen an Modest Petrowitsch Mussorgskis (1839-1881) Bilder einer Ausstellung (1874/1922) erinnert und mit Unsuk Chins (1961) Graffiti zu hören ist. In einem wahren musikalischen Palimpsest – der die sich an den Wänden überlappenden Farbschichten wiedergibt – feiert die südkoreanische Komponistin diese wilde und zutiefst urbane Kunst, irgendwo zwischen wilden Ausbrüchen und sozialem und politischem Manifesten.

Musikalische Politik der Stadt…
Am 19. September eröffnete das ENSEMBLE INTERCONTEMPORAIN in der CITÉ DE LA MUSIQUE in Paris seine Saison 2025/26 mit REICHS Composition CITY LIFE. Dieses 1995 vom EIC geschaffene Meisterwerk ist vom akustischen Tumult New Yorks inspiriert und vermischt traditionelle Instrumente mit voraufgezeichneten urbanen Klängen – Hörnern, Alarmen, Stimmen und Stadtgeräuschen – zu einer rhythmischen und eindringlichen Partitur. REICH illustriert nicht nur die Stadt, sondern integriert ihre Klänge in das Herz des Orchesters, wodurch die Grenzen zwischen Musik und urbaner Realität verschwimmen und so eine wahre Klangchronik der Stadt erstellt, die uns im Wirrwarr des alltäglichen Leben überholt und gefangen hält…

Die Musik des amerikanischen Komponisten Reich war von Anfang an eng mit dem urbanen Erleben verbunden. Zwar ist er sicherlich nicht der einzige Musiker der jüngeren Zeit, der versucht hat, die verschiedenen Klangdimensionen der Stadt einzufangen und sie durch die Klangfarbe klassischer Instrumenten widerzugeben, doch unterscheidet sich Reich von den meisten Komponisten des 20. Jahrhunderts durch einen Ansatz, der trotzt des Anscheins keineswegs illustrativ oder anekdotisch ist. Ohne sich zu weigern, zahlreiche Stadtgeräusche in seine Werke zu integrieren und sich diese sogar mit einer einer nie zuvor erreichten Präzision und Intimität anzueignen, nutzt Reich die Stadt keineswegs als klanglichen Vorwand für die Hervorrufung eines Lokalkolorits, ganz im Sinne einer Ästhetik des Exotismus, die letztlich eine konservative, ja sogar rückschrittliche Ideologie wäre.
Das ästhetische Projekt von City Life, komponiert für ein kleines Orchester mit 18 Instrumenten, darunter zwei Klaviere und zwei elektronische Sampler, die vom Komponisten in New York vorab aufgenommene Stadtgeräusche live abspielen, könnte als die Etablierung einer Reihe von Unentschlossenheiten beschrieben werden, die es verhindert, die Stadt auf die akustische Illustration eines moralischen Arguments zu reduzieren. Diese Unentschlossenheiten erzeugen eine während der gesamten 25 Minuten der Aufführung spürbare formale Spannung und machen so City Live zu einem Pfeiler von Reichs großer musikalischer Ethik, dessen gesamtes Werk, weit entfernt von einem vereinfachenden Moralismus, eine engagierte Chronik der Kämpfe seines Jahrhunderts ist. Unter dem Begriff „Chronik“ verstehen wir natürlich die aktuellen Bedeutung von „zirkulierenden Nachrichten“ – „Geräuschen der Stadt“ sozusagen – und schlagen daher eine Verankerung in der Realität vor. Aber auch noch tiefgreifender werden wir versuchen, die Herstellung einer bestimmten Beziehung zur Zeit zum Ausdruck zu bringen, einer Chronik, die versucht, den vielfältigen Strömen und Geschwindigkeiten der Zeit, die die Struktur der Stadt bilden, eine musikalische Zeit zuzuordnen, die im Allgemeinen einer einzigartigen Linearität unterliegt.
Stadt, Musik und Politik…
Für Reich ist das Erleben der Stadt eng mit der Politik verknüpft, was ihm ermöglichte, die Etymologie des letztgenannten Begriffs, neu zu entdecken. Als er in 1960er Jahren seine Karriere als Komponist begann – während er seinen Lebensunterhalt als Taxifahrer verdiente, ein Job, der ihm seiner Aussage nach freie Hand beim Komponieren ließ - ,war er tatsächlich ein Zeitgenosse des Kampfes für die Bürgerrechte der Afroamerikaner, aber auch der politisch subversiven Texte des Rock and Roll, einer musikalischen Ausdrucksform, deren Einfluss er bereitwillig zugibt. 1965 nahm Reich in San Francisco die Predigt eines schwarzen Pfingstpredigers am Union Square auf und lieferte damit das Klangmaterial für eines seiner ersten Stücke mit Wiederholung und Phasenverschiebung: It’s Gonna Rain, für Tonband. Anschließend versucht er, den Einsatz der Elektroakustik mit einem dokumentarischen Bezug zur Realität zu artikulieren, der den Ausdruck einer „emotionalen Kraft“ nicht ausschließt, die die Empathie des Zuhörers hervorruft.
Es ist daher völlig normalisiert, das Reich rund dreißig Jahre nach It’s Gonna Rain, in den Mittelpunkt von City Life die von ihm selbst aufgenommene Aufnahme einer Demonstration in der Nähe des New Yorker Rathauses stellte, an der hauptsächlich Afroamerikaner teilnahmen. Dreh- und Angelpunkt der bogenförmigen Struktur dieses Werks ist der dritte der fünf Sätze, in dem der von den Demonstranten skandierte Text – „It’s been a Honey moon – can’t take no mo‘ “ – hörbar gemacht wird, indem auf zwei digitalen Keyboards gesampelt wird, die die Silben entsprechend dem Prozess der Phasenverschiebung in einer Schleife wiederholen. Dadurch entsteht ein eindrucksvoller Effekt, der die Mischung aus konzentrierter Entschlossenheit und intensiver Frustration auch noch eine politische Kundgebung kennzeichnet und somit erfolgreich wiedergibt.
Musikalische Gezeiten der Stadt…
Durch seine Arbeiten mit Klängen und Geräuschen schafft Reich ein musikalisches Bild auf halben Weg zwischen dokumentarischem Realismus und einer Art abstrakten Expressionismus, das es ihm ermöglicht, seine komplexe Beziehung zur Stadt auszudrücken. Dass der militante Anspruch, der hier anspielend mit Reichs Gründungswerk It’s Gonna Rain in Verbindung gebracht wird, ist daher symptomatisch für das untrennbar urbane und politische Projekt des Komponisten. Zusätzlich zur Evokation der potenziell unendlichen Vervielfältigung von Demonstranten, deren Stimmen von den in seiner Aufnahme einfließenden Orchesterinstrumenten wiedergegeben werden, erlaubt uns die Wiederholung der einhämmerten Slogans, die vergängliche Natur einer Klangdemonstration im Gedächtnis zu behalten: Sie fungiert als Matrix, die von einem Kampf zeugt und gleichzeitig eine Politik des musikalischen Materials etabliert. Man könnte daher die These aufstellen, dass es bei Reich, anders als bei den meisten Komponisten, strenggenommen keine imaginäre Stadt gibt, sondern dass die Stadt für ihn ein Realitätsraum ist, der in das Musikalische einbricht, um es zu prägen und zu strukturieren – sowohl in seinen formalen Prozessen als auch in ästhetischen und ethischen Werten, die es zum Ausdruck bringt. Die Beziehung zwischen den voraufgezeichneten Klängen der Stadt und dem Instrumentalklang, der sie aufnimmt , dehnt, wiederholt und manipuliert, wird so organisch! Dies bestätigt das absolute Fehlen jeglicher illustrativer Absicht bei Reich: Es gibt bei diesem zutiefst urbanen Komponisten keine „Vertonung“ der Stadt, sondern vielmehr eine radikale Transformation des Klangmaterials, das selbst als Stadt konzipiert ist.
Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass die vom Komponisten in New York aufgenommenen Geräusche von zwei Synthesizern interpretiert werden, während die klassischen Instrumente auf derselben Bühne ihren musikalischen Kommentar zu diesen Geräuschen weben. Es handelt sich nicht, wie in einigen früheren Werken Reichs – z. B. Different Trains (1988) -, um ein Magnetband, dessen unpersönliche und unabhängige Entfaltung der Interpreten als Hintergrund für die musikalische Darbietung dient, sondern vielmehr darum, die Klänge der Stadt auf der Bühne des Konzerts selbst spielen zu lassen, von Interpreten aus Fleisch und Blut. „Die Orchestrierung“, betont der Komponist in Manfred Waffenders (*1952) Dokumentarfilm Steve Reich’s City Life, (2007) „besteht darin, das Horn in die Struktur des Orchesters einzubeziehen, das ist der springende Punkt dieses Werks“.
Er fügt hinzu, indem er beschreibt, wie er Straßengeräusche in Tonhöhen „übersetzt“: „Es ist eine Art, ein tiefes C auszudrücken, aber in Wirklichkeit wäre es wahrscheinlich zu offensichtlich – er spielt es auf dem Klavier -, also ist es eine Art „da kommt der Verkehr“ anzudeuten, aber es erfüllt dieselbe Funktion wie ein Cello oder ein Kontrabass, nur mit einer anderen Klangfarbe, weil es ein Instrument ist. Also hier ist unser „Auto-Cello!“
City Life dokumentiert die Beats der Stadt sowie die urbane künstlerische Praxis – in beiden Bedeutungen des Begriffs -, die das Konzert ausmacht. Es ist Musik in der Stadt und nicht nur Musik der Stadt, sondern ein Werk, das sowohl urban als auch politisch für unsere Zeit…
Hier die wichtigsten City-Information:
Zuschlagende Taxitüren, pneumatische Blasebälge von Bus und U-Bahn, Autoalarme, über einen Gullydeckel fahrende Autos, Rammen, Bootssirenen. Hinzu kommen Sprachfragmente, die drei der fünf Sätze des Werks strukturieren: [I] Ausruf eines Straßenhändlers – seht euch das an – eine wahre Hommage an Clément Janequin (1485-1558) [III], skandierte Parolen einer Demonstration im Central Park –„It’s been a Honeymoon und Can’t take no more“, [V] Rufe und Befehle von Polizisten und Feuerwehrleuten während des Anschlags auf das World Trade Center 1993 – „Dichter Rauch! Bereithalten! bereithalten! Es ist voller Rauch! Dringend! Pistole, Messer oder Waffen auf dich? Was hat du gemacht! Vorsicht! Wo gehts du hin!“ [II] Die Autohupe in das Orchester einbauen, sagt Reich und verwendet dabei eine sehr treffende Architekturmetapher…
Zum Konzert in der Cité de la Musique in Paris am 19.09.2025:
Die Stadt in Rosa…
Heute Abend feiert das Ensemble Intercontemporain im Konzertsaal der Cité de la Musique in Paris den Beginn der neuen Saison 2025/26 und natürlich auch nicht zu vergessen das neue Schuljahr mit einem 100 % urbanen Programm, das die Schönheiten der Stadt feiert. Unsuk Chin, Tristan Murail und Steve Reich fungieren als Architekten, Pierre Bleuse als Chefingenieur. Das Pariser Ensemble für die Musique von heute muss man wohl nicht mehr vorstellen, die Musiker sind in der ganzen Welt berühmt und jeder einzelne ist ohne weiteres ein „grosser Star“ für sich allein. Das Ensemble wurde von Pierre Boulez (1925-2016) gegründet um einen musikalischen Tempel über die Schönheit der modernen Musik zu errichten.

Wir wissen nicht, wie es ihnen geht, aber uns gefallen diese Plakate in der Metro oder U-Bahn: Das des Departementsrats Lozére, das der Stadt La Rochelle und nicht zu vergessen das der öffentlichen Einrichtung für interkommunale Zusammenarbeit in Châteauroux, das uns an die Freuden des Lebens in größeren Büros, näher an der Natur erinnert. Natürlich werden wir jetzt , da wir wieder zur Schule gehen, ein wenig nostalgisch…
Stadtflucht …?
„Dort gibt es Glasfenster! Dort herrscht Ruhe! Dort herrscht der diskrete Charme eines Samstagsmarkts mit seinen zahlreichen lokalen Produkten“. Aber auch Paris oder eine andere Hauptstadt irgendwo hat seinen Charme. Man kann dort auch spazieren gehen – zugegebenermaßen andere -, auf einer Terrasse etwas trinken – zugegebenermaßen für den dreifachen Preis – und anschließend ein Konzert besuchen:
Die Auswahl ist groß!
Und genau dort, in Form von Plakaten lautschreiend in den öffentlichen Transportmitteln über diverse Konzertprogramme, werden wir bedient und angezwinkert und ein Ereignis ist uns aufgefallen: Das Ensemble Intercontemporain bietet uns Mitte September einen Abend zu Ehren der Städte. Werfen wir also einen Blick auf das Programm…
Graffiti: Eine Wand machen…
Oh ja, genau: Die berühmte Graffiti! Zum Glück sind wir auf der Route 6 und sind gerade zwischen Place d’Italie und Rue Chevaleret an riesigen Fresken des Boulevard Vincent Auriol vorbeigekommen. Versuchen sie das mal an den Mauern des alten Hafens von La Rochelle und sie könnten Probleme bekommen… Die südkoreanischen Komponistin Chin hat daraus ein Musikstück gemacht, bei dem sich die Klangschichten wie Farbschichten auf Beton überlagern und ein großes Bild bilden, dessen reflektierende Wand das Orchester bildet.

Murail sagt, wie es ist…
Und sonst noch etwas? Ach ja, die Urban Legends… Die berühmten, die wir in der Pause unter leichtgläubigen Kindern herumgereicht machen und die so voller Details waren, dass man beim Weitersagen einschlief. Der Rote Geist der Tuilerien, die Hexen der Rue Broca, das Krokodil der Pariser Kanalisation! In seiner eigenen Version der Urban Legends wandert Murail durch New York. Wie Mussorgsky in Sankt-Petersburg malt er Bilder davon: Das kreischende Metall der Untergrundbahn, die Gebäude, die sich von der Staten Island Ferry aus gegen den Himmel abheben, die Sonntagsjogger im Central Park… Hier gibt es weder Fantasie noch Horror, nur das Leben eines Franzosen auf der Durchreise durch New York…
New York, New York…
Reich seinerseits ist ein echter New Yorker. City Life, die letzte Zeile auf dem Plakat, die diesem Konzert das Ensemble Intercontemporain seinen Namen gab, ist genau das, was wir brauchten um uns endlich mit der Stadt zu versöhnen. Der Lärm der Baustellen, das Hupen der Autos, das Gedränge der Reisenden, die zum Busse drängen: Alles in diesem Stück ist darauf angelegt, aus dem Lärm Rhythmus und Schönheit entstehen zu lassen. Es hat etwas Hypnotisches, den „Check-it-outs“ des im Herzen des Orchesters installierten Sampler zu lauschen, die Wiederholungen der Klangschleifen zu beobachten und zu sehen, wie die Maschine von Zeit zu Zeit anhält, um zu atmen. Einen wenig wie wir, die im Zug sitzen und die Stationen vorbeiziehen sehen, ohne sie zu zählen, bevor wir nach Hause kommen.
Denn ja, diese Stadt ist unsere Heimat und wir finden hier Schönheit. Dafür können sie auf unsere Freunde vom Ensemble Intercontemporain zählen. „Das Leben auf der Straße ist ein schönes Leben!“
Wir werden im nächsten Urlaub wieder in den Hafen von La Rochelle zurückkehren.