Paris, Cité de la Musique -Konzertsaal, B E R I O & C O, IOCO
24.10.2025
B E R I O & C O; Festival d’Automne Paris 2025
100 JAHRE EIN WELTENBUMMLER…
Black is the color
of my true love’s hair,
his lips are something
rosy fair,
the sweetest smile
and the kindest hands;
I love the grass whereon he stands,
I love my love and well he knows.
I love the grass whereon he goes.
If he no more on earth will be,
‘t will surely be the end of me.
Black is the color…
(Berio: aus Folk Songs)

Der Architekt des modernen Sounds…
Auf den Tag genau feiert das EIC / ENSEMBLE INTERCONTEMPORAIN in Paris den 100.Geburtstag von LUCIANO BERIO. Am 24. Oktober 1925 Jährte sich sein Geburtstag. Seine Musik ist frei, reichhaltig und virtuos und spiegelt eine ständige neugierige Suche nach neuen Formen und eine Offenheit gegenüber anderen Musikgenres wider. Davon zeugen die berühmten FOLK SONGS (1964), die das ENSEMBLE INTERCONTEMPORAIN speziell für dieses Jubiläumskonzert ausgewählt hat.
Auch die vier Komponistinnen, die mit Berio auf dem Programm stehen, lassen sich von der Popmusik inspirieren und erweitern dessen kompositorische Ansätze. Irrlicht (2012) der Österreicherin Eva Reiter (*1976) und Pure Bliss (2022) der Kroatin Sara Glojnarić (*1991) stehen ganz im Zeichen der Sinfonia (1968) von Berio, wobei letztere wie Klang-Polaroids einige ihrer liebsten musikalischen Passagen gegenüberstellt, die ihr „reine Ekstase“ bescheren. Eine Art „ekstatischen Zustands“, sinnlich und grotesk, kündigt die chinesische Komponistin Ni Zheng (*1997) in ihrem neuen Werk Cauldron of Mania (2025) für Ensemble und Elektronik an. Die Amerikanerin Zara Ali (*1991) wiederum, an der Schnittstelle zwischen plastischer und musikalischer Erfahrung, besticht durch zeitgenössische, neue Visionen mit ihrem neuen uraufgeführten Werk S.M.B (South Memphis, Bitch) (2025), verschiebt sie bereitwillig die Realität und übersetzt geometrische oder kinetische Strukturen in Klänge…

Berio, ein experimenteller, freier und nicht klassifizierbarer Komponist, revolutionierte die Musk des 20. Jahrhunderts, indem er Klassik, Pop und Technologie zusammenbrachte und so weit ging, das Kino, The Beatles und sogar den Rap zu beeinflussen. Luciano Berio (1925-2003) bleibt einer der offensten und visionärsten Komponisten des 20. Jahrhunderts. Zwischen dem Erbe der italienischen Maîtres und seiner Faszination für Elektronik schuf er eine musikalische Sprache aus Collagen, Zitaten und Kontrasten. Eine polyglotte Musik, wie er selbst, neugierig und zutiefst menschlich. „Wenn man ihn fragte, was Musik sei […], antwortete er immer, es sei alles, was man mit der Absicht hört, darin Musik zu hören“. Dieser Satz fasst seine Philosophie zusammen: Die Grenzen zwischen den Klängen der Welt und der Kunst, zwischen Lärm und Schönheit aufzuheben. Für ihn war Musik kein Gebiet, das Eingeweihten vorbehalten war, sondern eine Möglichkeit der Realität zu lauschen. Er arbeitete mit den Dichtern Edward Estlin Cummings (1894-1962) für Circles (1960) und Edoardo Sanguineti (1930-2010) für Laborintus II (1965) zusammen und komponierte dann zwei Opern erneut mit einem anderen Schriftsteller Italo Calvino (1923-1985) zusammen für La vera storia (1977/78) und Un re in ascolta (1964). Diese Werke zeugen von einer grenzenlosen Neugier zwischen Literatur, Philosophie und Klang. Diese Stücke ebneten den Weg von Komponisten wie – Steve Reich (*1936) bis György Ligeti (1923-2006) – und inspirierten elektronischen Künstler wie Brian Eno (*1948) und Aphex Twin (*1971).
Von Mailand bis zu The Beatles: Der Dialog der Welten…
Berio war schon immer bestrebt, musikalische Barrieren zu überwinden! Als berüchtigter Fan von The Beatles arrangierte er drei ihrer Songs: Michelle I & II (1965), Ticket to Ride (1965) und Yesterday (1965) und verwischte so die Grenzen zwischen Popmusik und Avantgarde. Paul McCartney (*1942), fasziniert von seinen Klangexpeditionen, ließ sich von einigen seiner Ideen für Revolver (1966) inspirieren. Diese Durchlässigkeit verdeutlicht seinen Ansatz: Welten in einem Dialog zu bringen, anstatt sie gegeneinander auszuspielen. Er unterrichtete sogar Phil Lesh (1940-2024), den späteren Mitbegründer der Rockband The Grateful Dead in Komposition.

Von den Mailänder Studios bis zu den großen Kreationen des 21. Jahrhunderts…
Berios Werke beeinflussten auch das Autoren-Kino: The Bottom of the is Red (1977) von Chris Marker (1921-2012), The Prisoner (1968) von Henri-Georges Clouzot (1907-1977), Chung Kuo: China (1972) von Michelangelo Antonioni (1912-2007). Er selbst komponierte für das Fernsehen mit der Serie C’è musica e musica / RAI (1972). Als Mitbegründer des Studio di Phonologia für musikalische Phonologie in Mailand leistete Berio Pionierarbeit in der elektronischen Musik. Die Sequenza (1958/2003) und Sinfonia werden regelmäßig in multimedialen Aufführungen neu interpretiert. Die zeitgenössische Szene lässt sich weiterhin vom italienischen Maestro inspirieren. Ausschnitte aus Visage (1961) wurden von DJ Wagon: Christ in Rendleshack (1988) und in jüngster Zeit von den Rappern Young Thug (*1991) und Freddie Gibbs (*1982) und ASAP Ferk für old English (2014) gecovert. Die Elektromusikgruppe Crystal Castles coverte Thema (Omaggio a Joyce) in Air War (2006).
Ein Komponist zum Wiederentdecken…
All diese Wiederverwendungen zeigen, dass Berios auf Wiederholung, Verzerrung und Collage basierendes Schreiben die Techniken des modernen Samplings vorwegnahm. Er ist neben Reich einer der Vorfahren der postmodernen Musik. „Er ist ein Komponist, der das Publikum wirklich angezogen hat. Ich erinnere mich an die Tage der zeitgenössischen Musik in Paris Anfang der 1970er Jahre, als Hunderte von Menschen, viele junge Leute, kamen, um Berios Werke mit Begeisterung zu hören […]. Und heute ist er ein Komponist, der, wie ich finde, etwas diskret ist“. Philippe Albèra (*1952), Musikwissenschaftler, Vortrag in der Philharmonie de Paris (2019).

Von seinen Folk Songs bis zu seiner Sinfonia, einschließlich der Sequenza und des Coro (1976) ist Berios Werk stets eine Inspiration und vermittelt uns eine zeitlose Lektion: Musik ist eine Kunst des Zuhörens, nicht der Abschottung…
Zum Konzert in der Cité de la Musique / Konzertsaal / Paris am 24. Oktober 2025:
Freier Platz für Komponistinnen…
An diesem Abend stehen die Damen im grellen Rampenlicht: Einem „Klassiker“ der zeitgenössischen Musik gehen vier interessante Uraufführungen von vier verschiedenen charmanten Komponistinnen voraus. Während die Edition der Philharmonie de Paris derzeit eine willkommene Anthologie der Schriften des italienischen Maître veröffentlicht, ist es sehr bedauerlich, dass das Programm des Festival d’Automne 2025 es an diesem hundertsten Jubiläumsjahr nicht für angebracht hielt, darauf hinzuweisen, dass Berio nicht nur der Komponist von Sinfonia und der Folk Songs ist.
Die französisch-zypriotische Mezzo-Sopranistin Sarah Aristidou liefert eine Interpretation, die dem kammermusikalischen Geist der Originalversion für sieben Instrumentalisten entspricht, indem sie subtile Verbindungen zu den Musikern knüpft und ihren Mangel an Projektion durch eine den verschiedenen Songs angepasste Nuance auszugleichen weiß: Hier ist sie abwechselnd spöttisch in 4. Rossignolet du bois (Frankreich), kehlig in 5. A la femminscas (Sizilien) und leise, wenn sie sich auf ein fesselndes Zwiegespräch mit der Bratsche und dem Cello einlässt mit dem sehr strophischen Song 10. Lo fiolaire (Auvergne), bevor der letzte jubelnde Song 11. Chanson d’amour (Azerbaijani) erklingt, in dem die Piccoloflöte des hervorragenden Matteo Cesari hervorsticht. Ohne in eine zu nostalgische Traurigkeit zu verfallen, ist es doch sehr schwierig, nicht an die unvergessliche erste Interpretin dieser wundervollen Folk Songs zu denken: Die einmalige Cathy Berberian (1925-1983)!

Der simbabwisch-amerikanische Dirigent Vimbayi Kaziboni, ist anregend und diskret in Berio, hat aber im ersten Teil sehr viel zu tun mit den rauen Universen der Komponistinnen, die ein gemeinsames Interesse an der Stimme haben. So hebt Irrlicht von Reiter „eine spezifische Phrasierung hervor, die von der Klangfülle und Melodie der menschlichen Stimme inspiriert ist“. Die spektakuläre Verräumlichung des elektronischen Teils vervielfacht die an Unreinheiten – einschließlich weißem Rauschen – reichen Klänge, die von den übersteuerten Musikern erzeugt werden? Denen die ausgelassensten Spielweisen vorgeschrieben sind. Diese Partitur erfordert sogar den Einsatz von Röhren aus plastischem biegsamen Material, um musikalische Bilder von „Irrlichtern“ hervorzurufen, diesen flüchtigen Lichtern, die wir ausreichend aus der deutschen Romantik kennen. Eine „Manifestation des Geistes auf Erden!“ Zwar spürt man die Zerbrechlichkeit dieser Naturphänomene im abrupten Stil der Komponistin kaum, aber der Zauber wirkt und die zehn Minuten vergehen wie ein – böser? – Wachtraum.
Glojnarić spricht im Zusammenhang mit Pure Bliss, einem 2022 in Zusammenarbeit mit Mitgliedern des Klangforum Wien konzipierten Stück, von einer „Klang-Polaroid-Sammlung“. Die „Sammlung“ all dieser – oft sehr kurzen – Lieblingsmomente der Musikerin sind mit einem bestimmten Musikstück verbunden – klassisch oder nicht – und wurde im Voraus von ihr gesammelt. Es stellt das Grundmaterial der mehrteiligen Komposition dar. Die Mitglieder des Ensemble Intercontemporain, aufgepeitscht von den Böen der Elektronik, tun ihr Bestes um sich die Auswahl ihrer Wiener Kollegen anzueignen. Die behauptete Hybridisierung des Materials ist bemerkenswert, auch wenn die meisten ihr Augenmerk auf Musik gerichtet haben, die dem klassischen Bereich fremd ist – nennen wir sie so, aus Mangel an Vokabeln - , also hauptsächlich tonal, wie etwa die Wahl des Dirigenten während einer sehr theatralischen Sequenz, in der er dem Publikum und dem Kontrollraum zugewandt ist, seine mit einer Fernbedienung ausgestatteten Hand hebt er und ein Song von Nina Simone (1933-2003) erklingt.

Die programmierten Werke benötigen jedes Mal erhebliche Änderungen des Instrumentarium und die jeweilige Größe des Orchesters für die jeweiligen Kompositionen, somit verlängert sich jede kleine Pause… Die Direktorin Clara Iannotta des Festival d’Automne, nutzt diese verlorene Zeit um kleine Interviews mit den Komponistinnen zu vollziehen. Das ökologische Engagement von Zheng und Ali – beide gehören der sogenannten Generation Z an – dürfte kaum überraschen!
Erstere, aufgebracht über die im Internet ausgestrahlte gewaltige Misshandlungen von Tieren, stieß vor einem Studiomikrofon einen lauten Schrei der Empörung aus, dieser diente als Vorlage für Cauldron of Mania für verstärktes und elektronisches Ensemble, das das Publikum in einen Kompost aus Gewalt und Empörung stürzt. Dem Publikum bluten im wahrsten Sinne fast die Ohren vor einer kurzen, an Agonie erinnernden Coda!
Besonders vielseitig sind die EIC-Musiker an diesem Abend, die abwechselnd einen Text aus SMB (South Memphis, Bitch) von der letzten Komponistin vortragen sollen. Die ursprünglich aus Memphis stammt und von der Zerstörung der Landschaft in Tennessee nach der Errichtung einer „Hochleistungsrechnerfabrik von Elon Musk“ (*1971) geprägt ist. Kaziboni verteilt das Wort an die verschiedenen Redner, nimmt aber die Zügel zurück, als von der amerikanischen Gruppe Three Mafia inspirierte Hip-Hop-Anklänge auftauchen – ein Zusammentreffen von furchtbaren Kämpfen gegen die Verwüstungen des triumphierenden Kapitalismus? Diesen mutigen beiden Weltpremieren fehlt es zweifellos ein wenig an Genie, das den rachsüchtigen Inhalt des Themas wohl in einer etwas mehr verklärten Musik wirksamer wäre. Aber wir persönlich waren trotz allem sehr berührt über den großen Mut, sich in politische Themen musikalisch einzumischen!
Denn wie wir schon mehrmals wiederholten für die Nichtgläubigen: Kunst und Musik ist politisch und dass von Claudio Monteverdi (1567-1643) über Johannes Brahms (1833-1897) bis Berio & Co. Aber man muss auch den Mut haben es zu sehen und zu hören…