Oldenburg, Staatstheater, HOFFMANNS ERZÄHLUNGEN - J. Offenbach, IOCO

30. Mai 2025
„Die Muse wird dein Leid lindern!“
Souvenirs aus Luthers Weinkeller
Jacques Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ am Oldenburgischen Staatstheater
Vorab
Mit 3 ¼ Stunden Dauer ist man in Oldenburg am oberen Ende der Aufführungsdauer, eine enorme Strapaze für alle Beteiligten (vor allem die Protagonisten) und eine in weiten Teilen beeindruckende und bildmächtige Anlage mit großen Stimmen und stringenter Erzählweise.
Zu den herausragenden Pluspunkten von Inszenierung und Musik gehören der satirisch-gebrochene Olympia-Akt, die berührende Ensembleleistung im Antonia-Akt und die große Final-Apotheose mit Septett und Chor sowie dem sich anschließenden Duett Hoffmann/Muse, das weitgehend den Rahmenakt in Luthers Weinkeller ersetzt.
Ein „Hoffmann“, der einlädt zum kritischen Diskurs über das Frauenbild des 19. Jahrhunderts (und über unser heutiges?), der die Frage nach Sinngebung durch den konsequenten Weg zur Kunst stellt und der uns auffordert, uns zu bekennen zu einem Weg, der uns und unseren Leidenschaften und inneren Wurzeln bestimmt sein mag.
Ein Abend voller Überraschungen und aufwühlender Begebenheiten, die ein zutiefst romantisches Opus in die Jetztzeit überführt mit gelungen Querverweisen ins 21. Jahrhundert! So kann Oper entstaubt werden und gelingen.
Hintergrund
„Der Dichter spricht…“ möchte man mit Robert Schumanns Worten zu seiner letzten „Kinderszene“ sagen, denn das Libretto zur einzigen „echten“ Oper von Jacques Offenbach basiert auf Werken des deutschen Romantikers E. T. A. Hoffmann. Vielleicht ist die Wahl von Sujet und Erzählweise sowie die gesamte Anlage des Werkes als Opus für eine Oper auch deshalb eine Hommage an den Multi-Künstler Hoffmann, da dieser ja nicht nur als Dichter unterwegs war, sondern auch komponierte; und das gar nicht mal schlecht! Ausgebildet als Komponist und Musiker war er u.a. als Musikdirektor in Bamberg aktiv. Er schuf noch vor Lortzing und Dvorak seine „Undine“ (1816), uraufgeführt immerhin durch Carl Maria von Weber. Darüber hinaus entstanden zahlreiche weitere Bühnenwerke und bedeutsame Schöpfungen für die Sinfonik, die Kammermusik und die Kirchenmusik (Motetten, Messe, Requiem).

Die Librettisten von Offenbachs „Hoffmanns Erzählungen“ Jules Barbier und Michel Carré dachten an ein Werk fürs Sprechtheater, weshalb der Komponist selbst auch als mitgestaltender Partner in das Libretto-Trio eintrat. Den Ur-Autoren schwebte stets ein Werk vor, das die Lebens- und Liebeswelt des großen E. T. A. schildern sollte. Sie adaptierten aus dem bekannten „Sandmann“ (1816) für den Olympia-Akt, aus dem „Rat Krespel“ (1818) für den Antonia-Akt und endlich aus „Die Geschichte vom verlorenen Spiegelbild“ (1814) für den Giulietta-Akt. Die beiden Rahmengeschichten bleiben ohne literarischen Vorläufer. Durch Akttrennung bleiben die heterogenen Episoden aus der Vita in sich unberührt und als Solitäre bestehen. Da mag der eine oder andere Opernkenner an Puccinis „Trittico“ denken.
Hoffmann & Hoffmann
Das Bild des frühromantischen Künstlers als eines des an sich und der Welt leidenden Träumers, der beständig zwischen Realität und Fantasie zerrissen ist, kommt zwei Generationen nach des Dichters Leben als Opernfigur auf die Bühne. E.T.A. Hoffmanns eigene Sicht auf die Entmenschlichung durch Technik (Industrielle Revolution) wird im Olympia-Akt deutlich. Seine unglückliche Liebschaft zur Sängerin Julia Marc wird im Antonia-Akt lebendig. Hoffmanns exzessives Leben mit Affären, übermäßigem Alkoholkonsum und zunehmender Entfremdung leuchtet im Giulietta-Akt auf. Stella hingegen ist das Künstler-Ideal schlechthin, die Summe aller drei vorangegangenen Gestalten: Ein irreales Ideal, das der Künstler selbst als unerreichbar und gefährlich beschreibt. Ein ewiger Weg ohne Erreichen des Ziels.
Wieviel von E.T.A. Hoffmann selbst im Musiktheaterwerk Offenbachs steckt, bleibt insofern nicht nur Vermutung. Manches ist da vielleicht sublimiert, ins Allgemeine gehoben. Vielleicht ist aber auch Autobiografisches geheimnisvoll verwoben. Jedenfalls finden sich beim Zusammentreffen von Musik und Geschichte allerhand vieldeutige und exemplarische Deutungen, die sich alle um das Thema der wahren Liebe ranken: Wie man sie finden möge, wie man ihrer verlustig geht, wie man in die Irre laufen kann, wie man sich in Träumen und Visionen verliert. Jede der drei großen raumfüllenden Episoden, bei denen eine Liebschaft des Dichters im Zentrum steht, wird ergänzt durch einen Widersacher, der das glückvolle Ende der Liebenden zu zerstören weiß. Dauerhafter Begleiter an Hoffmanns Seite ist die Muse in Gestalt von Niklas (Nicklausse), welche dem suchenden und nie ans Ende einer glücklichen Liebe gelangenden Hoffmann am Ende die Aussichtslosigkeit seiner Reise vorhält, um ihm seine eigentliche Bestimmung vor Augen zu führen: Sein Künstlertum, dem er all seine Liebe widmen möge.

Vier Frauenfiguren oder eine?
Der künstlerische Kniff von Offenbach liegt in dem Umstand, dass alle vier Frauengestalten, alle vier Widersacher und auch einige der Nebenrollen von ein und derselben Interpretin bzw. desselben Interpreten dargestellt und gesungen werden können, was aber nicht zwingend ist. So sollen die verschiedenen Ausprägungen der weiblichen Charaktere als Varianten und Momentaufnahmen einer Person erscheinen. Hoffmann sieht, was er sehen möchte; das wird am deutlichsten im Olympia-Akt. Wie ein Prisma wenden und winden sich die Interpreten in immer neuen Wesensarten und Persönlichkeiten.
Recht eigentlich sind sie einander aber nur Alter Egos, die neue Ausprägungen einer einzigen Person darstellen. Projektionen Hoffmanns als Inkarnation seiner Sehnsüchte! Auch wenn Hoffmann im Weinkeller zu Beginn Anderes behaupten mag! Wieviele Varianten unserer selbst mögen in uns stecken? Das frage man sich am Ende der Oper. Oder, um mit Richard David Precht zu fragen: „Wer bin ich? – Und wenn ja, wieviele?“
Diese Idee der Personalunion von einer Sängerin für alle drei (völlig unterschiedlichen musikalischen und technischen) Herausforderungen war lange Zeit für Inszenierungen gesetzt und hat ja auch durchaus etwas Einnehmendes. Indes heute weiß man, dass Offenbach ursprünglich wohl vier Individuen mit verschiedenen Stimmen plante.
Der Reiz der monochromen Besetzung bleibt aber spannend, vor allem wenn man über eine sängerische Persönlichkeit verfügt, die das Koloraturfach einer Olympia ebenso bedienen kann wie den lyrischen Sopran der Antonia und den dramatischen Mezzo der Giulietta. Die Vierte im Bunde, Stella, hat ja nur einen überschaubaren Auftritt in den Rahmenteilen des Werkes.
Man erinnere sich bei dieser „Tour de Force“ an Joan Sutherland, Edita Gruberovà, Cheryl Studer (in der Verfilmung mit Placido Domingo) und manch andere Heroine, welche die prestigeträchtige Chance sich nicht entgehen ließen. Auch in der bis heute gewinnenden Verfilmung der Komischen Oper (DEFA 1970 unter der Regie des großen Walter Felsenstein und mit Rolf Reuter am Pult) singt Melitta Muszely alle vier Rollen. In den 70ern gab es mit Anneliese Rothenberger, Julia Varady und Edith Mathis mehrere westdeutsche Opernaufzeichnungen und Bühnenproduktionen fürs ZDF und den BR. Solche TV-Wiedergaben gab es bislang von der Wiener Staatsoper, der Hamburger Staatsoper, der Deutschen Oper Berlin (Götz Friedrich) und dem Züricher Opernhaus. Man merkt die kolossale Wirkung und Bildmächtigkeit von Stoff, Geschichte und Musik, die man offensichtlich auch für breitere Massen für konsumierbar hielt.
Offenbachs Schwanengesang
Das Werk Offenbachs als sein „opus ultimum“ ist sein erster und einziger Versuch, eine durchkomponierte Oper im großen Stil zu schreiben. Und der Wurf ist ihm wohl gelungen, wenn er auch als Torso der Nachwelt erhalten blieb. Offenbach starb vier Monate vor der geplanten Uraufführung. Struktur, Orchestrierung und musikalisches Material blieben so in Teilen ebenso im Dunkel wie die Behandlung einiger tragender Rollen (gerade im Finale).
Denn weder blieb am Ende klar ersichtlich, wie die Akte zu ordnen sein mögen, noch konnte man im Epilog der Rahmengeschichte auf ausreichend Skizziertes (starke Lücken im Giulietta-Akt) zurückgreifen. So blieb den „Erzählungen“ lange ein ähnliches Schicksal zugewiesen, wie es Puccinis „Turandot“ oder Bergs „Lulu“ ebenfalls ereilte. Borodins „Fürst Igor“ ist ebenso hinzuzurechnen wie Debussys „La Chute de la maison Usher“ oder Schönbergs „Moses und Aron“. Nicht immer war es der Tod, sondern bisweilen auch der Abbruch des Schaffensprozesses, der solche Torsi entstehen ließ. Stets gab und gibt es aber engagierte Nachschöpfende, die sich diesen „Unvollendeten“ widmen.

Verschiedene Rekonstruktionen und Neufassungen im Geiste Offenbachs, die auf wiedergefundenen Manuskripten des Meisters basieren, versuchen in neuerer Zeit, das Puzzle griffig zu ordnen und zu ergänzen. Die Vielfalt an Möglichkeiten, Konzepten und Deutungen kommt zu höchst unterschiedlichen Ergebnissen, was bisweilen die Rezeption durch den Hörer zwar herausfordert aber auch durchaus bereichern kann. Heute weiß man deutlich mehr als in der Rezeptionsgeschichte bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, und dennoch bleibt es bei den „Erzählungen“ stets eine Herausforderung, sich für Varianten zu entscheiden, Stücke auszuwählen oder fallen zu lassen. Häufig sind mit der Auswahl auch schon Winke für die szenische Konzeption verbunden. Manches, was einem auf die Stringenz und Glaubwürdigkeit einer Handlung bedachten Zuschauer merkwürdig erscheinen mag, bleibt im Vagen oder Dunkelfeld: Etwa stirbt, überlebt, flieht Giulietta?
Entscheidungen an der Hunte
In Oldenburg entscheidet man sich für die Rezitativ-Fassung mit Vollendungen von Ernest Guiraud, der – man erinnere sich – wenige Jahre zuvor schon Bizets Carmen posthum einen ähnlich durchkomponierten Anstrich gab. Man spürt, dass das beginnende „Fin de Siècle“ möglichst keine gesprochenen Worte mehr auf der Opernbühne wollte. Das durchkomponierte Epos erhielt den Vorzug vor den immer weiter ins Abseits gedrängten Nummernopern.
Im Großen und Ganzen übernimmt man die zwischenzeitlich geläufigen Erkenntnisse der Opern-Rekonstrukteure Michael Kay (1992) und Jean-Christophe Keck (ab 2000), die man in Oldenburg um den ein oder anderen Gewinn aus dem Anhang des Gesamtmaterials erweitert. Kay & Keck hatten neue Manuskripte und Fragmente zur Verfügung und waren bestrebt, die ursprüngliche Konzeption zu rekonstruieren.
Weit im Vorfeld vor den ersten szenischen und musikalischen Proben liegen solche Auswahl-Entscheidungen, da es eben die letzte, finale, endgültige Fassung nicht gibt, nicht geben kann. Der in Oldenburg für die musikalische Konzeption verantwortliche Dirigent, der die Entscheidungen (sicherlich gemeinsam mit der Regisseurin Angela Denoke) traf, ist Vito Cristofaro. So gibt es die Urfassung von Dapertuttos „Répands tes feux dans l´air“, eine finale Apotheose (gewissermaßen als verspätetes „Credo“ des gesamten Werkes) im 4. Akt, wo alle, auch die ehedem Gestorbenen, nochmals die Bühne bevölkern. Die berühmte „Barcarole“, die Offenbach aus seinen (heute unbekannten) „Rheintöchtern“ entlieh, gibt es gleich zweimal, um die Bedeutung der Muse/Nicklausse für Hoffmann zu unterstreichen.
Man darf manches genießen und wohlig inhalieren bei diesem Oldenburger „Hoffmann“; dazu gehört vor allem der phänomenale Ende mit der Septett-Apotheose, großem Ensemble und sich anschließendem Duett Hoffmann/Muse, das der Oper einen innigen und versöhnlichen Schlusspunkt verleiht. Wie überhaupt die immer wieder vom Prolog bis ins Finale erfolgende Konzentration auf Muse und Hoffmann, die recht eigentlichen (weil realen) Protagonisten der Inszenierung bzw. der gewählten Anlage des Werkes, von hohem Nutzen und nachhaltiger Wirkung ist.
Man darf aber auch gehörig fremdeln mit der Guiraud-Fassung, welche die einst gesprochenen Dialoge über alle Maßen zerdehnt. Nicht zuletzt diesem Umstand verdankt der Oldenburger „Hoffmann“ seine Dauer von weit über drei Stunden. Bisweilen stagniert vor allem im Antonia-Akt, vor allem aber auch im zähflüssigen Prolog bei Luther die Handlung enorm.
Gewiss: Guirauds Musik legt sich kompositorisch eng an Offenbach an; kaum registriert man Brüche zum Vorangegangenen und Folgenden. Und doch klebt die Handlung hier bisweilen fest. Man hangelt sich von einem Offenbach zum nächsten und nimmt dazwischen einen gewissen musikalischen, vor allem aber die Handlung retardierenden Eindruck war.

Und auch bei Bizets „Carmen“ hatte Guiraud ja, dem Zeitgeschmack nach „Grande Opera“ huldigend, mit Accompagnato-Rezitativen „nachgeholfen“. Dort bei Bizet allerdings durchaus weniger langatmig und deutlich zielgerichteter. Was bei „Carmen“ überzeugend funktionierte, lässt „Hoffmann“ häufig matter erscheinen.
Man merkt bei all diesen Entscheidungen, den Weggabelungen, an denen sich die mit der dramaturgischen Anlage Befassten befinden, wie stark solche Entschlüsse dann eben in die Regie und auch in den musikalischen Gesamteindruck eingreifen. Das Hybride bleibt bei den „Erzählungen“ Programm! Die Wandelbarkeit des Opus bleibt eines seiner Markenzeichen bis heute, mit denen es auch aktuell punkten kann und es spannend belässt für Interpreten und Auditorium.
Hoffmann ins 21. Jahrhundert gehieft
Die Bühne von Susana Mendoza ist ein Coup. Das Einheitsbühnenbild mit zwei im Hintergrund schiefen Ebenen dient als Folie für die drei Traumbilder der „Phantastischen Oper“, wie Offenbach diese Traumreise ja betitelte. Eine große runde Aussparung dort gibt Raum für Einzelauftritte und lenkt den Fokus auf Zentrales: Olympias „Monroe“-Auftritt, den üppigen Vollmond des obskuren nächtlichen Antonia-Aktes und die lasziv-mondäne Halbwelt eines Etablissements des venezianischen Rotlichtviertels im Giulietta-Akt. An die Stelle der Showtreppe, die ebenfalls ein enormer Zugewinn für die Szene ist, rücken nach der Pause in das mondbeschienene Haus der Antonia stilisierte Bäume. Zeichen für die Öffnung in die Weite der Natur, Wege in eine Selbstbestimmung mit tödlichem Ausgang. Das Ganze wird mit wenigem aber treffsicherem Mobiliar und einigen Requisiten ergänzt. Einige Elemente werden aktübergreifend genutzt wie etwa ein rollbarer und begehbarer Spiegel-Kubus, der Antonia später als Liegestatt dient und Hoffmann am Ende sein verlorenes Spiegelbild zeigt. Nichts Überflüssiges belastet die Bühne. Eine Bühne, die bisweilen (vor allem im Olympia-Akt und im Finale) unter Personal ächzt. An Lautstärke mangelt es dann bis weit in die Ränge nicht.
Die Kostüme bedienen Erwartbares in allen Akten. Sie sind mit Liebe und Hingabe fürs Detail hergestellt (Damen im Olympia-Akt). Die Zeichnung der vier Frauengestalten ist da ebenso zielsicher wie die stets neue Gewandung des Satans in vier Gestalten. Wie man Nathaniel in dermaßen kurzer Zeit so umfänglich verändert zu Spalanzani ummaskieren kann, bleibt ein Geheimnis von Maske und Kostüm!
Die Inszenierung, wir erwähnten es bereits, kann die Figuren treffsicher zeichnen und führen. Alle drei Frauen - die vierte, Stella, wird gekonnt choreografiert von einer Ballett-Tänzerin (Eleonora Fabrizi) sind Abziehbilder eines phantasierenden Hirns, einer männlichen Fantasie, einer stark machistisch geprägten Vorstellungswelt. Olympia ist eine Mischung aus Marilyn und Barbie (in rosa Outfit, blonder Perücke und Deko-Schleife am Allerwertesten). Sie ist wie ein Bonbon, das man mit Wohlwollen betrachtet, bevor man es öffnet. Antonia mit blauem Flatterkleid wirkt wie eine somnambule Schwindsüchtige, die in ihrem ganzen Sein wirkt, als habe man ihr das Schicksal der am eigenen Gesang verendeten Mutter als Kainsmal auf den ganzen Körper tätowiert. Die in der erotischen Halbwelt angesiedelte Giulietta, gleichermaßen Spielball von Dapertutto wie berechnend Handelnde im Kontext ihrer „Kundschaft“, ist in einen dunklen Anzug mit rot glitzerndem Netzüberwurf verpackt, das die Männer wie Fische fängt, um ihnen dann wahlweise Schatten oder Spiegelbild im Auftrag des Bösen zu rauben.
Von Brillen, rollenden Betten und Diamanten
Freiheit (Olympia), Selbstbestimmung (Antonia) und Liebe (Giulietta) sind die Triebfedern der drei Phantasiegestalten aus Hoffmanns (krankem) Hirn, die alle Aspekte der Einen, seiner zu Beginn angebeteten Stella markieren. Vier Frauen in einer, vier Lebenspläne, die sich von Hoffmann unabhängig entwickeln und emanzipieren. Dieser Regieansatz ist ungewöhnlich, aber in einer Zeit zunehmender feministischer Deutungsansätze von Opernlibretti durchaus nachvollziehbar.
Ihre häufig von Männern oder dem Establishment angelegten Ketten wissen alle drei „Traum“-Frauen auf ihre Weise abzulegen. Zuvor hatte sie noch brav alle Erwartungen an sie als naives Blondchen, als sexistische Vorstellungen bedienendes Dummchen, das man aufziehen kann wie eine Maschine, bedient. Nach und nach weist sie die Männerschaft ab, zunächst durch Wegstoßen, endlich durch Tritte ins Gemächt. Olympia entledigt sich schließlich dann im von Offenbach im Wortsinn überdrehten Finale des 2. Akts ihrer Fesseln (ärmellange Handschuhe und monströse Deko-Schleife am Kleid) als Zeichen der Loslösung von optischen und akustischen Erwartungen an sie. Erwartungen, die das Püppchen auch nur erfüllen kann, wenn man sie durch die rosarote Brille wahrnimmt. Alles Show! Und bei dieser suffragettischen Emanzipation nimmt sie in einer Welle gleich die gesamte weibliche Belegschaft der Bühne mit.
Antonia versucht lange Zeit, den egoistischen Erwartungen ihres Liebsten und den angstvollen Bitten des wissenden Vaters zu folgen. Der verführerischen Stimme des Dr. Mirakel, der schon ihre Mutter in den Tod trieb (und sie jetzt in der Deutung von Angela Denoke wohl im Jenseits noch zu kontrollieren vermag), dieser Mirakel befördert ihre Sehnsucht nach dem Gesang und ihrem Weg in ein selbstbestimmtes Sein. Das Ende ihres Schicksals mit tödlichem Ausgang mag man schon an ihrer Schlafstatt erkennen. Anstelle eines fixierten Bettes gibt es eine mobile Einheit auf Rädern, die wie eine Mischung aus Krankenhausbett und Seziertisch aus der Rechtsmedizin à la „Prof. Boerne“ wirkt. Die im Todeswalzer zusätzlich erklingende Stimme der Mutter im himmlisch-schönen Terzett der Drei „ Pour conjurer le danger“ gibt ihr den Rest: Sie stirbt in den Armen des Vaters, der sie dem Geliebten zuschiebt. Hoffmann hat Schuld!
Giuglietta ist recht eigentlich auf der Suche nach Liebe; vielleicht wie viele, die im horizontalen Gewerbe gleich auf welcher Stufe sich verdingen. Sie ist abhängig von ihrer „Schutzfigur“ Dapertutto, kein Zuhälter üblichen Zuschnitts, sondern zynisch-berechnender und fordernder, indem er ihr die waghalsigsten Aufgaben zukommen lässt. Er ist ein Machtmensch, der sein weibliches Werkzeug mit Diamanten verführt und erpresst und wortwörtlich über Leichen geht. An seinem Revers hängen gewiss nicht wenige Schatten und Spiegelbilder, mit denen er sich schmückt. Die Spielräume für eine tiefere Charakterisierung der Kurtisane bleiben schmal, da dieser Akt insgesamt spartanischer in seinen Abmessungen ist. Immerhin kann Giulietta vor ihrem Abgang Hoffmann noch verkünden, warum sie ihn ins Verderben stürzte: Seine kategorische Ablehnung, sich in eine wie sie verlieben zu können und zu wollen, hat ihm das Genick gebrochen!
Alle diese Deutungen durch die Regie kommen nicht moralinsauer oder mit erhobenem, feministischem Zeigefinger daher, sondern entwickeln sich schleichend, fast zögernd, als zeige sich erst in den Gesprächen mit den (zahlreichen) sie umgebenden Männern, wie sich die Wege raus aus der Show (Olympia), der Enge (Antonia) und der Isolation (Giulietta) darstellen könnten. Hoffmann wird da bisweilen zur Randfigur, zum Zuschauer wider Willen.
Zur Hauptperson seiner selbst wird er in all den (realen) Anteilen der Oper, wo er im Zwiegespräch mit „seiner“ Muse ist. Da ist er ganz bei sich. Da ist er ganz für sich. Diese sehr häufig sehr innigen Szenen gehören zu den unbestrittenen emotionalen, weil tatsächlichen Höhepunkten des Abends. Und sie markieren auch die zarten, leisen Töne, die eine Glanzleistung der Interpreten, aber auch der Regie bedeuten. Sie alle, diese Szenen voller Echtheit und Zugewandtheit, mögen uns fragen lassen, warum Hoffmann nicht viel eher, viel klarer sich für den Weg zur Kunst entschieden hat. Immerhin: Das Ende erlöst ihn und uns mit dem Bekenntnis „Die Muse wird dein Leid lindern!“
Der so treffsicheren wie zeitgemäßen, aber nie politisierenden Inszenierung steht die stimmungsvolle Lichtregie (Arne Waldl) in nichts nach. Sie weiß, den immer gleichen Einheitsbühnenraum in immer neue Farben und Stimmungen zu überführen. Ein „Hoffmann“, der trotz immenser Dauer am Ende enorm Fahrt aufnimmt, nachdem er anfangs breit und behäbig begonnen hatte. Denoka und Mendoza schaffen für ihre singenden, tanzenden und spielenden Kolleginnen und Kollegen die adäquaten Räume und einen tragfähigen Deutungsboden, der Bestand hat über den Abend hinaus.
Muse und Meister
Natürlich stehen bei Offenbach wie in jedem „Hoffmann“ die Protagonistinnen und ihr Träumer im Mittelpunkt. Sie sind es, die dem Werk den Wind einhauchen, der das Segelschiff eines langen Opernabends zur Fahrt ermuntert.
Und hier gibt es keinerlei Ausfälle. Ein in sich ruhendes und mit sich einverstandenes Ensemble kann als solches glänzen. Jede und jeder nimmt sich als Rädchen im Getriebe einer die Handlung treibenden Aktion wahr.
Im Mittelpunkt stehen aber Hoffmann und seine Liebe, die Muse, die sich als Nicklausse in die Traumszenen mischt. Diese beiden bilden den Hauptnenner aller Sequenzen. Sie beginnen und beenden den Abend. Und wer, mindestens stimmlich, die zahlreichen Duette und Dialoge der Beiden über den Abend verfolgt, mag sich immer wieder fragen, wie begriffsstutzig dieser Hoffmann ist. Warum Olympia, Antonia und Giulietta, von der stummen Stella zu schweigen, wenn man solch eine Muse sein Eigen nennen darf?
„Dichter, gib dein Herz!“
Die Stimme von Dorothee Bienert ist umwerfend. Ihr heller Mezzo bedient alle Register mit großer Souveränität. Ihr Timbre allein wäre eine Verlockung für den Titelhelden. Wärme und ausdrucksstarke Diktion, deutliche Aussprache und beredtes Spiel ohne Allüren zeichnen ihre Muse/Nicklausse aus, wobei sie viel häufiger als Muse denn als Nicklausse wirkt, Hosenrolle hin oder her. Bisweilen steht sie einfach nur da, aber nie verloren, immer ihm, dem Künstler, zugewandt, um ihn mit dem Blick und der Stimme zu fokussieren. Selbst in Momenten ohne partiturbedingte Aufgabe ist sie als Bühnenfigur präsent. Bravo!
Die Stimme des erfahrenen und zu Recht beliebten Jason Kim zu würdigen, hieße Eulen nach Athen tragen. Er steht drei Stunden auf der Bühne, ohne irgendwelche stimmlichen Einbußen zu zeigen. Sein Hoffmann ist stimmlich nie ein Protz, sondern immer ein Leidender, ein Suchender, ein Klagender, bisweilen auch ein Zyniker (Kleinzack-Lied). Im Dialog mit den drei Phantasiefrauen ist er mal devot, mal fordernd, mal flehend. Oft sieht er das Drama unerfüllter Liebe bereits kommen, dann ist er nur Statist, der die Szene flieht (Olympia), der den Verlust betrauert (Antonia) oder völlig verstört die Flucht antritt (Giulietta).
Jason Kims Tenor kann sich zu heldischer Höhe aufschwingen, ohne je metallisch zu klingen. Er bedient aber auch das französisch-sanfte, pastellfarbene der Partitur aufs Beste, etwa in den bereits herausgehobenen Duetten mit der Muse.
Sein Spiel ist echt und aus dem Moment entwickelt. Er versteht sich als primus inter pares und hat gerade dadurch größte Bühnenpräsenz. Bravo!
Drei Damen von Format
Die Olympia von Penelope Kendros ist die Überraschung des Abends. Was sie neben der höchst artistischen Koloraturarie (ohne nennenswerten Inhalt) an überbordender Spielfreude und ironisierenden Seitenhieben einzubringen weiß, sprengt jede Vorstellungskraft dieser Partie. Was sie, die wir in bester Erinnerung als Nachtigall in Braunfels` „Die Vögel“ haben, an stimmlichen Kapriolen erneut bietet, ist phänomenal. Das riskante Spiel mit dem szenischen Feuer führt bisweilen zu (gezielt?) verunglückten Spitzentönen, die dem maschinellen Spiel mit Szene und Mannsbildern die Krone aufsetzen. Ihre Monroe Barbie wird legendär bleiben!
Eine Entdeckung des Abends ist die Antonia von Tetiana Miyus, die als Gast eine hinreißende Tochter, Geliebte und vom Mirakel Verführte gab. Alleine diese stimmliche, herzzerreißende, innige Textura auf dem rollenden OP-Tisch absolvieren zu müssen, nötigt Respekt ab. Die Weichheit ihres Soprans, ihre warme, tragfähige Stimme, die sie mit stupender Legatotechnik zu führen weiß, berühren enorm. Szenisch kann sie glaubhaft die Zerrissenheit zwischen sich und den gleich drei Männern, die sie beständig umschwirren und verbal betäuben, darstellen. Den Gehorsam gegenüber dem Vater (sonor und einnehmend: Irakli Atanelishvili), das Ausgeliefertsein gegenüber Mirakel und die Verzweiflung über den Liebesweg mit Hoffmann spielt sie hinreißend und einnehmend. Dass sie letztlich den Klängen der mütterlichen Stimme erliegt (betörend und verführerisch aus der Höhe präsent: Marija Jokovic), ist die besondere Fatalität dieser Episode. Kunst killt!
Das Terzett von Antonia, Mirakel und Mutter gehört zu den unbestrittenen Höhepunkten des Abends. Da ziehen zwei Figuren an dem jungen Menschen und zerreißen ihn. Tragisch!
Die Giulietta von Adréana Kraschewski ist eine Augenweide und ein Ohrenschmaus. Die Mischung aus starker Kurtisane und höriger Frau aus der Halbwelt spielt sie mit allen Facetten. Ihr dramatischer Sopran kann die Szene einnehmen, ihre Bühnenerscheinung schwankt zwischen selbstbewusst und resignativ. Am Ende mischen sich Vorwurf und Abweisung, ja fast Spott in ihr Spiel und ihre Stimme, wenn sie Hoffmann, der nun ohne Spiegelbild ist, seine moralische Untugend vorwirft. Er hätte ihre Liebe gewinnen können; aber sein (Vor)Urteil hat es verhindert. So hat er sie erneut in die Hände des Dapertutto getrieben. Der Giulietta-Akt bietet der Kraschewski nicht annähernd so viel sängerischen Spielraum wie er es bei den Kolleginnen tut. Die Räume, die sich bieten, nutzt sie aber konsequent.
„Vade retro Satana!“
Ein letztes Wort dem, der als Bösewicht die drei Stunden kräftezehrend zu füllen hat: Seungweon Lee mit rabenschwarzem Bassbariton kann alle szenischen, vor allem aber alle stimmlichen Anforderungen an die Rolle der vier Mephistos erfüllen. Und das, obwohl er als indisponiert angekündigt wurde.
Er stellt sein stimmgewaltiges und farblich durchaus verschieden sich wandelndes Organ in den Dienst der jeweiligen Szene. Mit einem durchaus facettenreichen Spiel kann er dem satanischen Quartett bitterböse Persönlichkeiten abtrotzen. Wir erinnern uns noch gerne an seinen Samiel zu Beginn der Spielzeit.
Sein Lindorf ist (naturgemäß) noch blass und defensiv. Sein Coppelius ist verschlagen und ein moderner Jahrmarktsschreier, der die Menschen um den Finger wickeln kann. Sein Dr. Mirakel schwingt sich zum Herrn über Leben und Tod auf, der eine fast triebverbrecherische Ader in sich spürt, den Menschen den Tod zu bringen. Man erinnert sich in Oldenburg hier vielleicht an einen jüngsten Serienmörder. Und sein Dapertutto endlich ist die Inkarnation von Lasterhaftigkeit, Berechnung und Gnadenlosigkeit, der mit Gewalt und Druck seinen Zielen zum Erfolg verhilft.
Wer mag, darf sich hier gerne auch einen derzeit amtierenden Präsidenten einer Weltnation vorstellen, der mit Egozentrismus und Demagogie eine westliche Demokratie zerstört. Dapertutto ist aus Trumpschem Holz geschnitzt, beleidigt und schlägt Frauen, verachtet sie gar, bereichert sich an Dritten und hetzt diese gegen sie auf in den Tod. Tatsachenverdrehung à la Trump kann auch er: „Die Frauen sind noch teuflischer als wir!“ Fake News des 19. Jahrhunderts.
Seungweon Lee gibt all diesen Unsympathen ein Gesicht, ein (Un)Wesen und eine Stimme, die von Häme (inklusive Lachen) über Hinterlist bis zu purer Gewalt reicht. Eine Leistung, die frappiert und schockiert. Bravo!
Vokale Partner
Erwähnenswert unbedingt auch die zahlreichen, die Szene sinnfällig anreichernden Nebenrollen, von denen hier der den Wischmob schwingende Pitichinaccio von Seumas Begg, der schnell zu Tode kommende Schlemihl von Arthur Bruce und der gerissen spielende und viril singende Spalanzani durch Johannes Leander Maas genannt seien.
Der um den Extrachor (Einstudierung: Felix Schauren) erweiterte Opernchor des Staatstheaters unter der Leitung von Thomas Boenisch ist eine fulminante Verstärkung von Szene und Partitur, wobei vor allem die Männer allerhand Singens- und Sehenswertes zu bieten haben. In der Apotheose mit fettestem Gesang und Orchester hofft man, dass der Putz nicht von der Decke rieselt und der Kronleuchter heil bleibt.
Nachrichten aus dem Graben
Das Oldenburgische Staatsorchester spielt einen Offenbach, der das Operettenhafte des Olympia-Aktes ebenso zu würdigen weiß, wie es umgekehrt den lyrischen Anteilen des Antonia-Aktes und der Dramatik des Giulietta-Aktes zu ihrem Recht verhilft. Schöne Einzelleistungen von Oboe, Klarinette, Horn, den Posaunen (fürs Jüngste Gericht), französisch inspiriertes, virtuoses Harfensolo und ein Intermezzo der Streicher-Stimmführer sind zu vermerken. Insgesamt aber besticht die Ensembleleistung durch flüssige Tempi, klar akzentuierte Rhythmen und präzises Zusammenspiel, wenn man von den wenigen Wacklern zwischen Chor und Graben absieht.
Das alles ist auch dem Dirigat des noch jungen Eric Staiger zu danken, der als 2. Kapellmeister seit Spielzeitbeginn am Haus ist. Er führt mit sicherer Hand, klaren Zeichen, behutsamer Gestik durch den Abend. Sein Offenbach ist jenseits des Olympia-Aktes deutlich mehr „Grand Opéra“ und weniger Operette. Das Hymnische des Schlusses genießt er mit allen Beteiligten ebenso, wie er dem finalen Bekenntnis von Muse und Hoffmann den nötigen Atem gibt, der die Oper beredt aushauchen lässt. Bravi!
Epilog I
Wenn man vom quälend langwierigen Anfang absieht, sonnt sich dieser „Hoffmann“ im interpretatorischen Glück durch Inszenierung und musikalische Realisierung. Getragen indes wird der lange Abend durch fünf Sängerdarsteller, die allesamt stimmliche Höchstleistungen bieten und darstellerische Juwelen sind. Dagegen ist Dapertuttos Diamant purer Modeschmuck! Es empfiehlt sich, die noch aktuelle Besetzung in den letzten Vorstellungen zu erleben, oder aber zu hoffen, dass die Wiederaufnahme keine Besetzungsänderungen vornimmt. Bravi gab´s im Verlauf und am Ende zu Hauf.
Hier ist mit einer burlesken Komödie, einem intimen Kammerspiel und einer dramatischen Mordszene ein ganz eigener, französisch durchhauchter „Trittico“ entstanden. Unbedingt hingehen!
Epilog II
Opernhäuser neigen wohl dazu, in regelmäßigen Abständen abzubrennen. Auch das Oldenburger Haus hatte ja da zu Beginn des 19. Jahrhunderts Trübseliges zu berichten.
1881 wurde „Hoffmann“ posthum an der Pariser Opéra Comique uraufgeführt. Während der Deutschen Erstaufführung im Wiener Ringtheater 1888 brannte das Haus ab und nahezu alle Besucher kamen ums Leben. Dieses Menetekel führte dazu, dass sich diesseits des Rheins lange kein Haus mehr fand, das sich dem Werk widmen wollte. In der Nazizeit wurde Offenbach wegen seiner jüdischen Vergangenheit verboten. In den 70er Jahren startete dann eine Renaissance des Werkes. Als dann noch zwischen 1970 und 1984 insgesamt weit über 1500 Manuskriptseiten in Archiven gefunden wurden, begann eine neue Zukunft mit einem neuen „Hoffmann“. Eine Wiederauferstehung in neuem Gewand, die bis heute anhält.
Über viele dieser Zusammenhänge informiert man das Publikum zuvor durch die dramaturgische Abteilung. Und mit einem liebenswert hergestellten Glossar der enormen Personnage („Who is who?“) wartet das von Antje Müller erstellte Programmheft auf. Lesenswert und erhellend!