Mannheim, Rosengarten, 7. AKADEMIEKONZERT – Roberto Rizzi Brignoli, IOCO
Die Mezzosopranistin Gerhild Romberger findet mit warmer, inniger Stimme für den leidvollen Weg des Einsamen gedeckte, melancholische Farben.

von Uschi Reifenberg
7. Akademiekonzert der Musikalischen Akademie des Nationaltheater-Orchesters Mannheim am 26.05.25 im Rosengarten
GMD Roberto Rizzi Brignoli, Dirigent
Johannes Brahms (1833-1897) Alt-Rhapsodie op. 53
Gerhild Romberger, Mezzosopran
Franz Liszt (1811-1886) Eine Faust-Sinfonie in drei Charakterbildern:
I. Faust: Lento assai
II. Gretchen: Andante soave
III. Mephisto: Allegro vivace, ironico
Christopher Diffey, Tenor.
Ragna Pitoll, Sprecherin
Herrenchor des NTM Nationaltheater Orchester
Drei Seelen in einer Brust
Kaum ein Musikschaffender der romantischen Epoche des 19. Jahrhunderts, der sich von ihm nicht hätte inspirieren lassen, oder seine Texte vertont hätte: Johann Wolfgang Goethe, dichterisches Zentralgestirn, auf den sich nicht nur Johannes Brahms und Franz Liszt bezogen, auch Komponisten wie Beethoven, Schubert, Schumann, Mahler, Strauss bis hin zu Webern und Wolfgang Rihm (Harzreise, 2012) beeinflusste das Universalgenie in ihren kompositorischen Auseinandersetzungen und Entwicklungen. Die Musikalische Akademie zeigte nun im 7. Akademiekonzert in einem anspruchsvollen literarisch inspirierten Programm erhellende Verbindungen zwischen Brahms' „Alt-Rhapsodie“ und Liszts „Eine Faust- Sinfonie in drei Charakterbildern“, basierend auf Goethes, der „Harzreise im Winter“ und „Faust“, dem Drama der Deutschen Kulturgeschichte schlechthin. Im Vorgespräch zum Konzert plauderten Opernintendant Albrecht Puhlmann und Schauspielerin Ragna Pitoll über Brahms, Liszt, ihre Beziehung zu Goethes Texten und über Zeit für Gefühle. Ragna Pitoll las vor Konzertbeginn ausdrucksstark, mit musikalischem und lebendigem Rezitationston Auszüge aus Goethes „Trilogie der Leidenschaft“, die Reflexionen über Leiderfahrungen und deren Überwindung thematisieren und leitete nahtlos zur „Alt-Rhapsodie“ von Brahms über. Ein ernstes Werk ist die Brahms’sche Komposition von 1869, voller Tragik, Weltabkehr und Überdruss an der Menschheit, gibt am Ende aber auch Hoffnung auf Trost. Brahms wählte aus Goethes „Harzreise im Winter“ die Strophen 5-7, die seiner damaligen Seelenlage entsprachen und in Goethes Natur- und Seelenreise von 1777 ihre innerste Entsprechung fand. Zeilen, die von Einsamkeit und Ausgeschlossensein künden, Schilderungen frostiger Natur, die den Aufbruch des Menschen in die innere Emigration beschreiben, vielleicht die Suche des Künstlers nach Antworten. Die Harzreise als Metapher, die Besteigung des Brockens vielleicht als Gipfelpunkt schwer erreichbarer höchster Lebensziele. Anlass war die Hochzeit von Robert und Clara Schumanns Tochter Julie, in die Brahms heimlich verliebt war und der er als Brautgeschenk seine „Alt-Rhapsodie“ widmete, aber „mit Ingrimm“ (…) „mit Zorn“. Traurige Konsequenz von Brahms' unausgesprochenem Lebensmotto: „Frei Aber Einsam“. Die Pianistin Clara Schumann schreibt: „Johannes brachte mir ein wundervolles Stück. Worte aus der „Harzreise“ für Alt, Männerchor und Orchester. Er nannte es seinen Brautgesang. Es erschütterte mich so durch den tiefsinnigen Schmerz in Wort und Musik (…). Ich kann dieses Stück nicht anders empfinden wie die Aussprache seines eigenen Seelenschmerzes. Spräche er doch einmal nur so innig in Worten“. In der dreiteilig angelegten Alt-Rhapsodie gibt GMD Roberto Rizzi Brignoli den Brahms' schen Seelenregungen sensibel und einfühlsam Raum, im Orchester-Vorspiel bewegt die tiefernste c-Moll-Weltschmerz-Stimmung. Erschütternd klingen die dissonanten Akzente, expressiv die absteigenden Linien. Die Mezzosopranistin Gerhild Romberger findet mit warmer, inniger Stimme für den leidvollen Weg des Einsamen gedeckte, melancholische Farben. Seelenvoll, mit sattem Alt und sehr eindringlich klingt „das Gras steht wieder auf“, erschütternd singt sie die „Öde verschlingt ihn“, leer, fast fragend; dennoch gerät die Textausdeutung bisweilen etwas matt. Im ariosen bewegteren Mittelteil blüht die Stimme auf, wird von den Orchesterwellen getragen, die Rizzi Brignoli mit elastischer Agogik formt, spannungsvoll bindet Romberger die weiten Intervallsprünge in die Gesangslinie ein. Wunderbar dann der Männer-Choreinsatz: „Ist auf deinem Psalter“, mit dem sich die Stimme in sakraler Andacht in zuversichtlicher C-Dur-Hoffnung verklärend verbindet: „Vater der Liebe … So erquicke sein Herz“.
Franz Liszts „Eine Faust-Sinfonie in drei Charakterbildern“ lässt schon vermuten, worum es dem Komponisten in seiner ausladenden „Sinfonischen Dichtung“ geht: Er charakterisiert die Protagonisten in drei Sätzen und entwirft jeweils ein musikalisch ausgefeiltes Psychogramm von Faust, Gretchen und Mephisto. Die Verzahnung von Dichtkunst und Musik, die Liszt mit seinen „Sinfonischen Dichtungen“ initiierte, gab der damaligen Sinfonik eine neue Richtung: ein außermusikalisches Programm, dessen innere Vorgänge und ästhetischer Gehalt von der Musik dargestellt werden sollte, führte zur „Programm-Musik“, die Bewegung der „Neudeutschen um Liszt und Wagner“ zu den sogenannten „Musikern der Zukunft“. Komponiert wurde die Faust-Sinfonie von 1854 bis 1857, als der Weltbürger und reisende Klavier-Virtuose Liszt sich in der Musik- und Literatur Stadt Weimar als Hofkapellmeister niedergelassen hatte und seine Sinfonie 1857 zur Einweihung des berühmten Goethe-Schiller Denkmals im Nationaltheater zur Aufführung brachte. Hintergrund ist Goethes „Faust“-Tragödie mit den ewig gleichen Menschheitsfragen: die Suche nach Selbst- und Welt-Erkenntnis, die Frage nach Gut und Böse, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, Gretchens (Liebes)-Tragödie, die Wette von Mephisto und Faust, die Rolle von Religion und Wissenschaft. Die Vielzahl und Komplexität der Vertonungen, Bearbeitungen oder Adaptionen von Fauststoffen bis heute lässt sich kaum aufzählen. Ein Deutsches, ein Europäisches, ein universelles Thema. Roberto Rizzi Brignoli und das fulminant aufspielende Nationaltheater Orchester geben jedem der drei Sätze ihr individuelles Gepräge, spüren den Seelenregungen der komplexen Charaktere nach und wandeln sie in suggestive romantische Klangbilder. In der fast 70 Minuten dauernden Sinfonie wird ein Kaleidoskop emotionaler Zustände dreier kontrastierender Figuren plastisch gestaltet.
Transparent, klar, mit dramatischem Impetus, feinnervigen lyrischen Passagen, innigen Solostellen, vertrackter Rhythmik und artikulatorischer Finesse. Faust, der Zerrissene, Suchende, wird von Liszt mit dem längsten Satz bedacht, erhält die meisten und variabelsten Themen, die stets variiert und neu angepasst werden, wie schon in seiner großen Klaviersonate in h-Moll. Liszt notiert minutiöse Vortragsbezeichnungen, die Abschnitte bilden eine Dramaturgie differenzierter Befindlichkeiten. Das erste Faust-Thema bildet alle zwölf Halbtöne der chromatischen Skala ab - gut 80 Jahre vor Arnold Schönbergs Klavier Suite op 25, der ersten Zwölfton-Komposition. Grüblerisch beginnt der Satz, die tiefen Streicher tasten sich fragend voran, mit einem von Pausen durchsetztem Haupt-Thema, beantwortet in gegenläufigen Linien, das im aufwühlenden, entschlossenen Allegro-Teil vom strahlenden Blech zitiert wird. Eindrücklich der Dialog zwischen Streichern im romantischen Überschwang und rhetorischen Holzbläserthemen, dem tief hinabsteigenden Fagott, oder den lang gezogenen Seufzern und Vorhalten. Stets changierend zwischen „Himmelhoch jauchzend - zu Tode betrübt“, streng, marschartig, voller Tatendrang, dann wieder, „dolce cantando“, in großer Ruhe und Abgeklärtheit entfaltet Rizzi Brignoli Grandiosität. Ganz wunderbar: Tuba, Posaunen, Trompeten. Zarte Flöten und Klarinetten führen „Andante soave“, in schönster Pianokultur in Gretchens Welt. Beseelt, in kammermusikalischer Innerlichkeit breitet sich das Thema der Solo-Oboe aus, bringt Gretchens Liebreiz und Unschuld zur Geltung. Feinsinniges Bratschenmelos, Harfenklänge, Flötenakkorde versetzen in Sphären „ganz in dem Gefühle selig“. Im Dialog zwischen Violinen und Klarinetten blüht Liebeshoffnung auf, feinsinnig balanciert, in großen Bögen. Ruhige Tempi prägen das Charakterbild, der Dirigent kostet die selige Verschmelzung der Stimmen aus „Verweile doch, du bist so schön …“.
Mephisto, „Der Geist, der stets verneint“, schmarotzt an Fausts Themenmaterial und pervertiert dieses, psychologisch verkörpert er Fausts „Alter Ego“. Als „diabolus in musica“ geistert er nicht nur mit seinen übermäßigen Quarten (Tritoni) durch die Partitur und mischt diese gehörig auf. Häufig hat sich Liszt in seinen Kompositionen der Mephisto-Figur zugewandt, in den Episoden aus „Lenaus Faust“ oder den populären Mephisto Walzern für Klavier Solo; das Diabolische übt(e) eine große Faszination aus. Allegro vivace, ironico, - der Satz ist geprägt von zerklüfteten Motiven, Intervallsprüngen, vertrackten Rhythmen, Dissonanzen. Fratzenhaft gerieren sich die thematischen Transformationen, gipfeln in einer Fuge. Rizzi Brignoli entfesselt ein Feuerwerk an orchestraler Brillanz, tänzerisch und energiegeladen. Von Pauke und Becken gewichtig bereichert, peitscht er die „Teuflischen Einflüsterungen“ in packenden Steigerungen voran. Himmlisch der Einbruch der Gretchen-Sphäre mit dem zarten Oboenthema. Die erlösende Apotheose gipfelt im Chorus Mysticus, von den Chor-Herren homogen und stimmgewaltig dargeboten. Christopher Diffeys Tenor überstrahlt emphatisch und klangschön die Schluss-Szene: „Alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis, das Unzulängliche, hier wird’s Ereignis, das Unbeschreibliche, hier ist’s getan“ und in strahlend-hymnischer Verklärung hallen auf ewig Goethes Schluss-Verse: „Das Ewig-Weibliche zieht uns hinan“.
Große Begeisterung, Jubel für ein ganz besonderes Konzert.