Mannheim, Musikalische Akademie, 8. AKADEMIEKONZERT - Ariane Matiakh, IOCO Kritik, 12.07.2023
Musikalische Akademie Mannheim
8. Akademiekonzert - Musikalische Akademie - Nationaltheater Orchester Mannheim
- Michail Glinka (1804-1857), Dmitri Schostakowitsch (1906-1975), Sergej Rachmaninow (1873-1943), Modest Mussorgski (1839-1881) -
von Uschi Reifenberg
Wenn Töne Bilder malen
Das letzte, das 8. Akademiekonzert dieser Spielzeit 2022/23 stellte vier der bedeutendsten Komponisten Russlands ins Zentrum seines Programms und mit ihnen vier ihrer populärsten Meisterwerke, die beispielhaft die Faszination russischer Musik zum Ausdruck brachten. Die ausladenden Narrative, die speziellen Farbmischungen russischer Musik, ihre Bildhaftigkeit, Folkloristik und Seelentiefe bilden einen unverzichtbaren Schwerpunkt in den Konzertprogrammen, gleichzeitig werden im jeweiligen historischen Kontext deren schicksalhafte Verflechtungen mit der politischen Wirklichkeit gespiegelt und schärfen auch den Blick für unsere aktuelle Lebenswirklichkeit.
Ausgehend von Michail Glinka als Begründer eines nationalrussischen Stils Anfang des 19. Jahrhunderts, der sich auch in seiner Orchesterfantasie „Kamarinskaya“ manifestierte, über die hochgradig politisch aufgeladenen Kompositionen Dmitri Schostakowitschs, hier mit seinem 1. Cellokonzert, waren außerdem zwei Meilensteine romantischer Tonkunst zu erleben. Die außermusikalisch inspirierten Werke „Nacht auf dem kahlen Berge“ von Modest Mussorgski und Sergej Rachmaninows „Die Toteninsel“, die bildgewaltig und unheilvoll mitten hinein in die Nachtseite der Romantik führen.
Der Konzertabend bot die Begegnung mit zwei außergewöhnlichen Künstlerinnen, der international viel gefragten französischen Dirigentin Ariane Matiakh, die erstmals am Pult des Nationaltheater Orchester zu erleben war sowie der renommierten Cellistin Tatjana Tetzlaff.
Die charismatische Dirigentin Ariane Matiakh inspirierte das Nationaltheater Orchester an diesem Abend zu Höchstleistungen; da schien einfach die Chemie zu stimmen, Musizierlust, unbändige Energie und kontrollierte Hingabe ließen den berühmten Funken überspringen. Mit brillanter und klarer Zeichengebung sorgte sie nicht nur für opulente Farbentfaltung und Präzision, sondern ließ die Instrumentation in immer wechselnden Schattierungen erscheinen und Klangbilder von suggestiver Kraft entstehen.
„Russische Musik“ wollte er schreiben, über „russische Themen“; das Publikum sollte sich musikalisch „zu Hause fühlen“ im Russland der 1830 Jahre. Eine eigenständige Musik für seine Landsleute hat er in der Tat geschaffen, was Michail Glinka das Prädikat „Vater der russischen Musik“ einbrachte; vor allem mit seiner Oper „Ein Leben für den Zaren“ (1836), das erste Musiktheaterwerk mit volksliedhaften Themen, idiomatischem Tonfall, patriotischen Gefühlen und in russischer statt in italienischer Sprache. Ein Zitat aus Glinkas Nachruf 1857 lautete: „ … dabei durchweht sie (die Musik) jene Grundfärbung elegisch-schwermüthiger Klage, heissen Sehnens, … und plötzlich auflodernder Leidenschaft, welche den russischen Volksliedern eigen und charakteristisch ist.“. An diese typische Stilistik knüpfte die „Gruppe der Fünf“, „Das mächtige Häuflein“ an, dem auch Modest Mussorgsky und Nikolai Rimski- Korsakoff angehörten.
Glinkas Orchesterfantasie „Kamarinskaya“ von 1848, ein Volkstanz, der auf zwei traditionellen Volksliedern basiert, verbindet gegensätzliche Themen, von denen das zweite, schnelle Motiv in ständigen Wiederholungen und wechselnder Orchestrierung in ein furioses Finale mündet, in welches sich die Tänzer bis an die körperlichen Grenzen in immer schnelleren Figuren bis zum Zusammenbruch hineinsteigern. Ein Scherzo, dessen Kontraste Ariane Matiakh voll ausschöpft, den großen sinfonischen Klang im ersten Lied majestätisch aufblühen lässt, mit homogenem Streicherunisono und feinen Holzbläserlinien, die zu einem idiomatisch dunkel timbrierten Klang verschmelzen, wohingegen das Tanzthema mit seinen kleinteiligen, leichtfüßigen Floskeln von den Musikern des NTO mit viel Witz und Musizierfreude dargeboten wurde; klare Kontrapunktlinien, Pauken-Akzente, witzige Pizzicati arbeitet Matiakh deutlich heraus und formt ein farbenfrohes Klangbild, das sich in das überschäumende „Finale tumultuoso“ hineinsteigert.
Etwa hundert Jahre später, 1959, schrieb Dmitri Schostakowitsch sein 1. Cellokonzert, ein doppelbödiges Werk, und wie fast alle seine Kompositionen voller Ambivalenzen, Maskierungen und Verweisen, und nicht zuletzt auch ein zutiefst persönliches Werk. Schostakowitsch, der sogenannte Komponist des „sozialistischen Realismus“ wider Willen, der im Visier Stalins gefangene Musiker, hinter dessen Kompositionen der Diktator antisowjetische Tendenzen verspürte und dem die Oper Die Lady Macbeth von Mzensk (1934) missfiel, setzte den Musiker bis zu seinem Tod 1953 auf „die schwarze Liste“. Seitdem verbrachte Schostakowitsch einen Großteil seines Lebens -bis zur sogenannten „Tauwetterperiode“ -in ständiger Angst und Unfreiheit. Äusserlich auf Linientreue bedacht, war er in seinem Schaffen immer auf der Suche nach Wahrheit und Allgemeingültigkeit. Hier mutiert er zum Zeitzeugen einer belastenden politischen Ära, positionierte sich insgeheim zum Kämpfer für Freiheit und Humanismus, gegen Faschismus und Diktatur, was er in verschlüsselten Botschaften in seine Werke einwob, in grotesk-satirischer Weise oder mit seinem grimmigem Humor.
Mit der häufig zitierten Gravur, dem Thema g-fes-ces-b, eröffnet das Solocello das Konzert, nämlich mit jenem prägnanten Viertonmotiv, was als eine transponierte sowie variierte Form der Initialen von Schostakowitschs Namen gelesen werden kann und autobiografische Bezüge herstellt: d-es-c-h, (D-mitrij S-C-H-ostakowitsch), ähnlich der Notenfolge b-a-c-h, dem Namen seines großen Vorläufers Johann Sebastian Bach, der sein „Monogramm“ ebenfalls bisweilen in seine Werke einarbeitete.
Die Cellistin Tatjana Tetzlaff spielte ab der ersten Note mit großem Ernst, kompromissloser Unerbittlichkeit und fesselnder Virtuosität das sich obsessiv wiederholende Thema des 1. Satz mit seinen vielfältigen Erscheinungsformen, bohrenden Floskeln und akzentuierten Marschrhythmen, changierend zwischen Sarkasmus und hintersinniger Heiterkeit. Ihr Celloton ist gerade und herb, sonor im tiefen Register, in der Höhe klar und tragend, von tiefer Ausdruckskraft, die Doppelgriffe, Arpeggien und Läufe werden bei Tetzlaff fast zur Nebensache, geben der übergeordneten Aussage den gebührenden Raum.
Wie zur Bestätigung von Schostakowitschs „Abrechnung“ mit dem Regime, fährt die Pauke jäh hinein in das motorische Getriebe. Das Solohorn übernimmt nun das Viertonmotiv, mahnt als Dialogpartner das Cello oder unterstützt es in seinen Auseinandersetzungen, besonders im elegischen 2. Satz, in dem das Solohorn mit weit ausschwingender Geste ein Lamento intoniert und Tatjana Tetzlaff, resignativ, eine erschütternde Anklage anstimmt. Dazu gesellt sich die Soloklarinette, verschmitzt mit dem Cello, das klangvolle Pianophrasen von großer Schönheit formt, ideal mit dem Orchester verwoben. Das Cello zieht die Celesta mit sich in weltabgewandte Bereiche, das mit irisierenden Flageolett-Tönen eine eigene Klangsphäre erschafft. Nahtlos erfolgt der Übergang in die Solokadenz, den 3. Satz. Ein Monolog, beklemmendes Bekenntnis des Komponisten, das bei Tatjana Tetzlaff mit großem Spannungsbogen und intensiv ausgestalteten Kontrasten den Blick in eine bewegende Innenwelt gewährt, die sich im 4. Satz in einer hochvirtuosen Kampfansage des Cellos entlädt. Ein makabrer Tanz, vom Unisono-Streichern und Bläser-Pfiffen grimmig gespielt, mündet wieder in das Anfangsthema, welches das Solohorn schmetternd zitiert, während das Cello in einer unbändigen Steigerung den grandiosen Schlusspunkt setzt.
Mit „versöhnlichen Tönen“, einer kontemplativen Zugabe von Johann Sebastian Bach, dankte die Cellistin dem lange und frenetisch applaudierenden Publikum. Ein bewegendes und nachhaltiges musikalisches Erlebnis!
Blick in die Abgründe russischer Romantik
Werke der Bildenden Kunst, bzw. der Malerei haben Komponisten immer wieder zu bedeutenden musikalischen Werken inspiriert, sind doch die beiden Künste eng miteinander verbunden und stehen in stetem kreativem Austausch. So setzte z.B. Franz Liszt 1839 als einer der Ersten ein konkretes Gemälde in Musik, nämlich Raffaels „Lo Sposalizio della Vergine“ in seinem Klavierwerk „Années de Pèlerinage“; Ende des 19.und Anfang des 20. Jahrhunderts bewegten bekanntlich die Gemälde der Impressionisten, von Picasso, oder Paul Klee Musiker zu bedeutenden Schöpfungen. Wie der Name schon sagt, wird der Klavierzyklus „Bilder einer Ausstellung“ (1874) von Mussorgski nach Bildern des Malers Victor Hartmann zu einer der bekanntesten Kompositionen der Programmmusik überhaupt.
Die 1909 entstandene Sinfonische Dichtung „Die Toteninsel“ von Sergej Rachmaninow nach dem berühmten Bild des Schweizer Malers Arnold Böcklin (1880), ist nicht von programmatischen Ideen geleitet, sondern fängt die trostlose und morbide Stimmung des Bildes in kongenialer Weise ein. Rachmaninow ließ sich in seiner ersten Begegnung mit dem Bild von einer schwarz-weiss Version inspirieren, Böcklin schuf 5 Fassungen seiner „Toteninsel“. Das Bild zeigt eine Felseninsel im Wasser, auf der dunkle Zypressen bedrohlich in die Höhe wachsen. Ein Ruderboot nähert sich der Insel, darauf ein Fährmann, ein Sarg, davor eine weiß gewandete aufrecht stehende Gestalt; eine Bildaussage von hoher Symbolik, überzeitlicher Aussage und auf den ewigen Kreislauf von Leben und Tod verweisend. Nicht zuletzt war und ist „Die Toteninsel“ das meist vertonte Bild bis heute, das nicht nur den Nerv der Zeitenwende um 1900 einfängt, sondern auch in unserer Gegenwart nichts von seiner Faszination verloren hat. Ein überzeitlicher Topos der Zuflucht, Stille und Weltabkehr.
Rachmaninow fügt dem Orchesterwerk eine reiche Ausdruckspalette hinzu, besonders die dunklen Farben, die tiefen Lagen der Instrumente und Molltonarten korrelieren mit dem Gemälde, drei Sätze verdeutlichen die zentralen Bildabschnitte: das Meer, die Insel, der Tod. Es erklingt das „dies irae“ Motiv (Gregorianische Sequenz der Totenmesse und vielfach zitiert), die Musik begibt sich auf eine unbestimmte Reise ohne Wiederkehr, mit aufblitzenden Momenten der Hoffnung und des Lichts, die bei Ariane Matiakh und dem Nationaltheater Orchester immer wieder glückhaft aufscheinen. Mit einem 5/8 Takt, der das Schaukeln des Bootes hörbar macht, löst sich das Thema in den tiefen Registern wie aus dem Urnebel, die fahle Stimmung weicht einer opulent-süffigen Klanglichkeit mit ihrer düsteren Grundstimmung, das Mystische des Urzeitlichen thematisierend, und entwickelt einen Sog mitten hinein in das Bild. Hier erhalten die typischen spätromantischen Steigerungswellen, der langsame Aufbau mit seinen weiten Spannungsbögen eine theatralisch-opernhafte Qualität, der Klang in seiner Schwermütigkeit ist kompakt, die Instrumentengruppen klar definiert.
Matiakh türmt Klangschichten zu architektonischer Monumentalität, korrespondierend mit den hoch aufragenden Felsblöcken der Toteninsel, verstärkt die Kontraste, glänzend-bewegte Triolen der hohen Instrumente münden in einen strahlenden Höhepunkt, in den die Blechbläser mit schneidender Schärfe mahnend das dies irae Motiv schmettern. Leise tastend erklingt die Sequenz im letzten Abschnitt, bis zu den einsamen Oboen und Klarinettensoli, die von hoch gespannten Streicherlinien ergänzt werden, um bald darauf wieder in den Anfangsduktus des Abgründigen zurückzukehren.
Ebenfalls von dunklen Mächten, von Satan höchstpersönlich, Hexen und deren wildem Treiben in der „Johannisnacht auf dem kahlen Berge“ Lyssaia gora, der Slawischen Mythologie, erzählt Mussorgskis „Fantastische Sinfonie“ von 1867, unterlegt mit einem ausführlichen Programm, das sich wie ein veritabler Hollywood- Gruselthriller liest: „Unterirdischer Lärm von Geisterstimmen“, „Erscheinung von Geistern der Finsternis, danach des Satans selbst“, „Huldigung vor Satan und Feier der Höllenmesse“, „Hexensabbat“, „Beim Höhepunkt des Hexensabbats läutet von fern her das Glöckchen einer Dorfkirche bei deren Klang sich die Geister der Finsternis zerstreuen“, „Tagesanbruch“. Franz Liszts „Totentanz“ ist Vorbild und Initialzündung zur Komposition, die Mussorgski in nur 12 Tagen beendet.
Die Urfassung wurde von seinem Lehrer und Freund Mili Balakirev vernichtend beurteilt, was Mussorgski veranlasste, einen versöhnlichen Schluss hinzuzufügen, aber erst durch die formale und instrumentale Überarbeitung des begnadeten Instrumentators Rimskij Korsakoff, wurde das Werk zu einem Welterfolg und zu einem der meist gespielten Stücke russischer Musik. Da betritt ein ganzes Arsenal an skurrilen und gruseligen Figuren die Bühne und verbreiten mit ihrer Lust am Abgründigen die Faszination des Grauens.
Ariane Matiakh entfesselt den Furor mit Verve und Temperament und begibt sich „in medias res“, mit Mut zum ungeschönten Klangrelief. In den temporeichen Anfang mit präzise bewegten Violinen-Triolen, fährt das Satans Motiv der Blechbläser dröhnend hinein; Paukenwirbel, Tremoli, flirrende Flötenmotive, strahlende Trompetensoli, Dissonanzen, Tritoni (Diabolus in musica), derbe Tanzrythmen, die in dynamischer und temporeicher Steigerung in einen rauschhaften Hexenritt münden, lassen effektvolle Bilder und Visionen einer dystopischen Szenerie entstehen. Die Musiker arbeiten die Kontraste deutlich heraus, ein differenziertes Kaleidoskop hochexpressiver Charakterszenen. Mit dem Eintritt der Kirchenglocke ist der „danse macabre“ zu Ende, wunderschöne Klarinetten-und Flötensoli in großer Ruhe verheissen Frieden und Erlösungshoffnung.
Viel Applaus für das krönende Ende der grandiosen Spielzeit der Musikalischen Akademie Mannheim.
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