Mainz, Staatstheaters Mainz, DER BLINDE PASSAGIER - Maria Lazar, IOCO

Mainz, Staatstheaters Mainz, DER BLINDE PASSAGIER - Maria Lazar, IOCO
Staatstheaters Mainz, Foto: Andreas Etter

DER BLINDE PASSAGIER

Maria Lazar

 

Eine Wiederentdeckung und das Stück der Stunde ist Maria Lazars Bühnenwerk, das zu ihren Lebzeiten unveröffentlicht blieb (IOCO berichtete über die Uraufführung am 31. Mai 2025 am Düsseldorfer Schauspielhaus, nur kurze Zeit später war am Staatstheater Mainz ebenfalls Premiere). Wobei sich erahnen lässt, dass ihr blinder Passagier, kein sich aus Lebensfreude oder purer Abenteuerlust geschmuggelter Mitreisender sein wird, sondern die Geschehnisse der Zeit widerspiegelt, sie sich in ihm geradezu bündeln. Lazar, 1895 in Wien geboren und jüngstes Kind einer jüdischen zum Katholizismus konvertierten Familie, legte 1920 ihren Debütroman Vergiftung vor, es folgten Theaterstücke, Übersetzungen und journalistische Arbeiten. Sehr früh erkannte sie die Gefahr des heraufziehenden Nazismus insbesondere für die jüdische Bevölkerung – was sie schriftstellerisch verarbeitete –, ihre beiden Schwestern Elisabeth und Luise starben im südöstlich von Minsk gelegenen Vernichtungslager Maly Trostinez; auch eine andere berühmte Österreicherin, die Physikerin Lise Meitner, musste erfahren, dass ihr angenommener protestantischer Glaube weniger wiegte als ihre jüdische Herkunft und schaffte es gerade noch rechtzeitig 1938 Berlin fluchtartig verlassen. Lazar war hellsichtiger, bereits 1933 war ihr Exil nach Dänemark zunächst ihre Rettung, nach Kriegsausbruch floh sie nach Schweden, wo sie sich unheilbar krank 1948 das Leben nahm.

Der blinde Passagier, Foto: Andreas Etter

 

Die Gleichgültigkeit der Menschen, und in diesem konkreten Fall ihres Gastlandes Dänemark, gegenüber den politisch sich immer mehr abzeichnenden Fehlentwicklungen Anfang der 1930-er Jahre im Nachbarland Deutschland hat Lazar in diesem Stück thematisiert. Die Passivität, der Unwille sich mit der Realität auseinanderzusetzen sowie die mangelnde Hilfsbereitschaft gipfeln in der zentralen Frage und Aussage: Was geht es uns an?!

 

Ein dänisches Postschiff, das kurz vor dem Auslaufen und der Rückkehr nach Dänemark ist, ist der Schauplatz für sechs Personen, die alle auf je eigene Weise an ihre Grenzen stoßen werden. Carl, Leichtmatrose, unter seinem Vater Petersen, dem Kapitän, hat eigenmächtig einen Mann, namens Hartmann, in Obhut genommen und versteckt ihn im Maschinenraum. Natürlich wird dies nicht sein Geheimnis bleiben können; die fröhliche Stimmung seiner Schwester Nina und ihrem Verlobten Jörgen, dem Steuermann, die sich auf dem Festland irgendwo im Norden Deutschlands beim Tanzen amüsiert haben, wird dadurch ein Ende finden. Carls Nervosität und die Gerüchte über einen im Hafen auf der Flucht vor den Nationalsozialisten ertrunkenen Mann lassen die Stimmung merklich kippen. Die beiden einander verbundenen zukünftigen Eheleute finden sich zunehmend auf verschiedenen Seiten wieder. Während Nina unbedingt helfen will und ihrem Bruder zur Seite steht, ist es ausgerechnet Jörgen, der die Geschichte des flüchtigen jüdischen Arztes Hartmann nicht nur nicht glauben will, sondern die alles entscheidende Frage stellt: Was haben wir damit zu tun? Das Ringen um die richtige Antwort darauf – die richtige im Sinne Lazars wäre zu erkennen, was vor sich geht und nicht gleichgültig zu bleiben – beschwört eine Krise herauf. Während die Verlobten sich immer mehr voneinander entfernen, Petersen etwas widerwillig, aber dann doch dem blinden Passagier Schutz gewährt, nähern sich Nina und Hartmann zaghaft an – was die Eifersucht und die Abneigung Jörgens nur noch verstärken wird.

 

Der blinde Passagier, Foto: Andreas Etter

Was sollen sie tun? Den Mann von Bord werfen, zumal sie noch einmal in Deutschland Halt machen müssen, und damit einer brenzligen Situation mit Grenzbeamten entgehen? Oder doch das Risiko wagen und ihn ins rettende Dänemark mitnehmen? Die Konflikte enden für alle tragisch, keiner geht unbelastet und unbeschädigt aus dieser auf engsten Raum stattfindenden Geschichte, die exemplarisch für die Weltgeschichte steht, hervor: Mutter, die sie die Verlobung vorbereitend in Empfang nimmt, wird ihren geliebten Hund verlieren – Carl erschießt ihn, da er zu viel bellt  – und Hartmann nimmt sich, so kurz vor der Rettung, das Leben. Aus dem ersehnten Familien- und Verlobungsfest ist ein Trauerfall geworden und der blinde Passagier zum blinden Fleck in der jeweils eigenen Lebensgeschichte.

 

Die Eingangsfrage nach der eigenen Verantwortung mündet nun in: Was habe ich getan? Was hätte ich tun können? Aus dem kollektiven Suchen wird eine individuelle Gewissensbefragung, die Lazar klugerweise nicht die Protagonisten beantworten lässt, sondern uns, dem Publikum, übertragen hat – und wenn man das Stück ernst nimmt, nicht ohne diese Überlegungen aus dem Theater gehen kann. Wie würden wir entscheiden? Da ist kein Hochmut angesagt, mit Sicherheit gäbe es „Jörgen“ und auch „Mutter“ mit ihrer um sich selbst kreisenden Befindlichkeit unter uns.

 

Der blinde Passagier, Foto: Andreas Etter

Die Spielstätte U17 des Staatstheaters Mainz befindet sich – daher auch der Name – 17 Meter unter der Erde und bietet den idealen Rahmen für die Enge auf einem Schiff. Bühnen- und Zuschauerraum sind nicht abgegrenzt, die Schauspieler sitzen, während sie nicht spielen, in der ersten Zuschauerreihe – was die Intensität der Fragestellung nur unterstreicht. Nur wenige Requisiten, die leicht umgebaut werden können – Bühne Felicia Riegel – reichen aus, um die obere und untere Ebene eines Schiffes oder Treppen zu evozieren. Die Schauspieler tragen keine zeitlich definierten Kostüme, für die Antonia Hilchenbach verantwortlich zeichnet, für das entsprechende Licht war Matthias Zangerle zuständig. Die Inszenierung von Luis Dekant konzentriert sich auf die persönliche Beziehungsstruktur der Akteure, die anfänglich eine scheinbar geschlossene Gemeinschaft bilden, doch diese aufgrund der Ereignisse allmählich zu bröckeln beginnt. Was „draußen“ passiert holt sie ein, sie die glaubten, nichts mit dem Weltgeschehen zu tun zu haben. Und so gelingt es ihnen nicht, einen einzigen Menschen zu retten, geschweige denn eine Gefahr mit Menschlichkeit abzuwenden. Eine schmerzliche Erkenntnis, die keinen unberührt lässt.

 

Ein spielfreudiges Ensemble angeführt von Holger Kraft als Kapitän Petersen, Carlotta als Tochter Nina, Carl Grübel als Sohn und Leichtmatrose, Lisa Mies als Mutter, Béla Milan Uhrlau als Steuermann Jörgen und Benjamin Kaygun als jüdischer Arzt und Fremder geben der Aussage Gewicht und sorgen für einen spannenden Theaterabend. Das Publikum dankt es mit begeistertem Applaus.

 

 

 

 

 

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