Jonathan Biss - Beethoven Klavier Sonaten, IOCO CD-Rezension, 19.02.2021

Jonathan Biss - Beethoven Klavier Sonaten, IOCO CD-Rezension, 19.02.2021
Jonathan Biss _ Beethoven - Klaviersonaten © ORCHID CLASSICS
Jonathan Biss _ Beethoven - Klaviersonaten © ORCHID CLASSICS

Jonathan Biss - Ludwig van Beethoven - Klavier-Sonaten

  Piano Sonatas Vol. 9. Nos. 7, 18, 32 - Orchid Classics ORC 100109

von Julian Führer

Drei Beethoven-Sonaten – frisch interpretiert und technisch souverän

Im Jahr 2011 hat der amerikanische Pianist Jonathan Biss mit einer Gesamteinspielung der Sonaten Ludwig von Beethovens begonnen. Vorliegende ist bereits die neunte CD dieses Zyklus; auf ihr widmet Biss sich den Sonaten Nr. 7 in D-Dur op. 10,3, Nr. 18 in Es-Dur op. 31,3 und Nr. 32 in c-Moll op. 111. Wie Biss im Beiheft darlegt, sieht er den gemeinsamen Nenner dieser drei Stücke darin, dass sie jeweils am Ende einer Schaffensperiode stünden und somit die Summe eines kompositorischen Lebensabschnitts enthielten.

Jonathan Biss - Klaviersonaten - Orchid Classics CD - ORC 100109

L Ludwig van Beethoven Denkmal in Bonn © IOCO
Ludwig van Beethoven Denkmal in Bonn © IOCO

Die frühe Sonate op. 10,3 in D-Dur ist noch „pour le clavecin ou pianoforte“, also für Cembalo oder Klavier geschrieben, sie entstand im Zeitraum 1796-1798, mithin vor Napoleons Machtübernahme in Frankreich und zu einer Zeit, als Joseph Haydn noch schrieb. "Ludwig van Beethoven respektiert die viersätzige Sonatenform, setzt jedoch nicht wie sonst üblich mit einem Allegrosatz ein, sondern fordert „presto“, sehr schnell". Jonathan Biss stellt sich dieser Forderung und wagt bei Takt 97 sogar noch ein leichtes Accelerando. Auffallend ist die Genauigkeit, mit der er Beethovens Einzeichnungen beachtet – Beethoven war seinerseits sehr genau und macht es seinen Interpreten so gesehen fast einfach, solange sie technisch so versiert sind und tatsächlich die Markierungen beachten. Biss setzt aber nicht nur um, sondern er interpretiert auch, beispielsweise spielt er bei Takt 166 des ersten Satzes kein absolutes Fortissimo, sondern sieht diese Angabe eher in Relation zum musikalischen Geschehen und setzt einen Akzent, ohne das Instrument dröhnen zu lassen. Dies überzeugt: Beethoven hat fast jede Note mit einem Staccatopunkt versehen, doch wird er sich wohl kein extrem zugespitztes Dauerstaccato vorgestellt haben. In der Reprise des ersten Satzes fehlen die Staccatomarkierungen, und Jonathan Biss wählt hier bei seinem insgesamt sehr leichten Anschlag ein etwas federnderes Moment.

Jonathan Biss _ Beethoven - Klaviersonaten © ORCHID CLASSICS
Jonathan Biss _ Beethoven - Klaviersonaten © ORCHID CLASSICS

Der zweite Satz ist Largo e mesto betitelt – eine Neuerung. Die lastende Atmosphäre geht von d-Moll aus, doch schreitet dieser Satz fast schon quasi una fantasia durch die Tonarten, auch kurz im Mittelteil nach F-Dur, das aber sogleich durch verminderte Akkorde in die lastende Ausgangsstimmung zurückgeführt wird. Auch hier (Takt 55) wird ein Fortissimo nicht wörtlich verstanden, sondern als Verhältnisangabe zum folgenden Piano aufgefasst. Das vergleichsweise leichtfüßige Menuett (Dolce) wird von einem Trio begleitet, in dem Beethoven in einer für ihn typischen Weise die Basslinie hervortreten lässt. Das abschließende Rondo (Allegro) hat, wie Biss selbst äußert, eigentlich kein richtiges Thema. Der Satz hört sich trotz der Allegro-Angabe langsam an, wird aber je nach Variation dann immer schneller. Bei Takt 98 ist zum ersten Mal kein Zweifel, dass Biss das Pedal einsetzt – sein sehr transparentes Spiel verzichtet auf diesen Kniff ansonsten in dieser Sonate durchgehend. Ein frisches Spiel und eine sehr gute Durchhörbarkeit charakterisieren diesen neuen Blick auf Beethovens Frühwerk.

Die Sonate Nr. 18 in Es-Dur op. 31,3 entstand 1801/1802. Beethoven präsentiert eingangs kein Thema, sondern eine fallende Quinte und wiederholt dies (von Biss etwas retardierend genommen). Auch in diesem Stück notiert Beethoven immer wieder Achtel und Achtelpausen statt Viertel und fügt noch Staccatopunkte hinzu. Diese Angaben auch in der linken Hand so umsetzen, wie Jonathan Biss es tut, erfordert Kondition und Können. Auch die Strukturierung der begleitenden Basslinien in der linken Hand überzeugt und zeigt immer wieder, dass Beethoven im Detail etwas Unberechenbares hat und immer höchste Aufmerksamkeit erfordert. Auch das Scherzo (Allegretto vivace) fordert sempre staccato. Daneben ist das Menuett, moderato e grazioso, eine Art Ruhepol, auch wenn Biss es eher schnell nimmt. Es fällt geradezu auf, dass Noten hier auch einmal gebunden werden dürfen. Das abschließende Presto con fuoco verlangt irrwitzige Tempi, ein Übergreifen der Hände – und das alles über weite Strecken möglichst im Piano. Abermals unterbindet Beethoven durch eingeschaltete Achtelpausen und Staccatomarkierungen jedes Binden und jede Pedalbenutzung (auf vielen Aufnahmen ‚dampft‘ das Klavier hier dennoch – hier nicht!). Der Satz beginnt in Es-Dur, führt aber in elaborierte Tonarten wie Des-Dur und Ges-Dur, bevor er zur Ausgangstonart zurückkehrt. Gerade in der linken Hand, die große Intervalle überbrücken muss, beeindruckt die Präzision von Biss‘ Spiel. Bravo!

Luwig van Beethoven Wien © IOCO
Luwig van Beethoven Wien © IOCO

Wieder gänzlich anders ist der Charakter von Beethovens letzter Klaviersonate Nr. 32 in c-Moll op. 111 von 1821/1822. Die Sonatensatzform des Kopfsatzes (Maestoso, dann Allegro con brio ed appassionato) ist grundsätzlich gewahrt, aber was hat sich alles geändert: Beethoven reizt das gesamte Spektrum der Tastatur von ganz unten bis ganz oben aus, die Tempi wechseln ständig mit immer neu nuancierenden Angaben, die Grundtonart c-Moll ist zwischendurch mehr zu erahnen als zu hören – und am Ende verschwunden, denn der Satz endet in C-Dur. Noch bestürzender ist der zweite Satz, "Arietta, Adagio molto semplice e cantabile" überschrieben. Der erste Satz stand im klassischen 4/4-Takt, der zweite Satz beginnt in einem 9/16-Takt und wechselt auf 6/16 – schwer zu zählen, schwer zu orten, die Musik macht sich buchstäblich vom Korsett einer Taktangabe frei – Jonathan Biss kommt die Musik hier mit guten Gründen improvisatorisch vor. Spätestens ab Takt 49, wenn auf einen 12/32-Takt gewechselt wird, hört sich dieser späte Beethoven deutlich nach frühem Jazz an. Mehr als nur ein Zeitgenosse (Franz Schubert, Carl Maria von Weber und andere) hielt Beethoven in dieser Periode seines Schaffens für bizarr, offenbar betrunken oder schier wahnsinnig. Auch wenn die Auseinandersetzung mit dem musikalischen Ausgangsmaterial immer verstiegener wird, reflektiert Beethoven doch das motivische Material der vorangegangenen Teile. Das Ende ist eigentlich keines; um mit Jonathan Biss zu sprechen: Die Musik löst sich in Luft auf. Mit einer Dauer von 16 Minuten ist dies der längste Satz, den Beethoven für Klavier je geschrieben hat, und er stellt höchste Ansprüche an das technische und interpretatorische Können des Pianisten.

Nach einem Durchgang durch die hier vorliegenden nur 3 von 32 Klaviersonaten wird deutlich, wie Hans von Bülow zu dem Diktum kommen konnte, Beethovens Sonaten seien „das Neue Testament der Klavierliteratur": ein vielgestaltiger Kosmos, die überlieferte Sonatenform aufgreifend, variierend, weiterentwickelnd, am Ende praktisch sprengend. Beeindruckend ist, wie souverän und mit welcher scheinbaren Selbstverständlichkeit Jonathan Biss sich in diesem Kosmos bewegt. Auch wenn er etwas hervorhebt, bleibt der Fluss erhalten, nie hört man den sprichwörtlichen erhobenen Zeigefinger.

Eine für 2020 angekündigte Konzerttournee mit seinem Beethovenzyklus in Amerika, Europa und Australien konnte aus bekannten Gründen nicht stattfinden. Es ist zu hoffen, dass sich dies bald nachholen lässt, um diese beeindruckende Beethoven-Exegese auch einmal im Konzertsaal zu erleben. In vielen Passagen kann man sich kaum vorstellen, dass Biss diese Aufnahme, die in New York in der American Academy of Arts and Letters entstand, auf einem Steinway-Flügel eingespielt hat. Zu weich hört sich dafür die Mittellage an, zu zart die Höhen. Leider steht im Beiheft nichts über das benutzte Instrument. Auch hier gilt es also, auf ein Erleben im Konzertsaal zu warten. Bis dahin gilt: ein sehr bedenkenswerter Zugang zu Beethoven, technisch auf höchstem Niveau.

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