Dresden, Semperoper, 12. Sinfoniekonzert, Schumanns op. 97, Brahms op. 77
von Marianne und Thomas Thielemann
6. Juli 2025
Saisonabschluss 2025 mit Schumanns op. 97 und Brahms op. 77
Noch immer bleibt es eine offene Frage, warum Johannes Brahms (1833-1897) den Sommerurlaub des Jahres 1878 in Pörtschach am Wörther See zur Komposition eines Violinkonzertes D-Dur nutzte, obwohl der leidenschaftliche Pianist die Feinheiten des Instrumentes nicht beherrschte und nur begrenzt Geige spielen konnte. Der 45-Jährige befand sich zu dieser Zeit mit seinen beiden Symphonien, dem ersten Klavierkonzert und dem Deutschen Requiem sowie reicher Kammermusik auf der Höhe seines kompositorischen Schaffens. War es noch immer seine Erinnerung an eine Aufführung von Beethovens Violinkonzert, die er in Hamburg im Alter von fünfzehn Jahren erleben durfte? Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847) und Joseph Joachim (1831-1907) hatten Beethovens D-Dur-Violinkonzert von 1806 erst wenige Jahre vorher wieder entdeckt und im Jahre 1844 in London der Vergessenheit entrissen.
Möglicherweise hatte Brahms die entspannte Stimmung am Wörther See veranlasst, als Reminiszenz an die harmonische Zusammenarbeit mit den Geigenvirtuosen Eduard Reményi (1830-1898) und Joseph Joachim, sich auf das Terrain der Freunde zu wagen. In der ländlichen Idylle schritt die Arbeit gut voran. Aber Ende August erkannte Brahms, dass er zwar über ein gutes Verständnis für Orchesterinstrumente verfügte, ihm aber die praktischen Erfahrungen der Spielbarkeit der Violine und der besonderen Schreibweise der Solostimme fehlten. Deshalb schickte er ein Päckchen mit der Solostimme des ersten und des Anfangs des dritten Satzes an Joseph Joachim, was zu einem intensiven Briefwechsel führte. Joachim, der auch komponierte und dirigierte, schickte Korrekturen und eine Unzahl von Änderungsvorschlägen, die mal akzeptiert und mal abgelehnt wurden. Ursprünglich wollte Brahms ein viersätziges Werk schreiben. Die Ecksätze sollten ein Adagio und ein Scherzo einrahmen. Aber die Arbeit an den Mittelsätzen wollte nicht vorankommen und der geplante Uraufführungstermin, das Neujahrskonzert 1879 des Gewandhausorchesters in Leipzig, rückte bedrohlich näher. So blieb es bei einem konzentrierten Adagio-Mittelsatz. Auch für den Geiger und Widmungsträger des D-Dur-Konzertes Joseph Joachim blieb wenig Zeit, sich intensiv auf den Solopart vorzubereiten. Im Gewandhauskonzert am 1. Januar 1879 kämpfte sich deshalb der Virtuose regelrecht durch seine Solostücke. Aber auch der Dirigent Johannes Brahms musste neben den Musikern auch seine Hosen bändigen. Er hatte in der Aufregung vor dem Konzert unterlassen, seine Beinkleider ordnungsgemäß mit den Hosenträgern zu verbinden.
Das Ringen der beiden Freunde um die Form des Konzertes setzte sich nach der Uraufführung fort, bis der Verleger Fritz Simrock (1837-1901) im Oktober 1889 mit der Drucklegung des Brahms D-Dur-Stückes dem Treiben ein Ende setzte. Derzeit gehört das von Spöttern als „Symphonie mit einem Sologeiger“ verunglimpfte Violinkonzert zu den meistgespielten Werken seiner Gattung. Mit einer Fülle von Kadenzen auch anderer Komponisten haben die Interpreten die Möglichkeit, ihre besondere Virtuosität in die Brahms-Komposition einzubinden.
Frank Peter Zimmermann war in den letzten Jahren mit seiner Primadonna „Lady Inchiquin“ aus der Werkstatt Stradivaris häufiger Gast der Sächsischen Staatskapelle. Gemeinsam mit Daniele Gatti sowie den Musikern des Orchesters gelang ihm mit der Interpretation den Charakter, die Natur und die Stimmung des Brahmschen Urlaubs in Pörtschach zu vermitteln. Der breite Kopfsatz „Allegro non troppo“ widerspiegelte wie ein Panorama die Weite der Landschaft. Der vergleichsweise späte Einsatz der Solovioline ließ die volkstümlich inspirierten Themen frei und natürlich fließen und den Atem der Natur spürbar gestalten.
Das Adagio mit seinem ergreifenden, liebevoll tröstendem Oboen-Solo der Céline Moinet, dem zart begütigenden, ruhigen Tönen des fernen Horns Jochen Ubbelohdes war von Zimmermann mit einer selten erlebten Intimität und Innigkeit beantwortet. Eigentlich war es der perfekte Ausdruck des inneren Gleichgewichts, das Brahms am Wörther See gefunden hatte, obwohl gerade dieser Satz unter extremen Zeitdruck komponiert worden war.
Der Finalsatz mit seinen sich überschlagenden, scherzhaften Kapriolen am Beginn und seinem überraschendem Übergang in ein melodiöses Intermezzo ließ die Wechselwirkung zwischen dem Orchester und der Solo-Violine den Atem anhalten. Zimmermann spielte das gesamte leuchtende Potential seines Instrumentes aus und ließ sich nicht vom Orchesterdirigat Daniele Gattis unterbuttern. Als Kadenz spielte er die von Joachim in der Uraufführung entwickelte Fassung. Für den reichen Beifall bedankte sich Frank Peter Zimmermann mit der Adaption für Solovioliene des Erlköniglieds Franz-Schuberts (1797-1825) (Deutsch-Verzeichnis 328).
Im zweiten Konzertteil vervollständigte Daniele Gatti seinen Dresdner Zyklus der Symphonien Robert Schumanns mit der „Rheinischen“.
Obwohl im sächsischen Zwickau geboren, war es Robert Schumann (1810-1856) nie möglich gewesen in der vielfältigen Musikszene des Königreichs eine gut dotierte führende Position zu erlangen. Bereits in Leipzig war sichtbar geworden, dass Schumann nicht über die Fähigkeit verfügte, Menschengruppen zu führen, ein Orchester oder einen Chor zu leiten. Sein in sich gekehrtes Wesen machte es ihm, aber auch seinem Umfeld, nicht leicht, den begabten Komponisten Schumann als Dirigenten zu etablieren. Seine Enttäuschung, dass der Leipziger Stadtrat nach Mendelssohns Teil-Rückzug von der Gewandhausleitung eine ordentliche Regelung unterließ und ihm der unangefochtene Anführer der Leipziger Musikszene, der energische, immer freundliche und beliebte Ferdinand David (1810-1873), aber auch Ferdinand Hiller (1811-1885), Julius Rietz (1812-1877), Niels Wilhelm Gade (1817-1890) und Andere ihm vorgezogen worden waren, veranlassten ihn die Stadt zu verlassen. Auch gab es aus seiner „Davidsbündler-Zeit“ als Herausgeber der „Neuen Zeitschrift für Musik“ Verletzungen bei einigen Mitspracheberechtigten. So siedelte die Familie im Dezember 1844 mit der Hoffnung auf eine finanziell gut ausgestattete Hofmusiker-Anstellung nach Dresden. Die Beschäftigung mit den Werken Johann Sebastian Bachs (1685-1750) half ihm, in einer Selbst-Therapie seine psychischen Probleme weitestgehend zu kompensieren. So folgten in der Residenzstadt in den Jahren1845 und 1846 Robert Schumanns kreativste und schaffensreichste Zeit. Aber den Ton in der Residenz-Musikszene gab der zweite Hofkapellmeister Richard Wagner (1813-1883) an. Für uns heute schwer nachvollziehbar, dass zwei noch immer unsere Musikwelt beeinflussende Persönlichkeiten im fußläufig zu erreichendem Abstand wohnend, die Schumanns wohnten in der Waisenhausstraße, die Wagners in der Ostra-Allee, nur begrenzte Kontakte pflegten. In ihrem Verhältnis waren sie reserviert und ambivalent geblieben. Dazu kam, so beklagte Robert, dass er sechsunddreißig Mal zu Friedrich Wieck (1785-1873) nach Loschwitz zum Rapport einbestellt wurde und der Schwiegervater acht Mal unangekündigt in der Waisenhausstraße vorstellig geworden war. Folglich nahm Robert Schumann den Vorschlag Ferdinand Hillers an, im September des Jahres 1850 nach Düsseldorf zu gehen und dessen Nachfolge als „Städtischer Musikdirektor“ zu übernehmen. Der Empfang des Ehepaars in Düsseldorf durch einen Chor, ein Festakt zu ihren Ehren am Folgetag und die Hoffnung auf ein neues, gesichertes Betätigungsfeld, versetzte Schumann in einen euphorischen Zustand, der umgehend in Musik umzusetzen verlangte. Die Wirkung einer Besichtigung des im Werden befindlichen Kölner Domes und beeindruckt von der rheinländischen Fröhlichkeit der Menschen, begann Schumann nach der Arbeit an seinem Cellokonzert am 7. November mit der Komposition einer neuen Symphonie. Nur unterbrochen von einem Abonnementskonzert komponierte und orchestrierte er die Es-Dur Symphonie in einem Zuge. Im Gegensatz zur etwas dämonisch geratenem vierten Symphonie, schuf er ein leichter verständliches Werk. Bei aller Lockerheit des Gesamteindrucks der Symphonie flackern doch mehrfach Spuren der bipolaren Störung des Komponisten auf.
In der Folgezeit überarbeitete Schumann die Dresdner Erstfassung des d-Moll-Entwurfs zur vierten Symphonie op.120, komponierte eine Messe c-Moll, das Requiem Des-Dur op.148, zahlreiche Ouvertüren, Lieder sowie Kammermusik und das d-Moll-Violinkonzert WoO 1. Aber in seinem Amt als Musikdirektor währte die Euphorie der ersten Düsseldorfer Zeit nicht lange. Schumann war unzufrieden mit der Einsatzfreude und Pünktlichkeit der Orchestermusiker sowie des Chores, so dass es zu Auseinandersetzungen kam. Schumanns ineffektiver Arbeitsstil mit Musikern, seine fehlende Fähigkeit der Führung von Personengruppen potenzierten sich zunehmend mit seinen bipolaren Störungen. Das gleiche Konzertkomitee, das ihn so begeistert empfangen hatte, verlängerte seine Anstellung nicht und veranlasste seine Entlassung. Die weitere tragische Entwicklung ist bekannt.
Mit offensichtlicher Freude und einer gewissen Ausgelassenheit begann Daniele Gatti sein Dirigat des lebhaften Kopfsatzes, löste sich rasch von der straffen Führung des Orchesters und gab den Musikern viele Freiheiten und Eigenverantwortung. Die Profis der Staatskapelle wussten das zu schätzen und gestalteten mit Schumanns reicher Orchestrierung einen packenden Auftakt.
Der folgende Satz mit der Bezeichnung „Scherzo:-Sehr mäßig“ war von Schumann offenbar nach einer ernüchternden Probe mit seinem neuen Orchester entstanden, denn der Komponist versuchte die Wirkung seiner Musik an die des Gewandhausorchesters zumindest anzunähern. Er hatte deshalb im Intermezzo für einige Instrumente eine Stimmenverdoppelung zur Erzeugung einer besonderen Klangästhetik vorgesehen. Das soll mit den Instrumenten des 19. Jahrhunderts tatsächlich funktioniert haben. Die Musiker der Staatskapelle mit ihrer modernen Instrumentation erreichten diese Intimität des Klangbildes nur durch höchste Sensibilität und Flexibilität ihres Spiels, so dass im gemächlich dahinfließenden Scherzo die verschiedenen Klangfarben perfekt gegeneinander ausgespielt wurden.
Ein sanftes Thema wurde von wogenden Akkorden im „Nicht schnell“ vorangetragen, bis mit dem vierten Satz tragische Töne in die Idylle einbrachen. Dem Vernehmen nach, soll sich Schumann von der Stimmung der Feier im teilfertigen Dom anlässlich der Kardinals-Erhebung des Johannes von Geissel (1796-1864) zu diesem feierlich-schwelgendem Tongemälde hat inspirieren lassen. Mit dem Finalsatz führte Gatti das Orchester zur Fröhlichkeit des Kopfsatzes und zum naturverbundenen Geist des Scherzos zurück.