Dresden, Kulturpalast, Der Reisende - Jan Müller-Wieland, IOCO
Dieser 9. November ist ein bedeutungsvoller Tag, der an mehrere, entscheidende und gegensätzliche Ereignisse der deutschen Geschichte erinnert. Die innerdeutsche Grenze zwischen Ost und West fällt 1989, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs wird 1918 die erste deutsche Republik ausgerufen und damit das Ende der kaiserlichen Monarchie besiegelt, 1923 in München wird ein Putschversuch Adolf Hitlers an der Feldherrnhalle niedergeschlagen, 1848 endet die deutsche Märzrevolution. Aber dieser Tag erinnert auch an eines der dunkelsten und schändlichsten Kapitel deutscher Geschichte: die Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November 1938. In dieser Nacht organisieren die Nationalsozialisten und ihre paramilitärischen Organisationen unter Duldung und Zustimmung großer Teile der Bevölkerung in ganz Deutschland gewalttätige Ausschreitungen gegen jüdische Mitbürger und deren Eigentum. Synagogen werden in Brand gesetzt, Wohnungen und Geschäfte werden verwüstet und geplündert. Tausende, ehemals angesehene Mitbürger werden ermordet, misshandelt, gedemütigt, verhaftet und in Konzentrationslager verschleppt. Nachdem bereits 1935 die Nürnberger Gesetze erlassen wurden, die Nichtarier zu Bürgern minderen Rechts erklärten, bedeutet der 9. November 1938 endgültig den Übergang von Diskriminierung zur systematischen Verfolgung und Vernichtung der jüdischen Menschen in Deutschland und in den von deutschen Truppen besetzten Ländern Europas.
Der Schriftsteller Ulrich Alexander Boschwitz (1915-1942), die Mutter stammt aus einer protestantischen Lübecker Senatorenfamilie, der Vater, jüdischer Herkunft, zum protestantischen Glauben konvertiert, ist ein erfolgreicher Geschäftsmann, der als Frontsoldat im Ersten Weltkrieg 1915 sein Leben verliert, erlebt mit der Familie die zunehmende Ausgrenzung. Nachdem die Schwester bereits 1933 Deutschland verlassen hat, emigriert Boschwitz mit der Mutter 1935 über Schweden nach Norwegen. Dort schreibt er seinen ersten Roman, Menschen neben dem Leben, unter dem Pseudonym John Grane. Der Erfolg dieses Werks ermöglicht Boschwitz einen Studienaufenthalt an der Sorbonne in Paris. Dort entsteht 1938 als Reaktion auf die Geschehnisse der Novembernacht des Jahres als zweites Buch Der Reisende, das in Großbritannien, den USA und Frankreich erscheint. Boschwitz folgt 1939 seiner Mutter nach Großbritannien, wird von den Engländern als feindlicher Ausländer nach Australien verbracht und dort interniert. 1942, auf dem Weg zurück nach Großbritannien, wird sein Schiff von einem deutschen Torpedo getroffen, er stirbt im Alter von 27 Jahren.
Nach Kriegsende ist in Deutschland zunächst kein Verlag bereit, den Roman zu veröffentlichen, erst 2018 erscheint im Verlag Klett-Cotta die vielbeachtete deutsche Erstausgabe.

Die Hauptperson des Romans, Otto Silbermann, ein angesehener jüdischer Geschäftsmann, erlebt die Nacht des 9. November 1938. Die Nazis verwüsten seine Wohnung, er kann noch fliehen, seine arische Frau wird von ihrem Bruder aufgenommen, der Sohn Eduard lebt in Paris und versucht vergeblich, Papiere für die Ausreise der Eltern zu beschaffen. Der heimatlose Silbermann erlebt nun, dass Familienmitglieder, Freunde, Geschäftspartner sich von ihm abwenden, ihn verraten, ihn betrügen. Für ihn beginnt eine abenteuerliche Flucht als Reisender in Eisenbahnzügen quer durch Deutschland, er trifft auf Flüchtende, Nazis und die anderen, die wegschauen, der Schwager verweigert den Kontakt, ein Grenzübertritt nach Belgien misslingt, der Rest seines Vermögens, den er in einer Aktentasche bei sich trägt, wird gestohlen. Ohne Hoffnung und am Ende seiner Kräfte, dem Wahnsinn nahe, gibt er sich schließlich auf und stellt sich der Polizei.
Der Roman dient Jan Müller-Wieland als Vorlage für das Libretto und die Komposition des Melodrams Der Reisende, das heute, am 9. November 2025, achtzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs seine Uraufführung erlebt. Jan Müller-Wieland (geb. 1966), Hochschullehrer, Dirigent und Komponist von mehr als einhundert Werken, darunter fünfzehn abendfüllenden Stücken für das Musiktheater, vier Sinfonien, Kammermusik und Vokalkompositionen. Sein Oratorium Egmonts Freiheit oder Böhmen liegt am Meer wird im Festkonzert des Berliner Konzerthauses zum 25. Jahrestag der Deutschen Wiedervereinigung 2015 unter Müller-Wielands Leitung aufgeführt.
Das Melodram ist mit Sprecher, Sprecherin, zwei Gesangssolisten, Chor, Orchester und Zuspielungen besetzt. Die exzellenten Schauspieler und Sprecher Ulrich Noethen und Birgit Minichmayr verkörpern das Ehepaar Silbermann. Durch sie wird die Vernichtung einer Familie körperlich erlebbar. Der Tenor Kangyoon Shine Lee als der hilflose, schwärmerisch naive Sohn Eduard im Pariser Exil und der stimmlich und deklamatorisch hervorragende Bariton Michael Borth in den Rollen des Geschäftspartners Becker und des Schwagers Ernst ergänzen die Gruppe der Solisten. Der Philharmonische Chor Dresden (Einstudierung: Iris Geißler) und der Kammerchor Cantamus Dresden (Einstudierung: Robert Schad) leisten Außerordentliches. Als wichtige Akteure der Handlung wandeln sie ständig ihre Rolle, kommentieren, sprechen als Möbel eines Zimmers in einer Absteige, sind Silbermanns Schritte, verkörpern belgische Grenzsoldaten, sind das nichtexistierende, rettende Visum, sprechen als Polizei. Sie treiben das Geschehen voran bis zur Selbstaufgabe, bis zum Wahnsinn Otto Silbermanns. Mit der auf allen Positionen glänzend eingestellten Dresdner Philharmonie gelingt unter der umsichtigen, wach auf die dynamischen Schattierungen und den Fluss der Musik bedachten Leitung von Gergely Madaras eine eindrucksvolle, beklemmende Schilderung von Gewalt, Verzweiflung, Unmenschlichkeit aber auch immer wieder von Hoffnung. Die Wirkung wird unterstützt durch eine sehr gut eingesetzte Lichttechnik von Alexander Hauer.

Jan Müller-Wieland ist einer der wichtigsten und produktivsten deutschen Komponisten unserer Zeit, international geschätzt und vielfach geehrt. Seine Musik ist keiner Stilrichtung verpflichtet: „Mich interessiert Musik, die durch den Rückblick vorausschaut. Zukunft ohne Vergangenheit ist für mich unvorstellbar“ (Jan Müller-Wieland). Dabei spielt wie bei dem Melodram Der Reisende die literarische Inspiration eine wichtige Rolle. Müller- Wielands Musik ist äußerst lebendig, nie sentimental, scheut kraftvolle, gelegentlich brutale Ausbrüche als Ausdruck des Bösen nicht. Seine Komposition erreicht eine beklemmende Aktualität, sie beleuchtet die Breite menschlicher Erfahrungen zwischen Gewalt, Ausgrenzung, Diskriminierung, Rechtlosigkeit und der fortbestehenden Kraft von Hoffnung und Menschlichkeit – eine Mahnung und Forderung, die Vielfalt unserer Demokratie zu verteidigen.
Eine Aufführung, die den Hörer bewegt und tief berührt in den Abend entlässt!