Berlin, Staatsoper Unter den Linden, Symphoniekonzert II, IOCO

Berlin, Staatsoper Unter den Linden, Symphoniekonzert II, IOCO
Staatskapelle Berlin copyright Peter Adamik

20. Oktober 2025

Glinka, Beethoven, Tschaikowski,
Staatskapelle Berlin unter Nathalie Stutzmann

Was für ein grandioser Konzertbeginn! Die Staatskapelle Berlin unter der Leitung von Nathalie Stutzmann eröffnet das II. Sinfoniekonzert in der Berliner Staatsoper mit der Ouvertüre zu Ruslan und Ljudmila von Michail Glinka (1804-1857).

Glinka,1804 nahe Smolensk im Dorf Nowospasskoje als Sohn eines Adligen geboren, kommt erst im Alter von zehn Jahren mit der klassischen Musik in Berührung. Er nimmt Violinunterricht, beginnt ein Studium in St. Petersburg, lernt die Komponisten John Field und Johann Nepomuk Hummel kennen, reist in den Kaukasus und tritt dann 1824 eine untergeordnete Stelle im Verkehrsministerium an. In diese Zeit fällt auch die Bekanntschaft mit Alexander Puschkin, der Glinka in seinem Denken und Handeln nachhaltig beeinflusst. Während eines dreijährigen Studienaufenthalts in Italien hat er Kontakt zu den Komponisten Bellini, Donizetti und Mendelssohn-Bartholdy. Nach Musikstudien bei Siegfried Dehn in Berlin kehrt er 1834 nach Russland zurück.

Die Oper Ruslan und Ljudmila in fünf Akten komponiert Glinka in den Jahren zwischen 1837 und 1842. Die Handlung basiert auf der gleichnamigen Märchendichtung von Alexander Puschkin. Dessen Tod in einem Duell 1837 verhindert die geplante Fassung eines Librettos. Es entsteht eine etwas verunglückte Textversion von verschiedenen Autoren, nicht zuletzt von Glinka selbst. Im Gegensatz zu seiner erfolgreichen Oper Ein Leben für den Zaren (1836), auch bekannt unter dem Titel Iwan Sussanin, die als erste in russischer Sprache gesungen, Klassikerstatus erreicht, wird Ruslan und Ljudmila kein durchschlagender Erfolg. Nur selten wagen sich Opernhäuser, zuletzt die Hamburger Staatsoper, an eine Produktion. Dabei ist die musikalische Qualität des Werks unstrittig und wird bald nach der Uraufführung von namhaften Komponisten und Dirigenten anerkannt. Liszt und Berlioz dirigieren eigene Einstudierungen. In der Folgezeit unternimmt Glinka Reisen nach Paris, Spanien, Polen und Deutschland, trifft Hector Berlioz, begeistert sich in Spanien für die dortige Folklore, wird beeinflusst in Polen von Chopin und nimmt noch einmal Kontrapunktstudien bei Siegfried Dehn auf.  Kurze Zeit nach einem Konzert Meyerbeers, der Teile aus Ein Leben für den Zaren aufführt, verstirbt Glinka nach einer Erkältung 1857 in Berlin. Ihm gelingt in seinen Werken eine Verbindung der russischen Volksmusik mit den westeuropäischen Kompositionsformen. Er ist der Erste in der klassischen Tradition, der die Ganztonskala verwendet. Seine Werke, die schnell auch internationale Anerkennung finden, haben großen Einfluss auf nachfolgende russische Komponistengenerationen, wie auf die Gruppe Das Mächtige Häuflein um Balakirew, Borodin, Mussorgski und Rimski-Korsakow. Michail Glinka gilt als Vater der russischen Musik.

Die Ouvertüre, von Glinka unmittelbar nach Vollendung der Oper in vierundzwanzig Stunden in die Reinschrift der Partitur geschrieben, ist heute fester Bestandteil des klassischen Konzertrepertoires und wird oft als eigenständiges Konzertstück aufgeführt. Die Akkordfolge des Beginns führt unmittelbar in das wilde und kraftvoll auftrumpfende erste Thema der Bläser und Pauken, unterstützt von virtuosen Streicherpassagen. Den Pauken und Streicherpizzicati folgen zunächst die Bratschen und Celli, später alle Streicher mit einem kantablen zweiten Gedanken. In der Durchführung wird die in der Sonatenform übliche Verarbeitung beider Themen durch ein düsteres Motiv in gezupften Streicher- und Bläserakkorden über den lang ausgehaltenen Tönen der Hörner gestört - das Motiv des tückischen Zauberers Tschernomor. Erst in der Reprise setzt sich der vorwärtsdrängende Schwung des Anfangs wieder durch, und das Werk endet in einer überschwänglichen Coda, im piu mosso, in strahlendem D-Dur. Diese virtuos wirbelnden, rasanten fünf Minuten Musik sind ein echter Prüfstein für jedes Orchester! Die Spielfreude, die Leichtigkeit, der Elan und die technische Meisterschaft der Staatskapelle ziehen die Hörer sofort in ihren Bann.

Staatskapelle Berlin, Nathalie Stutzmann copyright Peter Adamik

Nach dem schwungvollen Beginn folgt das Klavierkonzert Nr. 1 C-Dur op. 15 von Ludwig van Beethoven (1770-1827) mit der Solistin Lise de la Salle. Beethoven, 1770 in Bonn als Sohn einer Musikerfamilie geboren, erhält von seinem Vater, dann von Christian Gottlob Neefe eine gründliche musikalische Ausbildung. Im Alter von vierzehn Jahren wird er als Hoforganist angestellt. Bereits 1782 werden Variationen für Klavier von Beethoven gedruckt, wahrscheinlich aus dem Jahr 1784 ist der Klavierpart eines Klavierkonzerts in Es-Dur WoO 4 mit Instrumentierungsangaben überliefert. 1792 finanziert ihm der Kurfürst einen Studienaufenthalt in Wien. Die Begegnung mit Joseph Haydn ist für Beethoven wenig inspirierend, er setzt seinen Unterricht u.a. bei Albrechtsberger und Salieri fort. Schnell erobert er das musikverständige Wiener Publikum als außergewöhnlicher Klaviervirtuose, Dirigent und Improvisator. Fürst Karl von Lichnowsky nimmt sich seiner als Mäzen an. Die Stadt begeistert den jungen Beethoven. An seinen Freund Franz Wegeler schreibt er: „Für mich gibt es kein größeres Vergnügen, als meine Kunst zu treiben und zu zeigen“. Wien wird der Mittelpunkt seines zukünftigen Lebens und Arbeitens. Beethoven stirbt dort am 26. März 1827. Etwa zwanzigtausend Bürger folgen dem Trauerzug. Ludwig van Beethoven ist eine der herausragendsten und prägendsten Persönlichkeiten der Musikgeschichte. Er führt die Wiener Klassik zum Höhepunkt und öffnet den Weg in die Epoche der Romantik.

Beethovens als Klavierkonzert Nr. 1 geführtes Werk, ist keineswegs sein erstes Klavierkonzert. Neben dem WoO 4 aus der Bonner Zeit entsteht auch das Konzert op. 19 in B-Dur, 1793 geschrieben und zwei Jahre später in Wien erstmals aufgeführt, vor dem Konzert op. 15, dem heutigen Nr.1. Die Datenlage für die Komposition des C-Dur – Konzerts ist nicht ganz klar. Es entsteht in den Jahren zwischen 1795 und 1798, Beethoven spielt es wahrscheinlich zum ersten Mal 1798 in Prag. Am 2. April 1800 folgt die Aufführung in Wien. Das Werk erregt bei den Hörern allgemeine Beachtung, teils bewundernd, teils kritisch wegen seiner Kühnheit und seiner Verstöße gegen den angeblich guten Geschmack. In Wien kann man in der Zeitung lesen von einem „…neuen, mit chromatischen Gängen und enharmonischen Verwechslungen zuweilen bis zur Bizarrerie ausgestalteten Fortepianokonzert“. Noch ist der Einfluss seiner großen Vorbilder Haydn und Mozart erkennbar, doch gleichzeitig zeigen sich deutlich Beethovens Persönlichkeit und ein eigener Kompositionsstil. Eine breite sinfonische Ausgestaltung mit großer Orchesterbesetzung, schroffe dynamische Gegensätze, eine bisher ungewohnte Rhythmisierung, ein neuer freier Umgang mit Harmonien kennzeichnen das C-Dur – Konzert. Der erste Satz Allegro con brio ist in der klassischen Sonatensatzform geschrieben. Das marschartige Thema im piano der Streicher wird vom Tutti übernommen und durchzieht als Kernthema den weiteren Satzverlauf. Es folgt ein gesanglicher Gedanke in unerwartetem Es-Dur, bevor das Klavier den thematischen Beginn aufnimmt. Weit ausgreifende harmonische Modulationen bestimmen den weiteren Satzverlauf, erst die Reprise führt in die Grundtonart zurück. Eine pianistisch höchst anspruchsvolle Solokadenz und eine kurze, energische Coda beschließen den ersten Satz. Begleitet von den Streichern beginnt das Klavier das folgende Largo. Es steht in As-Dur und umgeht damit die bisher übliche Dominante oder Subdominante. In der liedhaften A-B-A – Form geschrieben führt das Klavier einen fantasievollen, innigen, fein abgestimmten Dialog  mit den Holzbläsern, dabei besonders mit der Solo-Klarinette. Der Erfindungsreichtum origineller und differenzierter Instrumentation - Flöten, Oboen, Trompeten und Pauken schweigen - unterstreicht den lyrischen Charakter des Satzes. Das Klavier eröffnet das temperamentvolle Rondo Allegro scherzando: volkstümlich, ausgelassen, frech und mit seinen scharfen Akzentuierungen, nicht ohne eine gewisse Derbheit. Lise de la Salle reizt alle Möglichkeiten des virtuosen Miteinanders von Solo und Orchester aus. Ein kraftvoller Kehraus des Orchesters beschließt das Werk. Das Konzert widmet Beethoven seiner Schülerin Babette von Keglević.

Staatskapelle Berlin, Nathalie Stutzmann copyright Peter Adamik

Mit der jungen französischen Pianistin Lise de la Salle (geb. 1988) findet das Konzert eine ideale Interpretin. Über ihr Spiel sagt sie: „Ich möchte die Zuhörer vergessen lassen, dass das Klavier ein perkussives Instrument ist. Ich will damit singen“.  Sie gilt zu Recht als eine große pianistische Hoffnung, wird von der Kritik gefeiert und ist eine der international sehr gefragten Pianistinnen der jüngeren Generation. Ihr Spiel ist kraftvoll und sensibel, mit großem Klang, großer Klarheit in Artikulation und Phrasierung, immer ausdrucksvoll, dabei stets auf den musikalischen Fluss bedacht. Mit der Zugabe einer Klavierfassung des Schubert-Liedes An die Musik beweist Lise de la Salle noch einmal die große Breite ihres nuancenreichen Spiels. Großer Beifall!

Die Sinfonie Nr. 5 e-Moll op. 64 schreibt Peter Tschaikowski im Jahr 1888, zehn Jahre nach Vollendung seiner Vierten. Nach dem grandiosen Erfolg seines Klavierkonzerts b-Moll aller wirtschaftlichen Sorgen ledig, als Komponist von Kritik und Publikum anerkannt, als Dirigent seiner Werke international gefeiert, wird der 48Jährige von ständigen Selbstzweifeln und Depressionen gequält. Seiner Freundin und Gönnerin Nadeshda von Meck - beide haben sich übrigens nie gesehen - schreibt er: „Oft überkommen mich Zweifel, und ich stelle mir die Frage: Ist es nicht an der Zeit aufzuhören? Habe ich meine Fantasie nicht überanstrengt? Ist die Quelle vielleicht schon versiegt?“ Selbst nach der erfolgreichen Uraufführung seiner Fünften Sinfonie 1888 in St. Petersburg verlieren sich die Zweifel nicht: „Es ist etwas Abstoßendes darin, Flickwerk, Unaufrichtigkeit und Kunstkniffe“. Dabei überrascht auch heute das Moderne der Komposition. Die Fünfte Sinfonie, die Tschaikowski selbst nie als Schicksalssinfonie bezeichnet hat, ist nicht das dem Schicksal in den Rachen greifen Beethovens, kein Sieg des Lichts über die Dunkelheit. Das einem Trauermarsch ähnliche Thema des Beginns, das der Komponist als „…vollständiges Sich-Beugen vor dem …unergründlichen Walten der Vorsehung“ beschreibt, das sich durch das ganze Werk zieht und im Finale zu einem jubelnden Triumphmarsch wird, verleiht der Sinfonie eine hintergründige Doppelbödigkeit, wie wir sie später auch bei Mahler und Schostakowitsch beobachten können. Die Klarinetten über den tiefen Streichern stellen am Beginn des ersten Satzes Andante – Allegro con anima das düstere Hauptthema in e-Moll vor, das bestimmend wird für den weiteren Verlauf der Sinfonie. Im Allegro, in klassischer Sonatenform, wird dieses Thema weiterentwickelt im Kontrast zu mehreren thematischen Gedanken, die dem Satz einen leidenschaftlich unruhigen Charakter verleihen. Der zweite Satz Andante cantabile, con alcuna licenza in D-Dur ist ein großer Gesang, beginnend mit einem herrlichen und makellos vorgetragenen Hornsolo. Unvermittelt und brutal unterbricht zweimal das Schicksalsmotiv des Anfangs die lyrische Stimmung. Anstelle eines Scherzos steht als dritter Satz ein Valse: Allegro moderato in A-Dur. Auch in diesem Satz werden Anmut und Leichtigkeit durch das Wiederauftreten des Kernmotivs, des Trauermarschs, getrübt. Im vierten Satz Andante maestoso – Allegro vivace scheint die gespannte Unruhe der vorangegangenen Sätze überwunden. Das Hauptthema erscheint jetzt in E-Dur als eine Art Triumphmarsch. Hochdramatisch mündet der Satz in ein jubelndes, glanzvolles Finale. Die eigene tiefe Krise scheint überwunden. Tschaikowski selbst aber scheint nicht an das glückliche Finale zu glauben. An Nadeshda von Meck schreibt er: „Nach jeder Aufführung komme ich immer mehr zu der Überzeugung, dass meine letzte Sinfonie ein misslungenes Werk ist. …es hat sich herausgestellt, dass sie zu laut, zu massig, zu unaufrichtig, zu lang, überhaupt wenig ansprechend ist. Sollte ich mich schon ausgeschrieben haben?“ Erst nach den sehr erfolgreichen Aufführungen 1889 in Hamburg teilt er seinem Bruder Modest mit: „Das Angenehmste ist, dass die Sinfonie aufgehört hat, mir hässlich zu erscheinen; ich habe sie wieder liebgewonnen“. Heute gilt die Fünfte Sinfonie als ein Gipfelwerk der klassischen Konzertliteratur.

Nathalie Stutzmann (geb. 1965), eine universell ausgebildete Künstlerin, zunächst als Altistin weltweit gefeiert, ist sie seit einigen Jahren auch als Dirigentin in Oper und Konzert international sehr geschätzt. Sie dirigiert 2023 und 2024 den Tannhäuser in Bayreuth, ist bis 2024 Erste Gastdirigentin beim Philadelphia Orchestra und seit 2023 Musikdirektor des Atlanta Symphony Orchestra. Damit ist sie die erste Frau in den USA in dieser Position an einem der großen Orchester.

Gemeinsam mit der Solistin und der hervorragend aufgelegten Staatskapelle gelingt Nathalie Stutzmann ein hinreißender Abend, der vom Publikum anhaltend gefeiert wird. Sie schafft es, die breite Ausdrucks - und Farbenskala des Gesangs auf das Orchester zu übertragen. Jeder Ton bekommt einen deklamatorischen Wert. Sorgfältige Phrasierungen und Akzentuierungen, wunderbare, agogische Übergänge machen ihre Interpretation so besonders und lebendig. „So viel Liebe, Intensität und pure Technik. Wir brauchen mehr Dirigenten wie sie“ (Sir Simon Rattle).

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