München, Residenztheater, HAMLET - William Shakespeare, IOCO Kritik, 13.10.2021

München, Residenztheater, HAMLET -  William Shakespeare, IOCO Kritik, 13.10.2021
Residenztheater München
Residenztheater München © Matthias Horn
Residenztheater München © Matthias Horn

Hamlet  -  William Shakespeare

- Hannah Arendts Denkanleitung -

von Hans-Günter Melchior

Was für ein verwirrender, ratlos machender Abend. Sind denn die Regisseure die besseren Autoren? Dann sollen sie bitte die von ihnen veränderten Stücke unter ihrem Namen spielen lassen, damit man weiß, an wes Geistes Kind man sich abarbeiten kann. Regietheater pur.

Regisseur Johannes Borgmann hat freilich immerhin im ersten Teil der Aufführung das Stück – in Anlehnung an ein Wort von Adorno"durch Unkenntlichkeit kenntlich gemacht".

Es fängt an sich ja auch ganz gut an. Katja Jung als Horatio, in Aufmachung, Zigarette und Gestik an Hannah Arendt nicht nur erinnernd, sondern sie geradezu darstellend.

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Das ist eine Hypothek, eine selbstauferlegte, richtungsweisende Verpflichtung. In ihrem vor dem Hintergrund des Eichmann-Prozesses erschienenen Werk: Über Das Böse Eine Vorlesung Zu Fragen Der Ethik setzt sich Hannah Arendt mit dem Phänomen des Selbstgespräches des Geistes, der Überprüfung der Geistesprodukte also im Wege des Hinterfragens der Gedanken durch ein und denselben Geist auseinander. Auf S. 93 heißt es: „Politisch gesprochen besteht der Hauptunterschied zwischen Denken und Handeln darin, daß ich nur, während ich denke, mit meinem Selbst oder dem Selbst eines Anderen zusammen bin, wohingegen ich mich in dem Augenblick, in dem ich zu handeln beginne, in der Gesellschaft der Vielen befinde.“  Und einige Zeilen weiter untern: „Wahr ist dennoch, daß selbst in der Singularität oder Dualität des Denkprozesses Pluralität wie im Keim gegeben scheint, insofern nämlich, als ich nur denken kann, indem ich mich, obwohl ich Einer bin, in Zwei aufteile.“

Noch einmal: gemeint ist damit also eine prozesshafte Selbstkritik, ein ständiges Überprüfen und Infragestellen des Ergebnisses des je eigenen Denkprozesses, mit anderen Worten: eine Dialektik im – etwaigen – Voranschreiten zur Handlung oder deren Unterlassung aus Einsicht.

Indem Robert Borgmann einem engen Vertrauten Hamlets, nämlich Horatio, das Aussehen Hannah Arendts verleiht, verpflichtet er sich einem Programm, das das Stück insgesamt prägt und alle Protagonisten übergreift. Nämlich einem der Nachdenklichkeit, des bedächtigen Voranschreitens der Handlung, ja fast der Stille und gelegentlichen Lähmung des Handlungsablaufs.

Residenztheater Muenchen / HAMLET - hier vl .Michael Gempart, Arnulf Schumacher, Sibylle Canonica, Johannes Nussbaum, Christoph Franken © Birgit Hupfeld
Residenztheater Muenchen / HAMLET - hier vl .Michael Gempart, Arnulf Schumacher, Sibylle Canonica, Johannes Nussbaum, Christoph Franken © Birgit Hupfeld

Doch dazu will das wuselige, quirlige Betragen besonders der Hauptfigur, des münchner Hamlets (Johannes Nussbaum), der wie ein Affe behänd eine Art weißen Denkfelsen hinauf- und herunterrennt schlichtweg nicht passen. Dieser Hamlet ist zu beweglich, zu unruhig, um zum Nachdenken zu kommen. Geschweige denn zur kritisch-dialektischen Selbstüberprüfung des Standpunkts. Kurz: Arendts Hamlet wäre, hätte sie sich mit ihm auseinandergesetzt, gemäß der herrschenden Interpretationspraxis in sich gekehrt, ja zweifelsüchtig, seine Tatenlosigkeit entspräche nicht der Feigheit, sondern einer kritischen Denkhaltung, dialektischer Abwägung, kurz: einer an Kant orientierten Moral, die der gängigen Vergeltungspraxis aus Einsicht widerstünde. (Vielleicht auch –folgte man Freud – einer ödipalen Störung, weil er den König schont, der den geheimen Wunsch Hamlets, den Vater zu ermorden, um den Weg zur geliebten Mutter freizumachen, stellvertretend erfüllt hat).

Gerade Nachdenklichkeit kann freilich Borgmanns Inszenierung nicht vermitteln. Überhaupt ist alles im ersten, gleichwohl dem Stück sich noch einigermaßen verpflichtet fühlenden Teil, zu unruhig, zu grell in die Karikatur geradezu hineingezerrt. Sehr weiß ist die Bühne, Schleier wehen, die Figuren laufen kalkig herum, ausgestopft, gepolstert wie aufgeblasene Leichen. Insonderheit das Königspaar, Claudius: Christoph Franzen, Gertrud: Sibylle Canonica, sie spielen virtuos, doch man nimmt sie ebenso wenig ernst wie diesen Hamlet, der selbst die tiefinnigen Textstellen leichthin zu nehmen angewiesen ist und dabei unruhig herumhampelt, jung, unreif, der politischen Komplexität der Situation nicht gewachsen.

Keine Ausnahmen machen da der Polonius von  Max Mayer und selbst die tiefsinnige Ophelia von Linda Blümchen darf nicht die ganz und gar Tragische spielen. Sie läuft, freilich nicht durchwegs, auch mal im Bikini herum und stürzt sich schließlich von der Bühne, den Theatertod durch Ertränken, wie man weiß, wählend –, das wars dann.

Polonius nimmt man immerhin noch die Geschwätzigkeit ab, Shakespeare hat die Figur so angelegt, doch die anderen Rosencrantz (Florian von Manteuffel) und Guildenstern (Lukas Rüppel) verbreiten, nicht nur figürlich ins Groteske verzerrt, eine karikaturhafte Unruhe, dass man als Zuschauer kaum textlich Halt findet.

Residenztheater Muenchen / HAMLET - hier vl. Linda Bluemchen, Johannes Nussbaum, Max Mayer, Christoph Franken, Sibylle Canonica © Birgit Hupfeld
Residenztheater Muenchen / HAMLET - hier vl. Linda Bluemchen, Johannes Nussbaum, Max Mayer, Christoph Franken, Sibylle Canonica © Birgit Hupfeld

Einzig mit der Figur des Geistes von Hamlets Vater (Michael Gempart) gelingt ein Moment eindrucksvoller Nachdenklichkeit, ein sehr bewegender Einfall –, ein alter, nackter Mann kramt in einer leeren Kiste nach den Errungenschaften seines Lebens und verschwindet gebeugt. Freilich steht – auch – diese Szene fast erratisch außerhalb des Zusammenhangs des Bühnengeschehens, sie wird kaum im Vollzug der Handlung erklärt, jedenfalls nicht ausreichend und logisch eingeordnet. Wie man überhaupt das Stück gut kennen muss, um einigermaßen mitzukommen und sich in den Gedankenwindungen der Regie zurechtzufinden.

Ach ja, dann noch dieser Einfall: ein riesiger, aufgeblasener Plastikelefant schwebt durch den Zuschauerraum, bis ihm die Luft herausgelassen wird und er schrumpelig im Nichts versinkt. Erloschene Träume Hamlets? Na ja. Eine Auflockerungsidee.

Kann man im ersten Teil des Abends den Handlungssträngen des Stücks noch einigermaßen folgen (vorausgesetzt man kennt es genau), so verschwimmt die Aufführung nach der Pause im Ungefähren. Nirgends ein Halt. Nur Unruhe, ein Hin– und Hergerenne, Blumenvideos und eine Musik, in der man bruchstückhaft die Anfangsakkorde der 5. Sinfonie von Beethoven herauszuhören vermeint.

Gerede. Und ein völliger Verzicht auf die Handlung des Originals. Zugegeben: auch Shakespeares Schluss wirkt konstruiert und zufällig, die allzu listige und arg von hintenherum kommende Vergiftungskonstruktion befriedigt nicht, doch das ist angesichts des voller Weisheiten und Einsichten,  sprachlichen Besonderheiten und dramatischen Einfällen überreichen Stückes zu verschmerzen. Etwas salopp formuliert wirkt das Ende, als hätte Shakespeare kurz entschlossen den Sack zugemacht. Gut, auch hier gibt es kenntnisreiche oder eher erkenntnishungrige Interpretationen, lassen wir es bei dem Hinweis sein Bewenden haben.

Aus einer Schwäche des Originals im Detail freilich zu schließen, man könne nach einer langen, in Englisch vorgetragenen historischen Erzählung Horatios einfach aufhören, erscheint nicht sehr glücklich. Die sich auf dreieinhalb Stunden ausdehnende Inszenierung löste sich schließlich gleichsam in bloßen Aktivitäten auf, ohne einen inhaltlichen Zusammenhang kenntlich zu machen. Schade. Man verließ die Aufführung, ohne eigentlich zu wissen, was nach der Pause wirklich gespielt wurde.

Heulender Beifall der jungen Zuschauer, eher Zurückhaltung der Älteren

HAMLET im Residenztheater München; die weiteren Termine 7.11.; 23.11.; 24.11.2021

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