Athen, Odeon Herodes Atticus, Belcanto im Schatten der Akropolis - Jonas Kaufmann, IOCO Kritik, 09.10.2021

Athen, Odeon Herodes Atticus, Belcanto im Schatten der Akropolis - Jonas Kaufmann, IOCO Kritik, 09.10.2021
Odeon Theater Herodes Atticus, Athen, im Schatten der Akropolis © A Simopoulos
Odeon Theater Herodes Atticus, Athen, im Schatten der Akropolis © A Simopoulos
Greek National Opera © Logo Greek National Opera
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Greek National Opera

GRIECHISCHE NATIONAL OPER   mit   JONAS KAUFMANN

  BELCANTO IM SCHATTEN DER AKROPOLIS - im - ODEON THEATER HERODES ATTICUS  -

von Peter Michael Peters

Das Odeon Herodes Atticus ist ein römisches Theater, das 161 n. J.C. von Herodes Atticus (101-177 n. J.C.) zum Gedenken an seine im Jahre 160 n. J.C. verstorbenen Frau Aspasia Annia Regilla (139-160 n. J.C.) am Fuße der Akropolis von Athen erbaut wurde. Mit einem Durchmesser von etwa 87 Meter und einem Fassungsvermögen von mehr als 5.000 Plätzen ist es wohl eines der größten und ältesten bespielten Theater der Welt. Dazu von einer einmaligen bewunderungswürdigen Akustik! Die Griechische National Oper produziert jedes Jahr in den Sommermonaten einige Opern, Konzerte und Ballettabende in diesem fast 2000 jährigen Marmortraum.

Genau 1860 Jahre später schmetterte einer der gefragtesten Tenöre unserer Zeit seine Arien durch den sternenbedeckten griechischen Sommerhimmel! Wer ist wohl der erfolgreiche Sieger an diesem Abend: Der Startenor oder die mehrere tausend Jahre alte Kulturwiege Europas? Wir überlassen das Urteil dem Publikum: Fans aus aller Welt, Jetsetter, fanatische Musikliebhaber, natürlich die Athener Schickeria und vielleicht auch einige wirkliche Kunstliebhaber.

Jonas Kaufmann - a magical night at the Herodion of Athens youtube Trailer Marcia M. [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]

Jonas Kaufmann wählte Arien aus italienischen und französischen Opern für sein erstes Konzert im antiken Odeon am 13.9.2021. Sein ständiger Tourenbegleiter, der deutsche Dirigent Jochen Rieder mit dem Orchester der Griechischen National Oper spielten als Einlagen zwischen den Arien Ouvertüren, Zwischenspiele und Intermezzos.

An diesem Abend wurden Werke von Vincenzo Bellini (1801-1835), Giacomo Puccini (1858-1924), Giuseppe Verdi (1813-1901), Georges Bizet (1838-1875), Pietro Mascagni (1863-1945), Jules Massenet (1842-1912), Umberto Giordano (1867-1948), Ernesto de Curtis (1875-1937), Salvatore Cardillo (1874-1947) und Franz Lehár (1870-1948) interpretiert.

Nach einer mit Touren-Routine gespielten Sinfonia aus Norma (1831) sang Jonas Kaufmann mit einer sehr übermüdeten Stimme: „Recondita armonia“ (Arie des Cavaradossi aus Akt 1 / Tosca / 1900).

Jonas Kaufmann hier im ODEON THEATER HERODES ATTICUS von Athen © Haris Akriviadis
Jonas Kaufmann hier im ODEON THEATER HERODES ATTICUS von Athen © Haris Akriviadis

Es folgte ein ohne jegliche Inspiration dahinplätscherndes Prélude aus Aida (1871) und darauf „Se quel guerrier io fossi…“ ( Radames‘ romanza aus Akt I / Aida). Was war geschehen? Dieser Radames ist alt und verbraucht: Es fehlte ihm das innere Feuer, der jugendliche Enthusiasmus, das Siegesbewusstsein eines großen Helden!

Nach der Carmen Suite Nr. I – 2.Aragonaise (1882) und der Carmen Suite Nr. II6. Danse bohème (1887) kam der Opernschlager : „La fleur que tu m’avais jetée“ (Arie aus Akt II / Carmen / 1875). Trotz der Indisposition des Sängers muss man seine französische Diktion und die zart hingehauchten Pianissimo sehr stark bewundern, gewissermaßen ein Markenzeichen von J.K.

Sehr bedauernswert dieses traurige mit zu viel Pathos interpretierte berühmte Intermezzo aus Cavalleria rusticana (1890). Jedoch die Arie und Szene des Turiddu aus der gleichnamigen Oper „Mamma, quel vino è generosa“ wurde mit viel Großzügigkeit und Gelassenheit vorgetragen.

In einer kurzen Pause für die Musiker erklärte der sympathische Jonas Kaufmann, das die Theaterleitung wegen COVID-Beschränkungen den Sänger weit entfernt vom Orchester platzieren musste. Das jedoch hatte Interpretierungsprobleme, denn normalerweise sollte in diesem antiken Theater der Solist inmitten des Orchesters sein. J.K. demonstrierte es mit einem kurzen Arienauszug: Das klang weitaus besser! Und das Publikum bedankte sich mit stürmischem Applaus…

 Jonas Kaufmann und das Griechische National Orchester im ODEON THEATER HERODES ATTICUS von Athen © Haris Akriviadis
Jonas Kaufmann und das Griechische National Orchester im ODEON THEATER HERODES ATTICUS von Athen © Haris Akriviadis

Im zweiten Teil erschien alles viel leichter zu sein! Endlich hatte Jochen Rieder das Orchester wohl fest im Griff und er ließ eine eindrucksvolle Sinfonia aus La Forza del destino (1862) erklingen. Der Star des Abends, J.K., hatte den Frack in der Garderobe gelassen und kam mit einem Straßenanzug und offenem Hemd locker auf die Bühne. Er sang die Arie des Rodrigue „Ah! Tout est fini… Ô souverain, ô juge, ô père“ aus Le Cid (1885). Das war endlich große Gesangskunst mit traumhaften Phrasierungen, mit unendlichen Farbnuancen und seine baritonale Tenorstimme schwang sich aus tiefsten Tiefen in schwindelnde Höhen hinauf. Mit Sicherheit war das ein Gänsehauteffekt! Vor lauter Begeisterung vergaßen wir das ein- und aus Atmen! Was war geschehen? War der erste Teil nur ein Einsingen in eine unbekannte antike Atmosphäre? Oder die Repetitionen vor dem Konzert waren nicht ausreichend genug? Wir wissen es nicht! Wir werden es niemals wissen! Aber die Götter des Olymp gewiss…!

Vom gleichen Komponisten das Oratorium La Vierge (1880) mit einem Auszug: Szene IV, Prélude „Le dernier sommeil de la Vierge“, Andante religioso. Ein Werk voller schwärmerischer und sensueller Empfindsamkeiten, aber wohl ein wenig zu viel versüßter Kitsch à la Massenet. Das Orchester hatte wohl diese samtige tränenreiche Musik sehr gut unter der Haut, denn das Publikum war äußerst berührt.

Die große Arie des Andrea Chénier im Akt I aus der gleichnamigen Oper (1896) „Un di all’azzurro spazio“ war ein einmaliges Erlebnis, denn man spürte, das der Sänger wieder sein inneres Feuer zurück gewann: Sein ganz persönlicher Interpretationsstil, das totale Hineinschlüpfen in eine Rolle! Der Andrea Chénier erscheint uns völlig neu mit seinen endlosen seelentiefen quälenden Gedanken. Auch ein Markenzeichen von J.K. …!

Eines der schönsten Intermezzo der veristischen Oper ertönte in zartesten Tönen durch die laue Sommernacht umgeben von antiken Kostbarkeiten: Intermezzo aus Akt II von Manon Lescaut (1892). Diese besondere spirituelle Erfahrung werden wir in unserem Innern eingraben: Der Zusammenklang der endlosen und ewigen Schöpfung in Frieden und Schönheit. Das Orchester der Griechischen National Oper gehört natürlich nicht zu den großen internationalen Phalangen, jedoch der mit guten talentierten ersten Solisten bestückte Klangkörper bewies ein ausgewogenes Musizieren.

Der Abend endete mit: „Nessun dorma“ Arie des Calaf, Akt III aus Turandot (1926). Diese Arie ist wohl ideal für die schon genannten Qualitäten von J.K. Aber hier hat er sich wohl selbst übertroffen: Seine strahlende Stimme wetteiferte mit dem Strahlen der Sterne!

Jonas Kaufmann und das Griechische National Orchester im ODEON THEATER HERODES ATTICUS von Athen © Haris Akriviadis
Jonas Kaufmann und das Griechische National Orchester im ODEON THEATER HERODES ATTICUS von Athen © Haris Akriviadis

Mit orkanartigem Jubelgeschrei endete ein Konzert und ließ den ersten mageren Teil des Abends fast vergessen: Bravo, J.K. …!

Aber das Fest war bei weitem noch nicht zu Ende: Denn der großzügige Startenor lieferte uns noch vier Zugaben! Das war dann wohl der Höhepunkt des festlichen Abends mit einem entspannten umjubelten Künstler, der alle seine Besonderheiten seiner Gesangskunst voll beweisen konnte.

In der ersten Zugabe zeigte uns J.K. eine symbolhafte von Todesangst geprägte Interpretation und bekräftigte dass er schon mit den Sternen vereint war. Unserer Meinung kann nur er diese Seelenfarben und Nuancen in seiner Stimme überzeugend vereinen und erzeugen! Die Arie des Caravadossi „E lucevan le stelle” / Akt III aus Tosca.

Die folgenden zwei Zugaben waren zwei berühmte populäre italienische Lieder:

„Ti voglio tanto bene…“ und “Catari’, Catari’ (Core ‘ingrato)…”. Diese kleinen raffinierten italienischen Kostbarkeiten sind bei J.K. unweigerlich eine genetische Vererbung, mit seiner extraordinären Beherrschung der italienischen Sprache singt er diese sentimentalen Lieder ohne verzuckerten Pathos und ohne jegliche schmalzige Wiedergabe. Das ist Interpretationskunst auf höchstem Niveau! Nicht umsonst wurde er im Lande des Belcanto bei einer Umfrage als einer der italienischsten ausländische Sänger gefeiert.

Die allerletzte Zugabe war die weltbekannte Melodie, von Richard Tauber (1891-1948) in den dreißiger Jahren gesungen: „Dein ist mein ganzes Herz…“. Auch hier beweist der Sänger seinen Respekt vor der sogenannten kleinen Form: Er interpretiert alles äußerst seriös wie ein deutsches Kunstlied und das nennen wir kreative Interpretation…!

Das Publikum feierte ihn mit großem Applaus und viele schrien Bravo! Hurra! ja sogar eine Dame hinter uns mit einem starken griechischen Akzent jubelte laut in Deutsch: „Wir lieben Dich!“ War das eine kosmopolitische Liebeserklärung?

So ging trotz schweren Anfangs ein überwältigender Abend zu Ende: Und es wurde doch noch eine seltene Sternstunde! Wir gingen lautlos in der lauen Sommernacht mit einem letzten Gruß an die Akropolis langsam nach Hause mit einer stillen Zufriedenheit…

PMP/09.10.2021

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