Freiburg, Konzerthaus Freiburg, SWR Symphonieorchester - Prokofiew - Schostakowitsch, IOCO Kritik, 13.02.2019

Freiburg, Konzerthaus Freiburg, SWR Symphonieorchester - Prokofiew - Schostakowitsch, IOCO Kritik, 13.02.2019
Konzerthaus Freiburg © FWTM
Konzerthaus Freiburg © FWTM

Konzerthaus Freiburg

SWR Symphonieorchester - Im Konzerthaus Freiburg

- Prokofiew, Schostakowitsch -

von Julian Führer

Zwei große Werke des sowjetrussischen Repertoires standen am

26.1.2019

auf dem Programm im Rolf-Böhme-Saal. Vor der Pause spielte Anna Vinnitskaya das zweite Klavierkonzert in g-Moll opus 16 von Sergej Prokofiew, ein Werk mit horrenden technischen Schwierigkeiten. Dieses Konzert wurde zweimal uraufgeführt, einmal 1913 und einmal, da die Originalpartitur in den Wirren von Revolution und Bürgerkrieg verlorengegangen war, in einer Neufassung Prokofiews auf der Basis eines erhaltenen Klavierauszugs 1923. Beide Male reagierte das Publikum teils reserviert, teils offen ablehnend. Der reichlich zehnminütige Kopfsatz ist noch fast am einfachsten zu meistern, doch beschleunigt sich das Tempo, und eine lange Kadenz fordert von der Solistin ganzen Einsatz. Im großen Saal des Konzerthaus Freiburg ließ Michael Sanderling als Dirigent das Orchester zunächst zurückhaltend begleiten, um der Solistin den nötigen Raum zu lassen. Anklänge an die fast pointillistischen Visions fugitives Prokofiews waren hörbar.

Der zweite Satz, ein wildes, gerade einmal gut zweiminütiges Scherzo, erfordert von der Solistin die maximale Konzentration, denn in den rasenden Läufen wäre eine einzige falsche Note wahrscheinlich das „Ende“. Der dritte Satz (Intermezzo: Allegro moderato) erinnert zunächst an die bekannten Marschthemen aus Romeo und Julia. Im Finale (Allegro tempestoso) wird das Tempo noch einmal gesteigert; allein die Zahl und die schnelle Abfolge der Übergriffe, bei denen die rechte Hand tiefer als die linke Hand oder die linke Hand höher als die rechte Hand spielt, zeigt den technischen Anspruch, den der junge Prokofiew an seine Pianisten hatte, als er das Konzert mit gerade einmal 21 Jahren komponierte. Anna Vinnitskaya schien äußerlich gänzlich unbeeindruckt von den Anforderungen ihres Parts. Im Freiburger Saal klangen die Holzbläser etwas zu leise im Gesamtzusammenhang – vielleicht bedingt durch ihren Platz hinter dem aufgeklappten Flügeldeckel. Michael Sanderling führte das Orchester mit sparsamer, doch präziser Gestik, und passte sich geschmeidig dem Solopart an. Das Freiburger Publikum von 2019 zollte der Solistin großen Respekt für ihre Leistung; vielleicht kann dieses Konzert in Zukunft doch noch häufiger erklingen.

Konzerthaus Freiburg / SWR Symphonieorchester © SWR/Wolfram Lamparter
Konzerthaus Freiburg / SWR Symphonieorchester © SWR/Wolfram Lamparter

War der Orchesterapparat bei Prokofiew schon groß, so traten für das nächste Werk noch mehr Musiker aufs Podium: Die 10. Symphonie in e-Moll op. 93 von Dmitri Schotakowitsch. Dieses je nach Interpretation reichlich fünfzigminütige bis knapp einstündige Werk beginnt mit einem ersten Satz (Moderato), der für sich genommen schon über zwanzig Minuten intensiven Musizierens verlangt. Die tiefen Streicher intonieren zunächst unisono ein düsteres Motiv; nach etwa zweieinhalb Minuten kommt erst eine Klarinette mit einem zart vorgetragenen zweiten Motiv dazu. Der Satz baut sehr langsam, aber kontinuierlich scharfe Dissonanzen im Blech auf, die mit Trommelsignalen und Gongschlägen begleitet werden. Die Klangwelten der elften Symphonie kündigen sich hier an. Die Faktur des Satzes ist hochkomplex und bietet sowohl lange grüblerische Passagen als auch laute Ausbrüche. Michael Sanderling erwies sich als intimer Kenner der Partitur, gerade im ersten Satz gestaltete er ein klares Klangbild (nun auch mit sehr transparent gehaltenen und gut hörbaren Holzbläsern, einer sehr wichtigen Instrumentengruppe in diesem Satz). Die Präzision des SWR-Symphonieorchesters in diesem Satz war beeindruckend. Der Erkältungsgrad des Publikums wirkte manchmal einer wirklich konzentrierten Aufnahme der Darbietung entgegen, doch lag dies nicht an den Musikern.

Der zweite Satz, der berühmteste der ganzen Symphonie, dauert nur vier Minuten und skizziert in alptraumhafter Verzerrung eine bedrückende Situation, vielleicht Stalin selbst. Auf jeden Fall setzen die Streicher mit schroffen Akkorden ein, zu denen aus Oboen und Klarinetten eine kurze Melodie erklingt, die fortan weiterentwickelt wird. Alles an diesem Satz ist gedrängt, schrill, auch laut. Im folgenden Allegro entwickelt Schostakowitsch in einer für ihn charakteristischen Manier eine kleine, unscheinbare Melodie, die mit entsprechender rhythmischer Grundierung zu einer clownesk überdrehten Groteske gesteigert wird.

Der vierte Satz beginnt wieder mit einer langsamen Introduktion, die von einem Allegro abgelöst wird, in dem es ausgelassen zuzugehen scheint, allerdings einmal mehr eine Spur zu hoch, zu schnell, zu lärmig oder mit einer seltsamen Zuordnung der Instrumentengruppen, wenn zum Beispiel ein Solofagott übermütig eine eigentlich dem hohen Holz zugedachte Musik übernimmt und damit fröhlich vor sich hinpoltert. Ähnlich wie im Schlusssatz der fünften Symphonie hämmert das ganze Orchester in scheinbarer Affirmation vor sich hin; in der „Fünften“ mündet das Fortissimo in einem auf einmal leeren Schlussakkord ohne klare Harmoniezuordnung, in der „Zehnten“ in einer lauten Fanfare des Blechs auf die Noten D-Es-C-H (DSCH, die Initialen von Dmitri Schostakowitsch); es folgt eine Pause und dann ein abermaliger Anlauf zu einem erneut übermütig scheinenden Finale mit polternder Pauke und dröhnendem Schlussakkord.

Die Symphonie insgesamt ist wahrscheinlich unmittelbar nach dem Tod Stalins entstanden und wurde Ende 1953 unter Jewgenij Mrawinsky uraufgeführt. Verschiedene Interpretatoren haben ein Seelenporträt des Komponisten darin sehen wollen, eine chiffrierte Schilderung seiner Seelenzustände und im zweiten Satz ein Porträt Stalins. Dies alles ist durchaus möglich, aber die Wirkung der fordernden Komposition ist auch ohne diese sehr konkreten Deutungen gesichert. Der Kontrast zwischen Grübelei im ersten Satz, einer musikalischen Horrorvision im zweiten Satz, Clownsmusik im dritten Satz und einer Mischung all dieser Stimmungen im Schlusssatz verfehlte auch in Freiburg ihre Wirkung nicht. Michael Sanderling traf mit dem SWR-Symphonieorchester einen Tonfall, der allen diesen Schattierungen gerecht wurde – wofür alle Beteiligten lange und vollkommen zu Recht gefeiert wurden. Ein anspruchsvolles Konzert, das die Erwartungen voll erfüllen konnte.

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