Wismar, Kirche St. Georgen, Festspiele Mecklenburg-Vorpommern, Blomstedt, Mühlemann, NDR Elbphilharmonie Orchester, IOCO

13.06.2025
Bach, Beethoven, eine Uraufführung und ein charismatischer Dirigent
Festspiele MV in Wismar eröffnet
Der Startschuss ist gefallen, die Eröffnung vollzogen: Am Freitag, dem 13. Juni, – Achtung: kein schlechtes Omen! - ging sie in Wismars grandioser gotischer Backsteinkirche St. Georgen über die Bühne, jener Auftakt des Festspielsommers 2025, mit dem die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern ihre wieder beeindruckende Sommer-Konzertreihe begannen. Sie reicht vom 13. Juni bis zum 14. September, bietet 136 Veranstaltungen teils in ausgewählten thematischen Reihen samt einigen Begleitprogrammen und bezieht dabei landesweit 96 Spielstätte ein. Repräsentativer kann sich ein Unternehmen – der „Festspielfrühling“ (21. bis 30. März) sowie ein „Festspielwinter“ (3. bis 14. Dezember) inbegriffen – kaum präsentieren.
Immerhin reden wir vom drittgrößten Klassikfestival Deutschlands. Und fügen hinzu: im 35. Jahr seines Bestehens! Damit ist es, 1990 gegründet und seit 2010 Festspiele MV-Stiftung, um ein Geringes älter als das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern selbst. Insofern bündeln sich hier – in Grußworten von Ministerpräsidentin Manuela Schwesig und Festspiele-Intendantin Ursula Haselböck hervorgehoben – zwei miteinander eng verbundene Erfolgsgeschichten!
Zurück zu Wismar. Die Kirche rappelvoll, auf der Interpretenliste das NDR Elbphilharmonie Orchester, die Sopranistin Regula Mühlemann (Schweiz), der Kammerchor der Hochschule für Musik und Theater Rostock (HMT) und sein Leiter Csaba Grünfelder, sowie – als Kultdirigent und schon Legende zu bezeichnen – Herbert Blomstedt, hoch in den Neunzigern, aber nur hinsichtlich der Bewegungsmöglichkeiten eingeschränkt. Ein Abend nicht ohne Charismatik und – natürlich ¬ mit künstlerischen Begegnungsmöglichkeiten der besonderen Art.
Die erste: quasi als „Ouvertüre“ (und so auch vom Veranstalter als jährlich sich ändernder Einstieg mit einem uraufzuführenden Auftragswerk gemeint und benannt) war eine Gemeinschaftsarbeit dreier Kompositionsstudenten der HMT Rostock: Ioannis Zabczuk Behrend (*1997) mit „Autem factus sum vir“, Leon Kropp (*1999) mit „Omnia sustinet“ und Yoona Hong (*2000) mit „Caritas nunquam excidit“, alles (lateinisch vertonte!) Texte aus dem biblischen „Hohelied der Liebe“; gemeint ist aus dem Neuen Testament der 1. Brief des Paulus an die Korinther (Kapitel 13).
Das Ergebnis ist ein erstaunlich einheitlich wirkender ca. Zehn-Minuten-Zyklus über Texte, die zu vertonen so attraktiv wie schwierig sein dürfte. Für Wort-Ton-Beziehungen gibt es reizvolle Angebote, aber sie scheinen sich prägnanterer musikalischer Darstellung im Einzelnen zu entziehen. Es bleibt wohl eher (lohnende!) Aufgabe, Gefühlslagen, Befindlichkeiten, Stimmungen und Athmosphärisches im Text zu erkennen, es jeweils individuell musikalisch zu fassen und den Hörer „mitzunehmen“ auf eine Klangreise, in der sich Textliches und Musikalisches zu verbinden suchen. Auch wenn das mit der Textverständlichkeit (im Riesenraum und lateinisch) so eine Sache war, es gelang den Komponisten wie den Interpreten, diese rund zehn Minuten durchgehend auf klanglich spannende Weise zu füllen.

Unverkennbar die Fähigkeiten der hier nur dem Klangeindruck nachgehenden und pauschal als „Dreiheit“ zu charakterisierenden Autoren, mit dem vielstimmigen Vokalsatz handwerklich professionell umzugehen. Deutlich die Absichten, musikalische Abläufe kontrastierend zu gestalten, dynamische Vielfalt walten zu lassen und mit mal mehr, mal weniger deutlicher rhetorischer Gestik für auch artikulativ reiche Gestaltung zu sorgen. Und damit für Lebendigkeit. Der musikalische Satz ist oft von erstaunlicher Dichte, kennt aber auch Soli und musiksprachlich unterschiedliche Ausdrucksweisen. Expressivität wird ebenso wenig vermisst wie der Hang zur Linearität, was auch für eine gewisse Stringenz der Bewegungen sorgt. Deutlich auch der Bezug zu chorischen Traditionen bis hin zur Renaissance, die Nutzung von bewährten Ausdrucksmodellen in allerdings recht unorthodoxer Form.
Was dann auch zum Harmonischen führt, das oft freitonal und sehr klanggeschärft erscheint, ohne auf Avantgardistisches Anspruch zu erheben. Da hatte man am Ende doch das Bedürfnis, den kleinen Zyklus mehrmals zu hören. Zumal die Sicherheit der kompositorischen Arbeit mit der Sicherheit und Souveränität der Ausführung durch den Kammerchor der HMT bestens miteinander korrespondierten und ein ungemein kompetenter Csaba Grünfelder am Pult interpretatorisch keine Wünsche offen ließ.

Ein in dieser Hinsicht ebenfalls reines Vergnügen war die Aufführung der Bachschen Kantate „Jauchzet Gott in allen Landen“ BWV 51. Es mag manchen etwas irritiert haben, im Rahmen eines solchen Konzertes einer Kantate des Thomaskantors zu begegnen. Aber dieses Werk hat dafür sprechende Besonderheiten: Es folgt – so der Bachspezialist Alfred Dürr – fünf charakteristischen Satzprinzipien des Barock: Konzert (1. Satz), Monodie (2. Satz), Ostinatovariation (3. Satz), Choralbearbeitung (4. Satz) und Fuge (5. Satz). Hinzu kommt, dass es sich um eine Solokantate handelt (Sopran) und Bach dem Streichorchester eine Solotrompete (für einen in Weißenfels wohnenden, bekannten Virtuosen?) zuordnet. Neueste musikwissenschaftliche Hypothesen sprechen nämlich davon, dass Bach als Titularkomponist des Herzogs Christian von Weißenfels diese „Cantata“ - so Bachs eigenhändige,seltene direkt verwendete Bezeichnung – 1730 für eine nichtliturgische Aufführung an dessen Hof geschrieben hatte.
Inbegriffen die Überlegung, dass Bachs Frau Anna Magdalena, bekannt als begnadete Sängerin, für die Ausführung der Soloparie in Betracht hätte kommen können; der handfeste Beweis (Aufführungsbeleg) fehlt allerdings. Die Zuordnung der Kantate zum 15. Sonntag nach Trinitatis, also in einen damit liturgischen Rahmen, ist erst eine spätere Zuweisung Bachs!
Dass dieses Werk im Wismarer Programm beste Figura machte, stand schnell außerhalb jeden Zweifels. Für Blomstedt war es, wie zu hören, eine Herzenssache, für die Schweizer Sopranistin Regula Mühlemann wohl nicht weniger. Die gefeierte Sängerin, die nach eigener Aussage relativ spät zu Bach kam, meinte, er treffe ihr Lebensgefühl, mit ihm gehe es ihr „äußerst gut“.
Und: „bin bei Bach sehr emotional“. Was zu hören, besser: zu erleben war. Die Stimme groß, die Tongebung klar, das Timbre charakteristisch, die Technik virtuos. Das Ergebnis gemeinsam mit (kleinbesetztem) Streichorchester und brillantem Solotrompeter: Ein wahrlich jauchzendes Gotteslob, rasant, brillant, inspiriert und schwungvoll musiziert oder – je nach Text und Gefühlslage – versunken, von zeitloser, verinnerlichter Schönheit und gefühlvoller Intensität. In den hinteren Reihen des riesigen Kirchenraumes musste man sich aber schon sehr anstrengen, um davon zumindest teilweise zu profitieren.
Zum Glück war für den sinfonischen Beitrag des Abends auch dort das akustische Bild deutlich besser. Blomstedt brach lobenswerterweise eine Lanze für Beethovens 2. Sinfonie (D-Dur op. 36). Nicht unnötig, dies hervorzuheben, denn in der Musikpraxis spielt diese Sinfonie (und manche andere) eine deutlich geringer bewertete Rolle. Für manchen Musikfreund beginnt der Sinfoniker Beethoven erst mit der 3. Sinfonie, der dann in der Wertungsfolge die 5., die 7. und die 9. folgen. Dazwischen also nur heiße Luft? Die Blohmstedtsche Aufführung lieferte sehr überzeugend den Gegenbeweis.
„Eine Kampfansage in D-Dur“ - so titelt der Beitrag zur Sinfonie im Programmheft (Isabel Schubert). Und da ist einiges dran: Persönliches (beginnende Ertaubung, Heiligenstädter Testament) und Künstlerisches, Gattungsgeschichtliches. Denn Beethoven, den verehrten Traditionen nur noch sehr eigengeprägt, sie verändernd und erweiternd verbunden, betrat schon hier neue Wege und verblüffte die Zeitgenossen mit diversen, selbst von der fachkompetenten Öffentlichkeit nicht selten mit heute gewaltig überspitzt scheinenden Überraschungen („krasses Ungeheuer“, sich windender Lindwurm“, „zu lang, zu bizarr, wild und grell“). Historisch lassen sich solche Urteile einordnen, sogar verstehen. Heute käme man auf solche Gedanken eher nicht. Schon gar nicht bei Blomstedt und der Elbphilharmonie. Ersterer, nunmehr sitzend, und, wie immer, mit äußerst sparsamen Bewegungen, Letztere in musizierfreudiger Hochform, beide an dem einen Strang ziehend, der da heißt: jede Gelegenheit zu nutzen, um auch die geringfügigste Möglichkeit differenziertester Gestaltung wahrnehmen zu können. Das Ergebnis: ein Beethoven der vielen Seiten, einer, der, weil mit größter Sachkompetenz musiziert, regelrecht begeistern konnte.

Der gestalterische Flexibilität besaß, ständig pulsierte, energisch vorangetrieben wurde und von stringenter Faszination war, der aber auch lyrisch versonnen daherkam, auch heiter humoresk, der es vermochte, die feine Klinge zu schlagen oder den großen Hammer zu nutzen. Und der letztlich zu verdeutlichen vermochte, was alles in diesem Werk steckt, was man aus ihm herausholen kann. Blomstedt und die Elbphilharmonie schafften das außerordentlich überzeugend. Den Sinn schärfen für Details wie fürs Große, Neugier zu wecken dort, wo man glaubt, alles schon zu kennen, genaues Hinhören als lohnende „Aufgabe“ zu provozieren. Bedeutet: Erkenntnisgewinn und denkbar großer Kunstgenuss in einem. Was will man mehr!