Ulrichshusen, Festspiele Mecklenburg-Vorpommern, IOCO

Ulrichshusen, Festspiele Mecklenburg-Vorpommern, IOCO
Preisträger copyright Oliver_Borchert

  1. Juli 2025

    Furios musizierte Geburtstagsgrüße am Festspielwochenende zum „Fünfunddreißgsten“ auf Ulrichshusen

 

Die Festspiele Mecklenburg-Vorpommern feiern sich selbst! Und das sehr zu Recht und das gesamte Jahr über. Schließlich sind 35 Jahre einer nahezu beispiellosen Erfolgsgeschichte jede Feierlichkeit wert!

Einen Kernpunkt gab es dennoch: ein Wochenende auf Schloss und Gut Ulrichshusen, zu dem man kürzlich am 26./27. Juli unter dem traditionellen Motto „360º“ zum „Festspiele MV: Geburtstagswochenende“ eingeladen hatte. Der besondere Reiz des diesjährigen Rundumblicks: die Teilnahme eines knappen Dutzend ehemaliger Preisträger der Festspiele MV, zumeist auch überaus erfolgreiche „artists in residence“. Die sind teils seit mehr als zwei Jahrzehnten bei den Festspielen „zu Hause“ und gehören inzwischen international zu den Besten ihres Faches. Und sie präsentierten musikalische Glückwünsche vom Feinsten!

Ensemble Reflektor copyright Oliver_Borchert

Emmanuel Tjeknavorian (Violine) und Daniel Müller-Schott (Violoncello) etwa, die unter dem sehr zutreffenden Veranstaltungsmotto „Ziemlich beste Freunde“ den Reigen im Saal des Schlosses Ulrichshusen eröffneten und mit Duo-Kompositionen von Zoltán Kodály (Duo op. 7), Maurice Ravel (Sonate „A la mémoire de Claude Debussy“) und Johan Halvorsen (Passacaglia g-Moll über ein  Händel-Thema für Violine und Viola, arr. für Cello) schon gleich zu Beginn der zweitägigen Gratulationscour für Begeisterungsstürme sorgten. Was angesichts einer selten zu erlebenden Besetzung und einem eher unbekannten Repertoire so selbstverständlich nicht ist. Vom Respekt eines kompetenten Publikums gegenüber meisterlichen Kompositionen ganz zu schweigen.

Zweisamkeit also auf höchst anspruchsvollem Niveau, auch die Interpreten betreffend. Sie meisterten Stücke von stärkster Ausdrucksdichte und mitreißendem Schwung. So bei Kodálys Duo, einem nahezu halbstündigen, von enormer Konzentration, spielerischer Verve und kontrastreicher Anlage geprägten Werk, das nicht zuletzt mit fantasievoller Einbeziehung ungarische Folklore besticht.  

Bei Ravel gab man sich kühler, linearer und stilistisch „neutraler“. Gleichwohl aber vermag auch er mit vielen Überraschungen zu fesseln. Mit Halvorsen schaffte man es dann, jede Fessel zu sprengen und mit seiner so attraktiven wie musikantisch hinreißenden Instrumentation einer Cembalo-Suite (aus Nr. 7, HWV 432)) den einleitenden Vormittag bravourös zu beenden. Mit Traumnoten für das Duo Tjeknavorian und Müller-Schott!

Faure-Quartett Schorn copyright Oliver_Borchert

Mit solchen konnte man dann gleich am Nachmittag weiter um sich werfen . „Große Kammermusik“ stand in Ulrichshusens Konzertscheune auf dem Programm - und damit eine große Verheißung! Wie auch nicht, wenn Matthias Schorn (Klarinette), Daniel Müller-Schott (Violoncello) und Frank Dupree (Klavier) einem „Ohrwurm“ wie Beethovens „Gassenhauer-Trio“ (op. 11) alle Vorzüge kunstvollster Gestaltungsvielfalt angedeihen lassen und dabei durchaus individuelle, neue Verständnis-Fenster öffende Wege gehen. Oder Noa Wildschut (Violine), Benjamin Kruithof (Violoncello) und Frank Dupree (Klavier) dem Klaviertrio-Erstling (op. 8) Schostakowitschs die schon recht persönlichen Züge eines verliebten Jünglings zu verleihen imstande sind. Beide Fälle waren beeindruckende Beispiele für ein Höchstmaß dessen, was gestalterische Fähigkeiten und musikantische Inspiriertheit einem zunächst wenig offenbarenden Notentext zu entlocken vermögen. Es ist immer wieder ein Faszinosum, wenn sich sehr bekannte Stücke auf neue Werise zu präsentieren scheinen und damit mächtige Anreize bieten für staunend konzentriertes Hinhören!

Für Eden Ahbez`(1908-1995) „Nature Boy“ (plus M. Schorn, Klarinette), ein durch Nat King Cole berühmt gewordener, kurzer und gut anzuhörender „Ohrwurm“, traf das eher weniger zu, für das 1. Streichsextett (op. 18) von Brahms aber schon! Hier schafften es Viviane Hagner und Noa Wildschut (Violine). Nils Mönkemeyer und Wen Xiao Zheng (Viola), Daniel Müller-Schott und Benjamin Kruithof (Violoncello) gerdezu süchtig machende Streicherklänge zu entfalten, wunderbar differenziert in ihren variantenreichen, schon fast optisch greifbar scheinenen, schillernden „Farben“, fesselnd mit einer Tongebung von fast schmerzender Intensität und (be)zwingender, atemlos machender Stringenz. Da ertappt man sich schon bei dem Wunsch, das möge nie aufhören...

Tjeknavorian, Ensemble Reflektor copyright Oliver_Borchert

Aber – und das ist gut so – es gibt auch das ganz Andere. Etwa den flott moderierten, durchweg unterhaltsamen Ausklang am späten Abend in der Remise Ulrichshusens („Geburtstagslounge Late Night“). Garanten fürs Gelingen waren hier das Fauré-Quartett (Klavierquartett), der Klarinettist Matthias Schorn und ein entsprechend locker gestricktes Programm. Und das reichte von entsprechend arrangierten Liedern Gabriel Faurés („Notre amour“, op. 23/2; Aprèes un rêve“ op.7/1) über Eduardo Huberts (*1947) „Faurétango“  und zwei Auszügen aus Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“ - alles für Klavierquartett arrangiert – bis zu einem dann auch umfangreicheren Originalwerk für Klarinette und Klavierquartett: Jarkko Rihimäkis (*1974) „The Last 11 Years“.  Stilistisch also eine Wanderung, die von der feingliedrigen, hochmelodischen und schmeichlerisch-romantischen Musik Frankreichs über recht lebendigen, teils klangmassiven argentinischen Tangosound und russische, hier sehr (gewöhnungsbedürftig) klangstark präsentierte Realistik („Baba.Yaga“, „Das große Tor von Kiew“) zur so eigenwillig wie stilistisch bunt gemixten Moderne des finnischen Tausendsassas Rihimäki führte. Letzteres für „Schorny“ und das Fauré-Quartett geschrieben, spart nicht mit assoziativen, ja illustrativen Bezügen zur langjährigen gemeinsamen Zusammenarbeit (11 Jahre auf Rügen, Festspielfrühling!). Fünf Sätze mit den Titeln Dawn, Distancia, Cadenza, Cliff, Finale, 22 Minuten Spieldauer und eine weitgehend tonale, recht frei die „Vokabeln“ zwischen Romantiker-Zitat und Jazzigem wechselnde, auf vielfache dynamische Kontraste setzende musikalische Sprache zielten geradezu obsessiv auf Neugier und Wachheit eines Publikums, das dazu schon fast provokativ aufgefordert wurde: sicher  d e r  Knüller im insgesamt flott unterhaltsamen Programm.

35 Jahre Festspiele MV, das sind auch 35 Jahre einer Entwicklung, die sich, unabhängig vom stets garantierten und denkbar hohen künstlerischen Standard ihrer Protagonisten, vor allem in einer ständig sich ändernden und wachsenden Vielfalt der Darbietungsformen äußert. Immer wieder Neues, Anderes, Variables, Variiertes, Ungewohntes in den Programmen und in den so unterschiedlichen wie architektonisch so reizvollen bislang 468 (!) berücksichtigten Spielorten. Dies eine wichtige Seite des anhaltenden Erfolgs, wesentlich ergänzt von einer „Arbeitsatmosphäre“, die einen Gegensatz von „die da vorn“ und „die im Saal“ von Anfang an nicht kannte. Langjährige Besucher schätzen etwa eine Atmosphäre, für die der Begriff des Familiären zweifellos zutrifft. Erneut eindrucksvoll und sehr unterhaltsam unterstrichen dann am sonntäglichen Vormittag beim „Happy Birthday“ im Saal des Schlosses Ulrichshusen. Eingeladen: N. Wildschut, N. Mönkemeyer, M. Schorn, D. Müller-Schott und F. Dupree, dazu die NDR-Moderatorin Anna Novák, die im lockeren Gespräch – unterbrochen von einigen Musikdarbietungen -  mit jungen wie „älteren“ Protagonisten der Festspiele MV für einen auch im Saal sonnigen, weil heiter-gelösten Vormittag sorgte. Nichts Gedrechseltes war da zu hören, dafür viel sehr ehrlich Persönliches, Nachdenkliches, Bedenkenswertes, natürlich auch Heiteres zu vielen vergangenen Jahren. Und eine Quintessenz, die übereinstimmend besagte: Ohne die Festspiele MV wäre unser Leben als Interpret, als Musiker,  als Voraussetzung für unsere künstlerische Entwicklung ganz anders, mit Sicherheit aber kaum so erfolgreich verlaufen. „Schorny“ brachte es auf den Punkt: „Ich erlebte und erlebe hier etwas, was man sich nicht herunterladen kann.“ Dafür gab es im Saal viel Zustimmung! Auch für viel richtigen Spaß bei und mit einem festspielorientierten WISSENS-QUIZ, bei dem sich die Künstlergruppe und eine freiwillige Publikumsgruppe recht muntere Punkteschlachten lieferten. Wie sympathisch! Und wie passend!  

copyright Oliver_Borchert

N

ach solch „retardierendem Moment“ hieß es in der großen Konzertscheune abschließend: „Großes Geburtstagsfinale mit Mozart und Beethoven.“. Zu erleben war das „ensemble reflektor“, ein 2015 in Hamburg gegründetes „norddeutsches“ Kammerorchester, das sich nicht nur selbst verwaltet und unabhängig ist, sondern sich auch als Botschafter einer „Musikkultur ohne Grenzen“ versteht. Auf dieses interessante und folgenreiche Selbstverständnis sei hier nicht weiter eingegangen, zumal das Ulrichshusen-Konzert in seinem Zuschnitt traditionellem Muster folgte. Was nicht heißt, dass mit Mozarts G-Dur-Violinkonzert KV 216, der Ouvertüre zu „Die Geschöpfe des Prometheus“ op. 43   und der 7. Sinfonie A-Dur op. 92 von Beethoven nicht doch besondere Akzente gesetzt wurden. Weniger bei einem von Emmanuel Tjeknavorian als Solist wie Dirigent souverän musizierten Mozart, der mit munter inspirierter Spielfreude, bildschönem, noblem Klang und dynamisch feinst ausdifferenzierter Mozartscher Kunstfertigkeit viel Freude machte, bei Beethoven aber schon. Er gehört, wie zu lesen, zu den vom Ensemble besonders intensiv gepflegten Meistern. Was denn auch sehr deutlich wurde. Unklar blieb lediglich, ob der Furor, mit dem beide Werke, vor allem aber die Sinfonie präsentiert wurden, zum (selbst erarbeiteten gestalterischen) Standard des Ensembles gehörte oder den Vorstellungen des hier mit nicht weniger furioser Leidenschaft, ja mit geradezu imperialer Geste dirigierenden Tjeknavorian zuzuschreiben waren. Wie dem auch sei: Beide Werke gerieten zur Demonstration zwar ungemein disziplinierter, aber von enormem Feuer, ungeheuren Spannungen und nahezu extremer Kontrast- und Konflikthaftigkeit getragener Interpretation; voller Aktivität – gelegentlich am Rande des Aktionismus – furios, aber nicht hektisch, und von beschwörender Gestik. Im Übrigen dynamisch auch bis in die zartest klingende oder lyrisch singende Ecke durchgearbeitet. Solche triumphalen Klänge hat die einiges gewohnte große Konzertscheune selten erlebt. Die anschließende Begeisterung dürfte der der legendären Aufführungserfolge 1813 und 1814 in Wien geähnelt haben, seinerzeit aber wohl noch potenziert durch den aktuellen Zeitbezug (Patriotismus, Befreiungskriege gegen Napolen). Aber noch heute dürfte Beethovens allgemein formuliertes Ziel, mit seiner Musik „Veränderungen in jedem Hörenden hervorzubringen“, unverschlissen beeindruckende Gültigkeit besitzen!     

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