Torsten Kerl, Interview, Teil 3, IOCO
Vom der Bühne zu Schreibtisch und Telefon- Die Gründung der Agentur TK-IAM
IOCO: Der zentrale Einschnitt für Sie dürfte ja Corona gewesen sein. Sie hatten zahlreiche Engagements weit in die Zukunft, die nicht zustande kamen. Wie haben Sie das erlebt, was hat sich für Sie daraus ergeben und wie kam es zur Gründung Ihrer Agentur TK-IAM (Torsten Kerl-International Artist Management)?
Torsten Kerl: Eigentlich hatte ich bis dahin nie Ferien gemacht, auch im Sommer nicht. Ich sang immer bei Festivals oder hatte schon wieder Probenverpflichtungen. Ich habe als Sänger halt funktioniert und bin durch die Welt gereist.
Am Anfang der Pandemie fand ich es deshalb auch erst mal nicht so schlimm, dass ich nun etwas mehr Zeit hatte, denn nicht alle Projekte wurden zur selben Zeit gestoppt oder abgesagt. Ich hatte noch Konzerte, Liederabende, die ich noch geben konnte. Als erstes schlossen dann die Theater. So schlimm das aus heutiger Sicht klingt, damals war die erste Zeit des beginnenden Pandemiejahres eigentlich auch eine beruhigende Zeit für mich, denn ich konnte zum ersten Mal andere Dinge tun und ich musste nicht nur durch die Gegend reisen. Ich konnte zum ersten Mal ausgiebig meinen Garten nutzen und mich, soweit das noch möglich war, um Freunde kümmern. Ich konnte meinen Horizont erweitern in vielen Dingen tun, für die vorher keine Zeit war. Nachdem die Theater wieder öffneten, kamen langsam auch die ersten Angebote wieder. Es sollten ja viele abgesagte Produktionen nachgeholt werden. Mein Agent rief an und sagte: „Es geht jetzt weiter, du bist wieder gefragt.“

Da habe ich zum ersten Mal darüber nachgedacht, ob ich so weitermachen will wie vor der Pandemie. Eigentlich wollte ich doch immer schon mal überlegen, ob es nicht vielleicht Pläne gibt, die ich zwar nicht jetzt sofort, aber vielleicht später noch verwirklichen möchte. Ich finde, alles im Leben hat seine Zeit. Die Orchesterzeit war wunderbar, die Gesangszeit ist bisher großartig verlaufen, aber irgendwann bin ich vielleicht schon über 60 Jahre alt, bevor mir endlich selbst aufgeht, dass es für alles andere zu spät ist und ich dann bis zum bitteren Ende weitersingen und um Partien bis zur Rente betteln muss.
Als aktiver Sänger hat man ja im vorgeschrittenen Alter nicht sehr viele Möglichkeiten: Man singt noch Charaktertenor, wenn dies stimmlich möglich ist, oder kleinere Partien, für die man als Gast aber erst mal eingeladen werden muss, denn es gibt ja auch viele noch gute Ensemblesänger, die diese Partien singen. Irgendwann, obwohl die Stimme vielleicht noch voll da ist, gibt es dann auch schon jüngere, gute Sänger.
Mir stellte sich außerdem die Frage, ob ich mein Repertoire überhaupt noch um solche Partien erweitern will, denn für mein Gefühl gab es nichts, was ich noch zwingend singen musste, bevor ich irgendwann aufhöre. Also habe ich mir gedacht: „Was wären denn die Alternativen?“ Schon immer interessiert hatte mich die Arbeit einer Agentur, schon mit 35 Jahren als junger Sänger. Mir war zwischendurch auch die Bewerbung für eine Theaterleitung angeboten worden, aber das war in diesem Fall nichts für mich. Mir wurde ferner angeboten, mich für eine Professur zu bewerben, was ich auch tat. Aber die Art und Weise, wie ich dort behandelt wurde und der gesamte Ablauf gefiel mir nicht. Das Hochschulsystem dort hat mir nicht zugesagt. Es mag aber auch daran liegen, dass meine Frau sehr erfolgreich eine private Gesangsschule neben ihrer Karriere als Opernsängerin betreibt. Da kommen nur Profis hin und es ist ein Unterschied bei der Vermittlung von Gesangstechnik, wenn man sich die Schüler komplett aussuchen kann.

So blieben für mich nur die Möglichkeiten, weiterzusingen oder Agent zu werden. Ich rief deshalb als erstes einen früheren Agenten an und fragte ihn, was er von meinem Plan hielte. Der hat gesagt: „Das wäre eine großartige Idee, endlich wieder einen Agenten im Geschäft zu wissen, der viel unterwegs war, der Ahnung von Gesang hat und fast überall gesungen hat. Wenn du das wirklich machen willst, unterstütze ich dich und berate dich, wie das Geschäft hinter dem Gesang abläuft und wie man eine Agentur aufbauen kann.“ Das habe ich dann bis zu einem gewissen Grad auch wahrgenommen. Dafür bin ich ihm auch heute noch sehr dankbar, so habe ich also meine Agentur gegründet, aber trotz guter Vorbereitung und eines recht guten Netzwerks war es dann doch ein sehr großer Einschnitt im Leben eines bis dahin sehr aktiven Vollblutinterpreten. Mein Anliegen ist seit der Gründung, neue und talentierte Sänger mit außergewöhnlichen Stimmen zu suchen. Der erste Sänger, den ich entdeckt habe, ein tiefer „schwarzer“ Bass, habe ich direkt an die Wiener Staatsoper vermittelt.

Das Wichtigste als Agent ist das kleine schwarze Büchlein, wie man so schön sagt. Das selbst aufgebaute Netzwerk ist das Entscheidende, neben den hervorragenden Künstlern selbstverständlich. Ich musste mich erst wieder ins Gedächtnis rufen bei einigen Opernhäusern, an denen ich als Sänger mal gesungen hatte. Viele sagten sofort: „Herr Kerl, toll dass Sie sich melden! Ach, Sie haben eine Agentur, kommen Sie gerne vorbei und stellen Sie Ihre Agentur vor.“ Das habe ich dann bei vielen Häusern so gemacht. In London, Paris, Mailand, München, Hamburg, Berlin usw., denn die kannten mich ja oft noch als Heldentenor. Sogar die Metropolitan Opera New York habe ich angerufen. Der Direktor sagte: „Wir haben uns ja noch nicht kennengelernt, aber ich habe Sie als Kaiser in New York gehört. Ihre Agentur finde ich eine spannende Idee. Wenn Sie in New York sind, kommen Sie sofort vorbei.“ Ich habe gesagt: „OK, warum nicht.“
Außerdem machen wir regelmäßig Vorsingen für junge Sänger. Das war mir immer wichtig, weil ich nicht irgendwo auf Verdacht hinfahren wollte, um zufällig mal einen Sänger zu treffen, der noch eine Agentur sucht. Vor Agenten, die nach einer Vorstellung zu Sängern gehen und sie quasi „abwerben“, habe ich keinen Respekt. Ich finde, die Sänger müssen gerne zu mir kommen, weil sie überzeugt sind, dass man mit uns gut zusammenarbeiten kann. Mittlerweile vertreten wir bereits sehr viele Künstler und davon sind bestimmt mehr als dreißig aktiv in der täglichen Vermittlung. Aber natürlich kann auch ich keine Wunder vollbringen. Ich bin sehr gerne Agent, aber trotzdem passiert es mir immer noch, dass ich als Sänger angefragt werde. Ich mache zum Beispiel Vorschläge für einen Tenor und nach kurzer Zeit kommt die Frage: „Ja gut, ein toller Sänger, aber hätten Sie denn auch noch Zeit?“ Leider muss ich in diesen Fällen dann oft ablehnen, da ich mich als Agent um meine Sänger und Dirigenten kümmern muss. Daher kann ich nicht sechs Wochen täglich sechs Stunden auf der Bühne zu proben. Folglich sind meine Partien jetzt kleiner geworden. So habe ich genug Zeit, in die Agentur zurückzufahren oder kann mein Büro online mitnehmen. Übrigens macht es keine Freude mehr, sich nach acht Stunden anstrengender Tristan-Probe noch weitere vier Stunden als Agent mit einer Oper zu konferieren, weil die B-Besetzung in einer Barbier-von-Sevilla-Produktion nicht das Kostüm des Kostümbildners anziehen möchte.

IOCO: Sie haben ja einen Strauß unglaublich guter Leute. Sie haben jüngst praktisch eine Holländer-Produktion in Triest besetzt. Ihre Frau, Elena Batoukova-Kerl, die in das hochdramatische Fach gewechselt ist, hat sehr erfolgreich in Darmstadt und Würzburg Elektra & Brünnhilde und in Triest Senta gesungen. Wie suchen Sie Sänger aus, wie beraten Sie sie und was ist Ihnen bei der Arbeit in der Agentur wichtig?
Torsten Kerl: Dass Sie meine Frau erwähnen, ist natürlich klar. Denn am Anfang dachte ich, vielleicht hat das irgendein Geschmäckle, wenn du deine Ehefrau als Agent vertrittst. Es ist ja auch eine Grenzsituation, aber dann habe ich mir gedacht: „Sie hat schon früher an sehr vielen großen Häusern große Partien gesungen. Sie war als Mezzosopran oft an der Wiener Staatsoper und in Berlin. Man kennt also ihren Namen an den Opernhäusern, auch ohne das Zutun ihres Ehemannes.“ Mittlerweile singt sie Sopran und das versuchen wir auszubauen. Als Elektra, als Brünnhilde in der Götterdämmerung und in den anderen Partien ist sie gut im Geschäft und eine gefragte hochdramatische Sopranistin.
Nach den gut aufgenommenen Elektras in Würzburg und Darmstadt wird sie die Rolle beispielsweise nächste Saison in Triest singen. Auch eine Turandot wird kommen. Ihre Senta im Fliegenden Holländer in Triest war auch ein großer Erfolg. Die Sänger werden immer wieder gefragt, ob sie wechseln wollen. Ich habe ja von null angefangen mit der Agentur. Man kauft sich einen Schreibtisch und einen Computer und so weiter, meldet ein Gewerbe an und beginnt, junge Sänger zu entdecken. Wenn man mit ganz jungen Sängern arbeitet, entdeckt man oft wunderbare, eindrucksvolle Stimmen und Talente, aber man hat auch eine größere Fluktuation in der Agentur, denn nicht alle sind stressresistent, beratungsfähig, bühnentauglich oder kommen im System zurecht.
Einer der Gründe hierfür ist nicht selten, dass die berufliche und fachliche Vorbereitung im Studium nicht genug auf den Berufsalltag fokussiert wird. Bei jeder Sängerin und jedem Sänger sind mir die individuellen Resultate wichtig. Das haben viele Musiker und viele Häuser gemerkt. Höre ich einen Sopran, fällt mir sofort auf, dass ein bestimmter Tenor dazu passt. Mich motivieren großartige Stimmen und Leute, die belastbar und beratungsfähig sind. Ich bin als Agent nicht mehr der singende Einzelkämpfer wie früher, der sich nur um seine eigenen Engagements kümmern musste. Als Agent gibt es deutlich mehr, mit dem man sich täglich beschäftigen muss. Es ist oft wie „Blätter fegen im Herbst“. Man verlässt alles schön zusammengefegt und am nächsten Morgen fängt man wieder von vorne an.
Ein Agent ist wichtig für junge Sänger, denn es fehlen bei ihnen oft die Grundlagen, über die Orchestermusiker wie Geiger, Cellisten oder Oboisten bereits verfügen, weil sie bereits viel länger mit ihrem Instrument vertraut sind. Instrumentalisten bekommen während ihres Studiums im Idealfall nur noch den letzten Schliff. Danach sind sie Profis und legen im Orchester oder als Solist los. Wenn Sänger aus dem Studium in den Opernmarkt fallen, wissen sie gerade, was sie stimmtechnisch machen müssen, damit es nicht gleich zu Beginn stimmtechnische Probleme gibt. Viele Sänger meinen schon im Studium genau zu wissen, welches Fach sie haben und dann singen werden. Fächer existieren aber eigentlich nur zum Schutz von Ensemblesängern. So kann man zum Beispiel einen lyrischen Tamino-Tenor nicht ohne Weiteres als Heldentenor mit Otello besetzen, d. h., der betroffene Sänger hat mit einem Fachvertrag im Idealfall eine Handhabe gegen falsche Partien, die ihm schaden könnten. Viel wichtiger als die frühe Beschäftigung mit dem vermeintlichen Fach ist es für Sänger aber, für Ideen und Anregungen offen zu sein. Wer von der Hochschule kommt und denkt, er ist jetzt sofort ein Tristan vernachlässigt, dass wahrscheinlich kein Intendant dieses Risiko eingeht, einen den jungen und unerfahrenen Tenor mit so einer Partie zu engagieren. Kein Anfänger wäre den stimmlichen Strapazen dieser Partie wahrscheinlich für eine ganze Produktion und dann für die nächsten Jahre als Sänger in diesem schweren Fach gewachsen.

Ich möchte bei mir in der Agentur möglichst keine Karteileichen haben. Am Ende der Saison führen wir oft ein Gespräch mit dem jeweiligen Künstler und sagen, was bisher möglich war und was nicht und sprechen dann natürlich auch über eine weitere gemeinsame Zukunft.
Ich glaube, das ist das, was Sänger verdienen, dass man offen mit ihnen spricht. Das war nämlich in meinem Fall oft nicht so. Es ist wichtig, sich die Wünsche und Sorgen der Künstler anzuhören und zu verstehen, dass man sowohl als Sänger als auch als Agent nicht alles kann und alles weiß. Zum Karriereaufbau kommen neben der Stimme noch Fleiß, Einsicht und Begeisterung. Viele einmalige Stimmen auf dem Höhepunkt ihrer Karriere kommen derzeit aus der Ukraine. Wir haben etablierte Künstler und sind überzeugt, dass sich viele von denen, die wir entdeckt haben, wirklich etablieren. Natürlich macht es Spaß, neue Sänger zu entdecken. Dafür machen wir dreimal im Jahr Vorsingen. Wir machen das jetzt seit zwei Jahren. Hier sieht man, über welche Persönlichkeit, wie viel Selbstvertrauen und gesundes Gespür für ihre Stimme und ihre Fähigkeiten die Sänger verfügen. Zudem sieht man, was notwendig ist, für ein mögliches Coaching und die Weiterentwicklung.
Als ich anfing, wusste ich all dies nicht. Woher sollte ich wissen, wo man mich und meinen Stimmtyp sucht. Dafür hat man eine Agentur und natürlich, um die Künstler zu beraten. Heute senden uns Sänger Videoaufnahmen, um sich bei uns für ein Vorsingen zu bewerben. Die Aufnahmen, die ich erhalte, können oft nur ansatzweise einen Eindruck geben. Bei hochdramatischen Stimmen sind Farbe und Duktus wichtig. Oft verfügen Sänger über ein Volumen, das man auf einer Aufnahme nicht hört. Die lade ich in jedem Fall ein und entscheide mich immer im Zweifel für ein Vorsingen. Natürlich kann ein Vorsingen auch danebengehen. Das ist aber die große Ausnahme. Die meisten Kandidaten sind sehr professionell. Wir beurteilen die Bewerber im Team und bewerten sie schriftlich. Danach besprechen wir alles. Es ist immer ein Erlebnis und der Austausch in der Gruppe hat sich sehr bewährt. Man muss sehr genau überlegen, wen man letztendlich in die Agentur aufnimmt, denn der Opernmarkt ist brutal. Sehr oft wird die Stimme zur Nebensache, denn es geht leider mehr und mehr um „typecasting“.

IOCO: Wie verläuft ein Agenturvorsingen in Ihrer Agentur?
Torsten Kerl: Da wir uns sehr für den Sängernachwuchs interessieren, bieten wir regelmäßig Vorsingen für unsere Agentur an. Die Sänger bewerben sich mit allen hierfür notwendigen Unterlagen und auch einigen aktuellen Videoclips, damit wir die Stimme vorab kennenlernen können und bei der jedes Mal sehr großen Anzahl an Bewerbern eine Vorauswahl treffen können. Diejenigen Kandidaten, die uns neugierig gemacht haben, laden wir dann zum Vorsingen ein. Bei unserem letzten Vorsingen im September gab es eine große Anzahl an Mezzosopranen und auch einigen Sopranen, die uns gefallen haben.
Es ist immer wieder faszinierend zu erleben, wie unterschiedlich die Sänger sich bei Vorsingen präsentieren, je nach Temperament, stimmlich-technischer Ausbildung, Musikalität und auch Temperament. Es gibt, meiner Meinung nach, auch stimmtechnische Gemeinsamkeiten, die auf Muttersprache und nationaler Ausbildung beruhen. Jedenfalls ist es für alle beteiligten Mitarbeiter jedes Mal ein grandioses Erlebnis, so viele und meistens überzeugende Sänger an einem einzigen Tag zu hören.
Meine Bewunderung gilt hier auch besonders unserem Pianisten, der alle Kandidaten hervorragend begleitet; einen ganzen Tag lang! Es gibt aber auch immer wieder ungewöhnliche Vorfälle. Sänger, die unserem Pianisten ein Konvolut aus unsortierten und zerknitterten Notenblättern aufs Klavier stellen und sich dann wundern, dass sie so nicht begleitet werden können. Wir haben auch schon Kandidaten erlebt, die sich beim Vorsingen ihre Hand muschelartig ans Ohr halten, um sich stimmtechnisch beim Singen besser zu kontrollieren. Dabei laufen sie auch noch durch den ganzen Saal, als wären wir nicht anwesend. Da ist es dann eigentlich unmöglich, irgendetwas Intelligentes über deren Ausstrahlung und Bühnenpräsenz zu erfahren, die ja für einen Sänger extrem wichtig ist.
Es gibt da schon auch mal Kandidaten, die einen sprachlos machen: Vergessene Noten, hohe Tenöre und hohe Soprane, die keine einzige hohe Arie mitbringen, junge Sänger, mit denen wir außerstande sind zu kommunizieren, da sie nur eine einzige asiatische Sprache sprechen, obwohl wir Deutsch, Englisch, Italienisch, Russisch, Spanisch und Ungarisch als Konversation von Seiten unserer Mitarbeiter anbieten können. Generell muss man aber sagen, dass ich das häufig gehörte Gejammere über den angeblich schlechten oder unzureichenden Nachwuchs überhaupt nicht nachvollziehen kann. Es gibt fantastische neue Stimmen! Man muss sich nur für den Nachwuchs interessieren und das tun wir!
Aber auch die Opernhäuser müssen natürlich bereit sein, sich für neue Vorschläge und für die Förderung neuer Stimmen zu interessieren. Dann, denke ich, wird es auch in Zukunft nur wenig Probleme geben, die richtigen Stimmen zu finden, wenn man denn überhaupt nach Stimmen sucht und das sogenannte „typecasting“ nicht von vornherein die stimmlichen Möglichkeiten eines Sängers in den Hintergrund stellt, zugunsten von Aussehen, Figur und Modetrends. Obwohl wir uns letztlich für eine kleine Auswahl entscheiden müssen, denn wir können aus Kapazitätsgründen momentan einfach nicht jeden Sänger nehmen, der uns überzeugt hat, sind unsere Vorsingen immer wieder ein großes Erlebnis für mich und ein Beweis dafür, dass die angeblich totgesagte Gattung der Oper in Wahrheit immer noch überwältigend viele junge Menschen sogar zu dem Berufswunsch des Opernsängers führt!

IOCO: Ist Opernsänger für Sie heute noch ein Traumberuf, wie bewerten Sie Ihre bisherige Laufbahn und was reizt Sie für die Zukunft?
Torsten Kerl: Ich würde wieder Opernsänger werden. Ich würde natürlich einige Dinge anders machen. Das einzusehen ist vernünftig und ich glaube, das ist in jedem Beruf so. Vielleicht würde ich vorher sogar wieder Orchestermusiker werden, denn das hat mir sehr viel gegeben. Vielleicht würde ich ein anderes Instrument lernen. Was bleiben wird, ist meine absolute bedingungslose Hingabe an die Musik.
Der Komponist wird mir immer am wichtigsten bleiben. Ohne Herrn Verdi oder Wagner hätten wir keinen Otello oder Tristan. Vor ihnen sollte man als nachschaffender Interpret immer genug Ehrfurcht haben. Übrigens auch und erst recht als Regisseur! Wir sind nämlich eigentlich alle „nur“ Nachschaffende, im wahrsten Sinne des Wortes. Wir schreiben uns unsere Opernpartien in der Regel nicht selbst, also sollten wir sie auch nicht mutwillig zerstückeln und entfremden. Sänger ist ein toller Beruf, man kommt viel durch die Welt, man lernt großartige, manchmal auch merkwürdige Leute kennen. Man kann einzigartige Dinge auf der Bühne darstellen. Das ist aber nicht das tägliche Leben und ich lebe nicht vom Applaus.
Es ist ein fantastischer Beruf, aber er definiert mich nicht allein. Mir war mir immer wichtig, irgendwann aufzuhören und Abstand zu haben. Als Agent kommt jeden Tag etwas Neues. Ich brauche das als Spaß, als Motivation. Dauernd zu singen, wird mir nun manchmal etwas zu viel. Ein bisschen Abstand zur Bühne hat mir geholfen. Generell habe ich mich immer für Kunst und alle Arten von Musik interessiert. Am faszinierendsten finde ich, wie man ein Stück wie zum Beispiel Tristan schreiben kann. Wie kann man solche Werke erschaffen? Wie kann man dafür noch ein passendes Haus bauen? Wie kann man noch Instrumente erfinden? Das geht über alles Vorstellbare weit hinaus. Für mich ist der Komponist die Königsdisziplin der Musik. Wenn ich es gekonnt hätte, wäre ich gerne Komponist geworden. Aber ich bin es nicht und daher möchte ich nun gerne Agent bleiben, bis ich die Namen, die Partien, die Opern und die Häuser verwechsle, denn in diesem Moment sollte ich dann wirklich aufhören.