Torsten Kerl, Interview, Teil 2, IOCO

Vom Karrieresprungbrett Wien zur Weltkarriere
IOCO: Das ist ja erstaunlich schnell gewesen, Sie haben mit 29 Jahren zum ersten Mal als Solist bei den Bayreuther Festspielen gesungen. Mit 31 haben Sie dann schon Steuermann gesungen. Wie kam es dazu und welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Torsten Kerl: Nach Bayreuth bin ich wie die Jungfrau zum Kinde gekommen. Die Bayreuther Festspielleitung suchte schnell noch einen der Meister in den Meistersingern. Der Agent meiner Frau (!) schlug mich dafür vor. Zunächst habe ich dann auch nichts mehr gehört, aber nach ein paar Monaten haben sie sich gemeldet. Ich habe dann also mit einem Meister in den Meistersingern angefangen. Parallel dazu habe ich bereits den Lohengrin gecovert, kam aber nicht zum Einsatz. Ich habe dann gefragt: „Als Cover haben Sie mich bisher nicht singen lassen. Wenn ich in der nächsten Saison wiederkomme, möchte ich bitte wenigstens einmal singen, also eine garantierte Vorstellung, vielleicht die Gewerkschaftsvorstellung am Donnerstagnachmittag, denn die Holländer-Produktion ist dann abgespielt. Ich wäre nur noch ein Cover.“

Kurze Zeit später kam dann ein Angebot der Salzburger Festspiele mit einer Gala und dem Mozart-Requiem und im selben Jahr noch „Die Liebe der Danae“. Das Engagement bei den Salzburger Festspielen hat sich wirklich gelohnt. Ich habe nicht damit gerechnet. Der Auslöser meiner Karriere war dort. Es begann alles mit Korngolds „Die tote Stadt“. Der „Paul“ wurde bald meine Lebenspartie, denn ich habe sie bis heute in 121 Vorstellungen szenisch und konzertant gesungen. Zum ersten Mal sollte ich diese Partie in Straßburg und im Chatelet in Paris als Koproduktion in einer großen Strichfassung singen. Ich habe diese Fassung ausprobiert und kam zu der Überzeugung, ich kann das. Mein Direktor in Wien, Ioan Holender, wollte mir dafür aber zunächst keinen Urlaub geben, weil er meinte, die Partie würde meine Stimme ruinieren.
Ich war aber überzeugt, dass ich die Partie gut singen kann, weil ich mit meiner Gesangstechnik im Reinen war. Ich habe mir damals einfach sehr viel selbst überlegt und technisch viel selbstständig ausprobiert. Vielleicht hatte ich als Orchestermusiker auch einen anderen Zugang zum Singen. Jedenfalls war diese ursprüngliche Strichfassung von „Die tote Stadt“ für mich singbar. Die Fassung war jedoch musikalisch nicht immer gut gestrichen. Die hohen Passagen, weswegen die Partie so gefürchtet ist, hatte man oft herausgestrichen und es gab 2 Pausen, nach jedem Akt eine. Mit dieser Vorgabe habe ich angefangen zu proben. Während der Proben zeigte dann plötzlich die DVD-Produktionsfirma Interesse an einer Verfilmung. Sie wollten aber unbedingt eine ungestrichene DVD der Oper herausbringen. Aufgrund dieser Chance entstand natürlich ein Mordsdruck auf die Intendanz und nicht zuletzt auch auf mich. Pro Woche habe ich zunächst zusätzlich eine halbe Szene gelernt und weiß bis heute nicht, warum es so gut lief. Ich war der Erste, der die Partie des Paul, zumindest in jüngerer Zeit, völlig ungestrichen sang. In Straßburg habe ich letztlich alle zwölf Vorstellungen plus Paris und die jeweiligen Orchester-Endproben hintereinander gesungen und in der Premiere saßen natürlich viele Leute. Direktor Holender, der mich vorher gewarnt hatte, war auch da.
Nach der Premiere kam er in meine Garderobe und hat gesagt: „Das sage ich jetzt ungern, du hattest Recht, ich hatte Unrecht. Du bist doch einer der Wenigen, der diese Partie singen kann. Ich habe da jetzt auch schon eine Idee, lass mich mal machen.“ Ein paar Tage später hat er gesagt, dass ich die Partie bei den Salzburger Festspielen singen würde. Willi Decker, der mich vorher aus Lulu kannte, war der Regisseur und diese Produktion kam mit mir in der Tenorpartie überallhin. Die Produktion lief unter anderem in Wien, London, San Francisco und Barcelona. Das war der Beginn meiner internationalen Karriere. Ich musste damals aufpassen, nicht ein wandelndes Klischee zu werden. Man kennt das von berühmten italienischen Tenören mit dem Motto „King of the high C“. Irgendwann ist man zu alt für high C und man fängt an, gegen sein eigenes Lebensmotto anzusingen, denn eine Weile lang kam ich zu dem Ruf, wenn eine Rolle hoch, lang, unangenehm schwer und laut, also quasi unsingbar ist, frag doch einfach den Kerl. Das habe ich auch eine Weile gemacht. Ein weiteres Stück war zum Beispiel „Jonny spielt auf“ an der Wiener Staatsoper und die Partie „Max“ ist unvorstellbar schwer zu singen. Allerdings hat sie mir auch die Türen geöffnet für den danach folgenden Wagner-Gesang mit den schweren Heldentenor-Partien wie Tannhäuser, Tristan, Siegfried und Rienzi.
Für mich war der Einstieg in das Wagnerfach zunächst mit „Parsifal“ hilfreich. Das war nach dem Steuermann meine erste große Wagnerpartie an der Wiener Staatsoper. Sie musste ich in 12 Tagen lernen, weil der dafür vorgesehene Gösta Winbergh viel zu jung starb und ich als Ensemble-Sänger quasi dazu „beauftragt“ wurde. Das Parsifal-Debüt an der Wiener Staatsoper mit Ulf Schirmer und Violetta Urmana, Franz Grundheber, Franz Josef Selig war großartig. Alle waren hilfsbereit, Direktor Holender hat eine kurze Rede vor dem Publikum gehalten. Ich hatte danach bei ihm einen viel besseren Stand, weil ich nun ein Ensemblemitglied war, das Wagnerpartien sang. Mit viel Diskussionen habe ich aber trotzdem durchgesetzt, dass ich nicht alles im lyrischen Fach überspringe und deshalb neben dem Idomeneo auch noch den Tamino in Wien singen durfte.
IOCO: Sie sind der einzige Heldentenor, auch mit Blick auf alle großen Heldentenöre der Vergangenheit, der Don Ottavio auf CD komplett eingespielt hat. Diese Agilität in der Stimme ist eines Ihrer Markenzeichen. Warum war Ihnen das wichtig? Worauf kommt es beim Übergang auf die schweren Partien an und was waren die größten Herausforderungen?
Torsten Kerl: Ich habe Mozart gesungen, und zwar Idomeneo in mindestens 30 Vorstellungen. Der ist eigentlich Bariton, wenn man ehrlich ist. Tamino habe ich auch häufiger gesungen. Die anderen Mozartpartien habe ich aber leider nicht mehr bekommen, einige aber für mich gelernt. Den Don Ottavio habe ich nie live gesungen. Das lag daran, dass die Aufnahme in der Zeit gemacht wurde, als ich so auf dem Scheideweg ins schwerere Fach stand. Man hat mir gesagt, ich würde keine Karriere machen, wenn ich diese Partien und zugleich schwerere Rollen singe.
Die Don Ottavio-Aufnahme ist entstanden, weil der Dirigent gerne einen stimmlichen Gegenpol zum Don Giovanni haben wollte. Die Titelpartie war mit Bo Skovhus eher lyrisch besetzt. Es war nur diese Aufnahme und ich habe gesagt: „OK, ich lerne das.“ Als Partnerin war eine größere Mozartstimme. Ich hatte kaum Urlaub für die Aufnahmen bekommen. An den Tagen, an denen ich frei hatte, musste ich von Wien mit dem Auto nach Budapest fahren, um die Einspielung zu singen. An dem Tag, wo ich „Il mio tesoro“ aufgenommen habe, hat sich bei der Hinfahrt mein Auto auf der Autobahn verabschiedet. Als ich es repariert hatte und weiterfuhr, war ich von oben bis unten mit Öl verschmiert. Nach Eintreffen auf dem bewachten Studiogelände biss mich der dort freilaufende Hund ins Bein. Ich sah aus wie ein kompletter Penner, aber ich musste wegen des Zeitdrucks sofort in den Aufnahmeraum. Am Stück habe ich dann drei Durchgänge von der Arie gesungen. Die große Koloraturstelle habe ich komplett auf einem Atem gesungen, inklusive des Übergangs wieder in die Reprise. Später wurde ich dann häufig gefragt, warum wir diese Stelle ohne hörbare Atempausen zusammengeschnitten hätten. Diese Koloraturstelle, wo ich kein einziges Mal atme, ist aber kein Zusammenschnitt. Das habe ich wirklich mehrfach so gesungen, damit die Aufnahmetechnik und der Dirigent die Aufnahme auch genauso abnehmen und das haben sie dann auch getan.

Es gibt Opern, wie „Die tote Stadt“ oder erst recht wie „Jonny spielt auf“, die so hoch liegen, dass sie eigentlich ein hoher Rossini-Tenor singen müsste. Die B’s darin kann man kaum noch zählen und es geht mehrmals bis zum C hinauf. Die Partie ist allerdings für einen Heldentenor geschrieben. Krenek und auch Korngold scheinen insofern die stimmlichen Möglichkeiten eines Heldentenors nicht wirklich interessiert zu haben beim Komponieren. Wenn man das sogenannte Heldentenorfach singt, wird einem oft alles Mögliche angeboten; sogar italienisches Fach in Italien! Ich habe oft den Calaf und den Manrico angeboten bekommen. Aber als Sänger hauptsächlich des deutschen Fachs, zumal blond und blauäugig, dachte ich, in Italien mit seinen vielen großartigen italienischen Tenören nehmen sie mich sowieso bestenfalls nur als B-Besetzung.
Deshalb habe ich entschieden, nur begrenzt italienisches Fach in Italien zu singen. Generell habe ich aber immer wieder italienische Opern gesungen, wie zum Beispiel den „Otello“ mit Colin Davis, oder „Butterfly“, „Cavalleria Rusticana“ und „La Fanciulla del West“, wenn es passte. Viel häufiger sang ich französische Opern: zum Beispiel „Samson und Dalila“ (auf DVD), „Carmen“ und „Les Troyens“.
Besonders gerne habe ich auch russische Opern neben meinem deutschen Kernrepertoire gesungen. „Pique Dame“, „Eugen Onegin“, „Fürst Igor“ und „Boris Godunov“ sind mir in Erinnerung geblieben. An der MET hatte ich das Glück einer Neuproduktion. Der Direktor Peter Gelb sagte: „Wir wissen, dass Sie sehr viel Wagner singen, auch in Bayreuth und dass Sie wahrscheinlich momentan der Einzige sind, der alle Wagner-Partien singt. Wir sind an Ihnen aber als Interpret von R. Strauss-Partien interessiert und wir wollen einen Sänger wie Sie, mit Ihrer Stimmpower und Höhe dafür.“ Deswegen hat er mir die Tenor-Hauptrolle in der Premieren-Produktion von „Die ägyptische Helena“ von R. Strauss angeboten, mit Deborah Voigt in der Titelpartie. Später wurde ich dann auch noch mit der Partie „Kaiser“ in „Die Frau ohne Schatten“ verpflichtet. Manchmal ist man also partienmäßig sogar auf einen einzigen Komponisten festgelegt. In Hamburg wurde ich dagegen immer wieder für viele Opern engagiert, von denen keine von R. Strauss oder Wagner war.

Aufgrund meiner Erfahrungen hinsichtlich der Rollen und Fächer muss ich daher sagen, dass ich eigentlich fast immer ein Gegner von Kategorien war. Viel wichtiger ist, dass man stimmtechnisch und musikalisch genau weiß, was man kann. Wenn man dann auch noch das Glück hat, mit einer dieser Partien besetzt zu werden, ist es doch eigentlich völlig unwichtig, mit welchem Fach diese Partie an anderen Häusern besetzt wurde. Immer wieder sangen verschiedene berühmte Tenöre dieselbe Partie sehr erfolgreich, obwohl sie ganz unterschiedliche Stimmen und Stimmfächer hatten. Ich will damit sagen, die Stimme sagt einem immer wieder, wo es hingeht, und darauf sollte man hören und es befolgen. Es muss beim Singen, wie überall, Gegenpole und unterschiedliche Charaktere geben. Placido Domingo und Luciano Pavarotti, um bei zwei berühmten Tenor-Beispielen zu bleiben, sind weder komplett einzelnen Fächern zuzuordnen noch in bestimmte Kategorien zu stecken, finde ich. Sie sangen oft dieselben Partien, waren große Künstler und haben sich gegenseitig befruchtet. Jeder hatte bestimmte Merkmale und Eigenschaften, die ihn hervorhoben.
Es musste zum Beispiel einen Hermann Prey geben, damit man das Genie von Fischer-Dieskau verstehen kann. Meiner Meinung nach muss es beide Arten von Sängern geben. Prey sang immer so voll direkt aus dem Herzen, auch mit gewissen Marotten. Prey hatte auch diese unglaubliche Freizügigkeit und diesen Spaß am Singen. Fischer-Dieskau ist für mich der ideale intellektuelle Interpret, der immer hinter dem Werk, also hinter der Komposition und dem Komponisten, zurücksteht. Die typische Einteilung von Fächern teile ich nicht. Mozart nur lyrisch zu besetzen und Rollen zu typisieren, finde ich falsch.
Es muss immer verschiedene Möglichkeiten geben, Stimmen einzusetzen. Man hört ja selbst bei solchen Jahrhundertsängern wie zum Beispiel Lauritz Melchior, wie sie ihre stimmlichen Möglichkeiten einsetzen, um für die Stimme unangenehme Phrasen zu „umschiffen“. Wenn man zum Beispiel Melchior im zweiten Akt von Tristan hört, merkt man, dass er stimmlich in den sehr hohen lyrischen Lagen der Partie ziemlich kämpfen muss, aber dafür der dritte Akt für seine Stimme geschrieben zu sein scheint. Bei Gösta Winbergh war es zum Beispiel eher umgekehrt. Der zweite Akt mit seinen lyrischen Tenor-Phrasen war zum Niederknien schön. Im dritten Akt ist er bei den kräftigen Ausbrüchen in der Heldentenor-Mittellage mit seiner, bis zuletzt lyrischen Stimme, an seine Grenzen gekommen. Trotzdem muss es alle Richtungen und Raum für unterschiedliche Gestaltungen geben.
Nicht legitim ist es aber, wenn man wegen sängerischer Defizite anfängt, Stücke zu verhunzen, indem man sie komplett zusammenstreicht oder so transponiert, dass vielleicht der Tenor noch klarkommt, aber aus dem Sopran ein Alt und aus dem Bass ein Kontrabass wird. Wenn man sich zum ersten Mal mit den sogenannten Heldentenor-Partien beschäftigt, kann es manchmal interessant sein, sich darüber mit erfahrenen Kollegen zu unterhalten. Es ist oft interessant und befruchtend, welchen Rat man hier erhalten kann, da diese Partien aber so umfangreich sind, sollte der Maßstab zunächst immer die eigene Beschäftigung mit der Partie sein. Man muss sie einfach für sich ausprobieren und möglichst durch das Studium der Partitur des Werks stimmlich und interpretatorisch einen ersten Zugang finden. Das heute weit verbreitete „learning by Deutsche Grammophon“ finde ich überhaupt nicht hilfreich für das Ringen um eine eigene Interpretation. Technisch geht es sowieso nicht anders. Ein Beispiel: Als Erstes habe ich René Kollo über seine Meinung zu Siegfried gefragt. Mit Siegfried hatte er nie Probleme gehabt, hat er mir erzählt. Also hat er mir empfohlen, den zuerst zu singen, aber den Tannhäuser sollte ich möglichst spät singen. Er empfahl mir daher lieber viel mehr Siegfried zu singen. Zu dieser Zeit hatte ich den Tannhäuser aber problemlos schon x-mal gesungen. James King, den ich noch kennenlernen durfte, hat mir geraten, die Siegfriede und Tristan überhaupt nicht zu singen, weil er sie nie live gesungen hatte. Sogar Placido Domingo habe ich gefragt und er sagte mir: „Torsten, never sing Erik. But Otello is fine for you.“ Er hatte nämlich eine CD-Produktion des Holländer mit Sinopoli gemacht und war danach heiser, sagte er mir, was er auf die Partie schob.

Wenn man ausschließlich auf die Kollegen hört, kann man also leicht eine Sperre im Kopf bekommen, denn wenn ich höre, der berühmte Placido Domingo sagt zu mir: „Sing keinen Erik.“, werde ich vielleicht etwas unsicher, denn er muss es ja wissen. Damit gehe ich nicht mehr unvoreingenommen an diese Partien heran. Eine Frage wie zum Beispiel: „Wie blöd bist du eigentlich, dass du durch den Siegfried nicht durchkommst, obwohl dir der berühmte Kollege in Kenntnis deiner Stimme dazu geraten hat“, sollte man sich deshalb besser nie stellen. Es ist deshalb unerlässlich, dass man alle neuen Partien zunächst einmal für sich allein, vorsichtig, ausprobiert. Man muss gar nicht chronologisch anfangen. Oft ist nicht der Beginn der Partie am schwersten. Wenn ich merke, ich kann die Partie noch nicht singen, muss ich es ja nicht an die große Glocke hängen. Man muss aber immer für sich ehrlich sein. In so einem Fall sagt man dem Veranstalter dann eben nicht zu. Bei einer Parlando-Partie wie dem Siegfried hatte ich zum Beispiel zu Beginn meiner Wagnerlaufbahn immer Probleme, weil ich aus der reinen Legato-Gesangsschule komme. Dieses ständige, laute, hohe Parlando beim Siegfried zu singen war für mich ungewohnt. So war klar, wenn ich jemals den Siegfried singe, dann nur „später“. Das habe ich dann auch gegen alle lukrativen Angebote durchgehalten. Und „später“ hat mich Philipp Jordan gefragt und sagte: „Ich debütiere mit dem Ring an der Bastille. Das wäre auch der erste Ring an der Bastille, der dort selbst produziert wird. Was hältst du von den Siegfrieden? Komm bitte nach Berlin und wir arbeiten mal an diesen Partien.“
Für mich war das die beste Möglichkeit, denn ich wusste ja nicht, ob ich die Partien so singen kann, wie er sich den Siegfried vorstellt. Nach einer halben Stunde waren wir durch die wichtigen Sachen im Siegfried durch und arbeiteten noch etwas an der Götterdämmerung. Zum Abschied sagte er mir, dass er sich in ca. 2 Wochen bei meiner Agentur melden würde. Auf meinem Weg von der Probe zum Flughafen hat er mich aber direkt angerufen und gesagt: „Was soll der Quatsch? Also, du bist genau der, den ich suche. Willst du die beiden Partien in Paris debütieren?“ So kam ich dann doch noch zum Siegfried und hatte vorher sogar die nötige Vorbereitungszeit.
IOCO: Es ist eine immense Herausforderung, textlich und musikalisch Partien wie Tristan oder Siegfried zu lernen. Manche Kollegen brauchen nach ihrem Rollendebüt noch lange, bis sie die Partien verinnerlicht haben oder scheitern daran, wieder in Soltis legendärem Decca-Ring ursprünglich vorgesehener Siegfried. Wie gehen Sie beim Lernen vor und welche Tipps geben Sie im Unterricht oder Coaching?
Torsten Kerl: Ich lerne sehr schnell. Das liegt wohl daran, dass ich erst nach meinem 10. Lebensjahr Noten lesen konnte. Vorher hatten meine Musiklehrer mir alles vorgespielt, beim Blockflöten, beim Geigen und am Anfang auch bei der Oboe. Das ist wahrscheinlich einer der Gründe, warum ich schnell auswendig lerne. Durch die Vorbildung aus dem Orchester, die ja eben viele Sänger im Gesangsstudium leider nicht haben, kannte ich die Stücke viel genauer und hatte es leichter, da ich sie bereits im Orchester gespielt und kennengelernt hatte. Ich habe außerdem ein eigenes Lernsystem für mich entwickelt. Ich lerne zunächst den Text im Rhythmus und erst dann die Gesangsmelodie unabhängig vom Orchester oder Klavier. So könnte theoretisch neben mir jemand „Pack die Badehose ein“ spielen und ich verliere nicht meine Musik. Ich könnte so auch als Siegfried weitersingen, wenn neben mir alles schiefgeht. Ich brauche die Harmonien nicht andauernd um korrekt weiterzusingen. Ich lerne also nicht nur harmonisch, sondern melodisch. Die Gesangsstimme ordne ich erst zum Schluss in den gesamten Kontext ein. Dann allerdings höre ich möglichst immer auf das Orchester und achte auf den Dirigenten. Als Orchestermusiker bin ich es ja gewohnt, den Dirigenten zu begleiten, wenn dies nötig ist. All das hilft unglaublich. Ich lerne sehr über den Rhythmus. Wagner hat das in seinen Schriften ähnlich erklärt und bei mir funktioniert es ausgezeichnet. Aber natürlich muss man nicht so lernen. Wichtig ist generell immer nur das Resultat.
IOCO: Worauf kommt es beim Musizieren im Ensemble an, und was ist heute anders als früher?
Torsten Kerl: Es gibt viele Sänger, die nicht gut vorbereitet sind, die deshalb leicht ins Schwimmen geraten und von Dirigenten und Orchestern deshalb als Musiker nicht ernst genommen werden. Ich habe ja im WDR-Sinfonieorchester auch mal als Solooboist ausgeholfen. Viel später habe ich dort mit Waltraud Meier „Das Lied von der Erde“ gesungen. Da war ich noch jung, kurz nach dem Ende meiner Oboenkarriere und es dirigierte Semyon Bychkov. Als ich zur ersten Probe kam, nahm er mich freundlich in den Arm, lachte und sagte zum Orchester: „Das ist Herr Kerl. Einige von ihnen kennen ihn noch als jungen, talentierten Musiker, bevor sein unaufhaltsamer Abstieg zum OPERN-Sänger begann.“

Das fand ich unheimlich witzig, aber da wusste ich noch nicht, dass in diesem lustigen Satz auch ein Hauch Wahrheit steckt. Es gibt Selbstdarsteller und es gibt Musiker, die das Musikmachen verinnerlicht haben und denen es nur um das bestmögliche künstlerische Resultat geht. Dazu gehört meiner Meinung nach das unbedingte Unterordnen in eine Gruppe von Sängern, Instrumentalisten, zusammen mit der Regie, dem Dirigenten und dem technischem Personal, um das bestmögliche Resultat zu erreichen. Individuell ist das nicht immer 100 % befriedigend, aber die Leistung der gesamten Gruppe entscheidet letztlich.
Als Orchestermusiker lernt man das. Aber viele Künstler haben das leider auch nie gelernt. Man muss sich klar sein, dass Verdi wusste, warum er eine Stelle exakt so schreibt und es nicht anders komponiert. Musiker und Sänger sind Interpreten, sie müssen sich dem Komponisten unterordnen und dadurch entsteht eine umfassende und große Aufführung. Als ich einen berühmten Otello-Interpreten das erste Mal live gehört habe, weil ich den Cassio sang, habe ich hinter der Bühne im Klavierauszug mitgelesen. Da war ich doch sehr erstaunt, was er sang. Es war alles sehr frei nach Verdi interpretiert, wohl damit es für ihn stimmtechnisch besser passte.
Als in der zweiten Vorstellung alternierend der berühmte Otello Giuseppe Giacomini kam, fing er dieser erstens dezibelmässig da an, wo der andere aufhörte und zweitens sang er alles original wie bei Verdi geschrieben. Da dachte ich mir: „Ach, schau an, so kann es auch klingen.“ In der Vergangenheit waren berühmte Sänger oft keine ausgebildeten Musiker. Sie hatten manchmal andere Berufe und konnten oft keine Noten lesen. Ein alter Korrepetitor der Wiener Staatsoper hat mir das erzählt. Er hat denen die Partien buchstäblich in die Köpfe gespielt und vorgesungen.
IOCO: Sie haben viel Liedgesang gemacht. Auch dort verfügen Sie über ein großes Repertoire, unter anderem mit frühen Korngold-Liedern, sogar mit Wagners Wesendonck-Liedern?
Torsten Kerl: Das hat mir große Freude gemacht. Am Palais Garnier in Paris war beispielsweise mein Liederabend ausverkauft mit Wesendonck-Liedern, Korngold und Zemlinsky. Da war ich schon sehr beeindruckt. Es hat mich sehr fasziniert, dass die Leute dieses anspruchsvolle Repertoire so positiv aufgenommen haben. Der Antrieb war natürlich, dass ich währenddessen gerade die Siegfried-Produktion sang. Da habe ich mir gedacht, was passt denn dazu und habe deshalb mit den Wesendonck-Liedern angefangen. Das brachte mich dann zu den nachfolgenden Komponisten Zemlinsky und Korngold. Zu Korngold kam ich natürlich auch wegen der Toten Stadt, die ich bei der französischen Erstaufführung in Straßburg und Paris gesungen hatte. Zu diesen Korngold-Liedern passte für mich dann Zemlinskys frühe Lieder am besten. Gesungen habe ich dann von Korngold „Sechs einfache Lieder“, die sehr vertrackt sind. Dazu dann die frühen Lieder von Zemlinsky, die in Stil und Duktus sehr stark sind. Seine späteren Lieder fand ich für diesen Rahmen zu experimentell und gewollt progressiv in Anlehnung an Berg und Schönberg.