Stuttgart, Stuttgarter Ballett, DER NUSSKNACKER - Peter Tschaikowsky, IOCO Kritik, 03.12.2022

Stuttgart, Stuttgarter Ballett, DER NUSSKNACKER - Peter Tschaikowsky, IOCO Kritik, 03.12.2022
Oper Stuttgart © Matthias Baus
Oper Stuttgart © Matthias Baus

Stuttgarter Ballett

DER NUSSKNACKER - Peter Tschaikowsky

- In Stuttgart lang ersehnt - Eine Insel des Schönen und Heilen in traurigen Zeiten -

Von Peter Schlang

Seit über 50 Jahren wartete das Stuttgarter Ballett und sein Publikum auf eine neue, vollständige Version von Peter Tschaikowskys  Ballett Der Nussknacker. Nachdem es zu John Crankos Fassung von 1966 keine verwertbaren, einen Abend füllende Aufzeichnungen gab, wagte man zwar zweimal eine fragmentarische Annäherung an dieses für das klassische  Repertoire eigentlich unverzichtbare Werk. Die daraus resultierenden zwei „kleinen Abende“  blieben aber ohne Nachhall und Wirkung.

Das dürfte bei der am 25. November 2022 im Stuttgarter Opernhaus aus der Taufe gehobenen Neuproduktion, einer veritablen Uraufführung, gänzlich anders sein.

Stuttgarter Ballett, DER Nussknacker hier das Tanz-Ensemble © Roman Novitzky /Stuttgarter Ballett
Stuttgarter Ballett, DER Nussknacker hier das Tanz-Ensemble © Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett

Den Grundstein für den sicherlich nicht nur am Premierenabend rauschenden Erfolg dieses neuen Nussknackers legte der Stuttgarter Ballettintendant Tamas Detrich, siehe Video unten, bereits vor drei Jahren. Damals entschloss er sich nicht nur, den mit fünf Arbeiten beim Stuttgarter Ballett erfolgreichen Edward Clug, seit 2003 Ballettdirektor am slowenischen Nationaltheater Maribor, mit der Choreografie dieses zugkräftigen Werks zu beauftragen, sondern dafür auch den durch die Ausstattung etlicher Ballette John Crankos und der Kameliendame von Marcia Haydee in Stuttgart bestens bekannten, ja hoch verehrten Jürgen Rose als Bühnen- und Kostümbildner zu gewinnen. Die drei genannten Herren und die als Dramaturgin zum Regieteam gehörende Direktorin des Stuttgarter Balletts für Kommunikation und Dramaturgie, Vivien Arnold, wählten nicht wie meist üblich die auf einer Bearbeitung des Stoffes von Alexandre Dumas basierende berühmte Petersburger Vorlage von E. T. A. Hoffmann aus dem Jahr 1892. Vielmehr entschieden sie sich für ein neues, von Vivien Arnold verfasstes Libretto, das sich ganz eng an die literarische Urfassung des Märchens Nussknacker und Mäusekönig des romantischen Dichters E. T. A. Hoffmann anlehnt. Dieses stellt zum einen sehr schön den seine Patentochter Clara reich beschenkenden Paten Drosselmeier als deren Leitfigur heraus und mit in den Mittelpunkt der Handlung. Zum andern ersetzt es den in Petipas Version aus mehreren Gründen problematischen 2. Akt durch eine stringente Version, welche nicht nur die in Zeiten vieler übergewichtiger Kinder und Jugendlicher pädagogisch fragwürdige Rolle der Zuckerfee eliminiert, sondern auch die bei Petipa willkürliche Aneinanderreihung der musikalischen Divertissements in Form exotisch-folkloristischer Tänze neu und dramaturgisch einleuchtend und durchaus auch „politisch-korrekt“ ordnet.

Thematisch rückt diese Stuttgarter Fassung die Bedeutung von Fantasie und Vision und das Zusammenspiel von Traum und Wirklichkeit in den Vordergrund. Dazu kommt als weiterer wichtiger Aspekt die Fähigkeit zur Empathie, in diesem Fall als Offenheit, auch anders geartete und aussehende Wesen anzunehmen, ja sogar zu lieben.

Gleich zu Beginn der vom Staatsorchester Stuttgart unter der Leitung des neuen Ballett-Musikdirektors Wolfgang Heinz feinsinnig und leicht hingetupft musizierten Ouvertüre öffnet sich der Vorhang für Jürgen Roses winterlich-weihnachtliche Märchenwelt:

Stuttgarter Ballett, Der Nussknacker hier Elisa Badenes, Matteo Miccini und Ensemble © Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett
Stuttgarter Ballett, Der Nussknacker hier Elisa Badenes, Matteo Miccini und Ensemble © Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett

Auf der von drei hohen Wänden gesäumten Bühne erleben wir - im leichten Schneefall - einen gerade vom Bürgermeister und dessen Frau eröffneten Weihnachtsmarkt. Im Hintergrund lädt ein Glühweinstand zum Verweilen ein, während davor Christbäume auf ihre Käufer warten und Kinder und Jugendliche Schlittschuh laufen und sich eine kleine Schneeballschlacht liefern. Diesem romantischen Genrebild - Jürgen Rose kleidet alle Figuren des ersten Akts in groß-bürgerliche Kostüme aus der Zeit von Hoffmanns Erzählvorlage - folgt als zweites der herrschaftliche Salon im Haus des Medizinalrats Stahlbaum, in dem die Vorbereitungen für den Weihnachtsabend in vollem Gange sind. Edward Clug und Jürgen Rose haben dazu allerhand pfiffige  Einfälle und Lösungen parat, etwa wenn Clara und ihr Bruder Fritz  - Elisa Badenes und Matteo Miccini geben die beiden hier als erwartungsfrohe etwas aufgeregte, dem Fest entgegenfiebernde und wunderbar kindliche Geschwister - den sich auf einem Tisch drehenden prächtigen Christbaum mit einer schier endlosen Kette aus Glaskugeln und Äpfeln schmücken oder das von Bediensteten auf dem Boden  abgelegte weiße Tischtuch von dem aus dem Bühnenboden hochfahrenden mächtigen Tisch emporgehoben wird und sich dieser quasi selbst deckt. Da staunen nicht nur die zahlreichen im Premieren-Publikum gesichteten Kinder, sondern es reagieren sogar etliche der erwachsenen Zuschauer mit Szenen-Applaus.

Diese mit mancher Komik und Ironie gewürzte, aber nie in Klamauk abrutschende Sichtweise setzt sich in den folgenden Szenen fort. Einen ersten Höhepunkt erreichen Handlung und Inszenierung, als der mit feierlicher Theatralik und enormer Kondition agierende Jason Reilly als der in einer Art Wotan-Nachfolge mit einer Augenklappe versehene Pate Drosselmeier die in ein rotes Kleid gewandete Clara mit allerlei Spielzeug und schließlich mit dem Titel gebenden Nussknacker beschenkt. Dazu fährt eine erste der von Jürgen Rose entworfenen riesigen, sehr realistisch gehaltenen Walnüsse aus dem Schnürboden herab, unter der in der Premierenbesetzung auf wunderbare Weise der Nussknacker Friedemann Vogels „ausgepackt“ wird, der sich später in den Neffen Drosselmeiers verwandeln wird. (Da an manchen Tagen zwei Vorstellungen des Nussknackers vorgesehen sind, arbeitet das Stuttgarter Ballett mit drei Besetzungen.) Von Rose doppelgesichtig als Mischwesen aus Mensch und Holzfigur kostümiert, erobert der sich mit zunächst steifen, staksenden und ungelenken Bewegungen den Festsaal und nähert sich der ihn staunend annehmenden Clara, die sich alsbald in ihn verliebt. Müde, aber glücklich legt sie sich nach dem Ende der Feier und dem Abschied der Festgäste in ihr am hinteren Bühnenrand stehendes Bett, wo sie träumend den fulminant und verwegen getanzten Angriff des Mäusekönigs und dessen Heer auf den Nussknacker erlebt. Marc Ribaud wird als dicker, dämonisch-zynisch grinsender Mäuse-Herrscher von seinen „Dienstmäusen“  effektvoll auf der Bühne herumgerollt, während sich seine in eng anliegenden dunkelgrauen, äußerst realistisch wirkenden Mäusekostümen steckenden Mäusesoldaten in einer der dunkelsten, gespenstischsten Szenen (Für die sehr passende und dramatisch höchst effektvoll eingesetzte Beleuchtung ist Valentin Däumler verantwortlich.) mit den von Clara zu Hilfe gerufenen übrigen Spielzeugfiguren eine dramatische Schlacht liefern.

Der dabei verwundete Nussknacker wird von Clara verbunden, die daraufhin den Mäusekönig von seinem rollenden Thron stößt und besiegt.

Stuttgarter Ballett, DER Nussknacker hier das Tanz-Ensemble © Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett
Stuttgarter Ballett, DER Nussknacker © Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett

In der folgenden Waldszene entfaltet Jürgen Rose seine ganze, jahrzehntelange Erfahrung als Bühnenmagier und führt das entzückte Publikum in die bezaubernde Welt der Waldfeen, in der nicht nur Sinéad Brodd als Waldkönigin im langen weißen Gewand begeistert, sondern auch ein wie ein Scherenschnitt wirkender kahler Baum die Blicke auf sich zieht.  Unter diesem lagern sich zwei sehr possierlich wirkende und von Katharina Buck und Alice Mc Arthur wie lebende Kuscheltiere gespielte Eichhörnchen. Mit den zwei von Mizuki Amemiya und Henrik Erikson mit wilden Sprüngen auf als deren Vorderbeine dienenden Hirschbein-Krücken sehr lebendig, ja ungestüm gegebenen Hirschen liegen sie in harter Konkurrenz um die „tierische Publikumsgunst“ im ersten Akt. Dieser endet mit dem Herabfahren einer weiteren riesigen Walnuss und dem angedeuteten, aber nicht zu Ende geführten Hammerschlag Pate Drosselmeiers auf diese. Als solcher kann Jason Reilly auch in dieser Szene seine ganze Bühnenerfahrung und hohe Bühnenpräsenz ausleben. Diese konnte er zuvor schon in der die gesamten Kampf- und Waldszene, die er als geheimer Regisseur und Antreiber organisiert und beherrscht, höchst überzeugend unter Beweis stellen. In dieser wie auch an anderen Szenen kann man sich sehr gut vorstellen, wie sich Choreograf und Bühnenbildner bei der Konzeption dieses Balletts gegenseitig inspiriert und angestachelt haben, siehe hierzu das Video unten. Dabei, dieses Urteil sei schon an dieser Stelle erlaubt, scheint sich der Ältere und Erfahrenere leichte Vorteile erarbeitet zu haben, denn die tänzerische und choreografische Fantasie Clugs kann nicht immer mir der visuellen Opulenz von Roses Bühne, Ausstattung und Kostümen mithalten. Dies liegt auch daran, dass der Choreograf mit seinem Nussknacker keinerlei gestalterisches Wagnis  eingeht, sondern ganz auf altbewährte Gestaltungselemente des klassischen Handlungsballetts setzt, wie sie in Stuttgart in den bis heute beliebten und höchst erfolgreichen Arbeiten John Crankos oder Marcia Haydees zu erleben sind.

Den zweiten Akt  gestaltet das Trio Arnold / Clug / Rose als die Suche der verzweifelten Clara und ihres Patenonkels nach dem verschwundenen Nussknacker. Dazu muss sich das Duo unter der inzwischen tatsächlich aufgebrochenen Nuss auf eine Reise begeben. Dabei wird es von einer Gruppe märchenhaft ausgestatteter kleiner Käfer (Hier haben Schülerinnen und Schüler der John-Cranko-Schule ihren auch pädagogisch sinnvollen Auftritt.) und von einem Schwarm von Jürgen Rose wirklich hinreißend realistisch-zauberhaft kostümierten, nein, geschaffenen Schmetterlingen begleitet. Diese Bilder prägen sich schnell ein und tragen mit dazu bei, den Abend, wie schon mehrfach angedeutet, zu einem Fest der Farben und Sinne werden zu lassen. Dazu trägt auch das feine Gespür des Regieteams für den Geschmack eines für Volkstümlichkeit und (leichte) Unterhaltung offenen Publikums bei, etwa wenn Rose / Clug einen kleinen Saurier oder Drachen in die Spielzeugschar schmuggeln.

DER Nussknacker hier Elisa Badenes, Jason Reilly als Drosselmeier, Ensemble © Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett
Stuttgarter Ballett, DER Nussknacker hier Elisa Badenes, Jason Reilly als Drosselmeier, Ensemble © Roman Novitzky / Stuttgarter Ballett

Überhaupt gestalten sich die Begegnungen Claras mit ihren Spielsachen sehr fantasievoll und optisch-darstellerisch herausragend. Dieses Spielzeug erscheint zunächst als kleine Figuren auf der Trage eines wie zufällig vorbeikommenden Spielzeug- bzw. Trödelhändlers, ehe diese dann in größerer Version am vorderen Bühnenrand platziert werden. Zu Bühnen-Subjekten und damit zu lebendigen, getanzten Figuren schlüpfen sie höchst bühnenwirksam aus weiteren riesigen Nüssen, die nun aber nicht mehr aus der Luft herabschweben, sondern passend zur jeweiligen Musik selbst als Ballett auf die Bühne geschoben bzw. gedreht werden. Die ihnen entsteigenden Harlekine, Kosaken, Toreros und weitere Figuren und deren tänzerisch-akrobatische Auftritte bringen viel Dynamik, ja hohen Drive auf die Bühne und in die Handlung, zumal sie  vom Staatsorchester unter Wolfgang Heinz musikalisch kongenial befeuert werden. Davon profitieren in besonderer Weise die beiden höchst theatralisch daherkommenden Kamele, gespielt resp. getanzt von Natalie Thornley-Hall, Eva Holland-Nell, Vincent Travnicek und Lassi Hirvonen, die sich an diesem Abend, zumindest gemessen am Szenenapplaus, die Trophäe der Publikumslieblinge geschnappt haben dürften. Ihre Kostüme sind allerdings auch vom Allerfeinsten und dabei so realistisch, dass man fast versucht ist, ihnen richtiges Futter anzubieten….

Objektiv gesehen und in tänzerischer Hinsicht gebührt der Titel natürlich den beiden Hauptdarstellern, Elisa Badenes als Clara und Friedemann Vogel als Nussknacker bzw. Drosselmeiers Neffe, denen Jürgen Rose und Edward Clug den äußerst bühnenwirksamen Schluss überlassen: Eine letzte, äußerst edel anzusehende Nuss bringt den von allen gesuchten Nussknacker zurück, nun in seiner menschlichen Gestalt und damit als der ursprünglich in den Nussknacker verzauberte Neffe Drosselmeiers. In ihrem komfortabel ausgestatteten Innern sitzt dessen Darsteller Friedemann Vogel auf einer Bank, von der er von der strahlenden Clara, inzwischen im weißen Kleid (!), abgeholt wird.

In einem rauschenden, vom Orchester mit Hollywood-würdigem, vibrato-sattem  Streicherklang begleiteten Pas de deux tanzen die beiden in ihr Glück. Dessen Anstifter, Pate Drosselmeier in Person von Jason Reilly, nimmt als zufriedener Zuschauer in der Luxusnuss Platz, ehe er am Ende diesen Platz mit dem Märchenpaar tauscht. Dies bietet ihm die Gelegenheit zu einem abschließenden netten Einfall der Regie: Zu den letzten Takten der Musik tänzelt Drosselmeier zum sich senkenden Vorhang, um diesen, mit einem Glas Wein in der Hand, aufzuhalten.

The Nutcracker Rehearsal youtube Stuttgarter Ballett [ Mit erweitertem Datenschutz eingebettet ]

Dass dieses Fest nicht zu Ende gehen möge, mag sich vielleicht auch manch einer der an diesem Abend  ebenfalls ziemlich glücklichen Zuschauer gewünscht haben. Sie genossen zwei Stunden, in denen man alles Leid dieser Welt und seine Wut und seine Ohnmacht darüber vergessen konnte. Choreografisch mögen sich manche Ballettfans etwas mehr Mut und größere Schritte ins 21. Ballett-Jahrhundert erhofft haben. Optisch-visuell und musikalisch wie darstellerisch-tänzerisch aber lässt dieser eigentlich erste richtige Nussknacker des Stuttgarter Balletts keinerlei Wünsche offen. Dieser Ansicht wird wahrscheinlich nicht nur das Premierenpublikum sein, das diesen Lückenschluss im Repertoire mit riesigem Jubel, nicht enden wollenden Applaus und stehenden Ovationen für alle Beteiligten feierte, vor allem aber für den heimlichen Hauptdarsteller des Abends, den Ausstatter Jürgen Rose!

Kein Wunder, dass alle weiteren in diesem Jahr geplanten Aufführungen bis zum 18. Dezember 2022 ausverkauft sind. Mit etwas Glück gibt es vielleicht noch Restkarten an der Abendkasse.

---| IOCO Kritik Staatsoper Stuttgart |---