Strasbourg, Opéra national du Rhin, Hänsel und Gretel, IOCO

Strasbourg, Opéra national du Rhin, Hänsel und Gretel, IOCO
Opéra National du Rhin Straßburg © WIki commons

07.12.2025

 

 

PSYCHOANALYSE EINES MÄRCHENS…

 

Was seid ihr für leckere Teufelsbraten,
besonders du, mein herziges Mädchen!
Kommt, kleine Mäuslein,
kommt in mein Häuslein!
Ihr sollt’s gut bei mir haben,
will drinnen köstlich euch laben!
Schokolade, Torten, Marzipan,
Kuchen, gefüllt mit süßer Sahn‘,
Johannisbrot und Jungfernleder,
und Reisbrei, auf dem Ofen steht er,
Rosinen und Feigen
und Mandeln und Datteln sich zeigen:
s‘ ist alles im Häuschen eu’r Eigen,
ja, alles eu’r Eigen!

(Szene der Hexe aus dem 3. Akt)

 

Aus dem Volksgut…

Indem das Märchen Hänsel und Gretel (1812) aus der deutschen Märchensammlung der Gebrüder Grimm: Wilhelm Grimm (1786-1859) und Jakob Grimm (1785-1863) und auf die Erzählungen und Lieder Das Knaben Wunderhorn (1845) gesammelt und veröffentlicht von Clemens von  Brentano (1778-1842) zurückgreift, scheint es jedoch auch die volkstümliche Strömung der deutschen Romantik fortzuführen oder gar zu perfektionieren. Doch steckt 1893 mehr dahinter als ein musikalischer Reflex? Mehr als die übliche Sammlung eingängiger Themen – eine Aktualität? Die Rückbesinnung auf die Stimme des Volkes, seine Refrains, seine Sprüche hatte mit Johann Gottfried von Herder (1744-1803) fast 150 Jahre zuvor begonnen, damals mit einer Aufrichtigkeit und einem polemischen Eifer, der eine deutsche Identität gegen die französische Hegemonie  behaupten wollte – der Versuch, mit subtilen Tricks eine nordische Zivilisation gegen die französische-italienische Zivilisation zu errichten, um William Shakespeares (1564-1616) zurückzuerobern und die Vordringung der Kopien des klassischen französischen Theaters einzudämmen -. In der Ära der napoleonischen Herrschaft schöpfte der Rückzug in Erzählungen und Mythen, das Studium der Sprache, Etymologie und der Tradition des Volkes aus demselben politischen Kampf, der eine spirituelle Einheit schuf, um der territorialen Zersplitterung entgegenzuwirken: „Was haben wir sonst noch gemeinsam“, fragt J. Grimm  im Vorwort zu seinem Deutsches Wörterbuch (1838), „als unsere Sprache und unsere Literatur?“ Und er stellte die alten Symbole – „dieses grüne Holz, dieses frische Wasser, diesen reinen Klang“ – der „Knappheit, der Verwirrung, der Lauheit, der Verwirrung unserer Geschichte gegenüber, die aus politischen Konstruktionen besteht, welche die freien Auseinandersetzungen der alten Nation ersetzen“. Aus „nationaler“ Sicht waren Erzählung und Mythus nicht zu unterscheiden – Joseph Görres (1776-1848), ein Freund von Achim von Arnim (1781-1831) und Brentano, hatte 1810 eine erste Anthologie veröffentlicht, in der die Nibelungen wieder auftauchten -;  doch nach 1871 ging diese Bedeutung verloren und für einen Opernkomponisten verlagerte sich das Problem: Man musste aus dem wählen, was Richard Wagner (1813-1883) hinterlassen hatte, der seinen Anhängern riet, sich für die Erzählung zu interessieren, da die germanische Mythologie von ihm gut gepflegt worden war… Das wird sein Sohn Siegfried – dessen Bärenhäuter recht erfolgreich war -, was Hans  Pfitzner (1869-1949) und Engelbert Humperdinck (1854-1921) bei mehreren Gelegenheiten tun.

Patricia Nolz (Hänsel) und Juliette Aleksanyan (Gretel) © Klara Beck

 

Die Verwendung von Volksthemen ist angesichts der außerordentlichen Nähe der deutschen Kunstmusik zum Volksmusikhintergrund, der eines ihrer dominanten Merkmale ist, nicht ungewöhnlich; es gibt keine andere Musik, in der ein Volksthema weniger ein „Zitat“ ist – von Joseph Haydn (1732-1809), Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791), Ludwig van Beethoven (1770-1827) und Johannes Brahms (1833-1897) – der einige Lieder aus eigener Komposition in seine Anthologie von Deutsche Volksliedern (1894) einfügt -, dann zu Arnold Schönberg (1874-1951), Alban Bergs (1885-1935) Violinkonzert zum Gedenken an einen Engel (1935) oder sogar Helmut Lachenmann (*1935) mit seinem Mouvement vor der Erstarrung von 1984 mit dem dekonstruierten Volkslied „O mein lieber Augustin“ (1679) von dem Minnesänger Marx Augustin (1643-1685), das auch in Schönbergs: Streichquartett N° 2  in fis-Moll (1907/08) zu finden ist. In Italien gab es nichts Vergleichbares – die neapolitanische Folklore wurde beispielsweise Ende des letzten Jahrhunderts „rekonstruiert“ -, auch nicht in Frankreich – wo der Fokus  eher auf Tonleitern und aktuellen Moden, ihrem Klangcharakter und ihrer archaischen Aura lag -. Die deutsche Volkstradition lässt sich erstaunlich gut in die Kunstmusik integrieren: Sie bildet den perfekten Kontrapunkt in den Geistlichen Wiegenliedern für eine Altstimme mit Bratsche und Klavier,  Op. 91 (1885) von Brahms – der auch Humperdinck und seiner Oper Hänsel und Gretel (1893) eine bewegende Rezeption gab -, dieser unmittelbaren Gegenmelodie des alten Kirchengesangs „Joseph, lieber Joseph mein“ (1571) von Leonhard Schröter (1532-1601); sie ist auch die Metamorphose einer Melodie aus dem 15. Jahrhunderts, die wir in den Variationen „Ah! vous dirai-je, maman“, KV 265 (1771) von Mozart und im Vorspiel des dritten Tableau von Hänsel und Gretel.

 

All dies – insbesondere die reizvolle Liedauswahl im ersten Akt, anstelle von Brot und Butter, die Choräle, die mit sanfter Reue segnen, die engelsgleichen Wiegenlieder – ist daher allzu tief in der Tradition verwurzelt und wirkt beinahe zu glatt oder zu deutsch. Hänsel und Gretel markiert „die Rückkehr zu deutscher Kontemplation und Intimität“, schrieb Hans Joachim Moser (1889-1967) - Librettist der Oper Dornröschen (1902), einer unvollendeten eingeschlafenen Märchenoper von Humperdinck und später offizieller Musikwissenschaftler des Dritten Reichs -. Die Oper leidet mitunter unter einer Rhetorik, die mit übertriebenen Selbstvertrauen oder Nachlässigkeit eingesetzt wird. Diese Themen funktionieren zu gut, sie werden gekonnt, niemals vulgär behandelt, doch nichts stellt sie in Frage oder prüft sie: Humperdincks Musik kennt nichts von jener seltsamen, zwischen Tränen und Ironie schwankenden Nostalgie, die bei Gustav Mahler (1860-1911) existiert, nicht nur, wenn er eine bewusst unausgewogene Instrumentierung populärer Themen knarren lässt, sondern auch, wenn die Engel der Symphonie N° 4 in G-Dur (1901) – komponiert sechs Jahre nach unserer Oper – sie jubeln in höchster Lage überschwängliche Freude und sofort: Bei Humperdinck steigen die Engel Schritt für Schritt mit mittelalterlicher, gutmütiger Langsamkeit herab. Das Volksthema bleibt ungebrochen und durch diese eigensinnige erste Stufe bleibt Humperdinck nur bei Brahms, aber mit all den Wagner- Tönen verbunden!


Catherine Hunold (Gertrud) und Damien Gastl (Peter). © Klara Beck

 

Nur eines dieser Lieder wird als eigenständiges musikalisches Thema behandelt – transformiert, durch verschiedene harmonische Interpretationen erforscht, in Motive zerlegt – es ist das allererste, das Gretel singt, „Suse, liebe Suse“. Danach verwendet Humperdinck diese Lieder lediglich als Melodien, unberührt, autonom, die erscheinen, verschwinden und wiederkehren. Damit umgeht er eines der großen Dilemma der Musik nach Beethoven, das zwischen Thema und Melodie – zwischen einem Objekt, das bearbeitet, entwickelt und zum Ausdruck gebracht werden kann und der in sich geschlossenen Anmut einer Melodie: Jede Melodie ist in gewisser Weise auch eine Pause in der Musik! Daher sind Momente melodischer Essenz in Wagners Werk selten, seine Themen konzentrieren sich auf kurze Motive, reines Material, das semantischer und musikalischer Arbeit gewidmet ist; die für die Oper charakteristischen Pausen, jene Ekstasen, jene abtrennbaren Highlights – Laute, sind in seinem Werk praktisch nicht vorhanden. Er führt die Melodie in den Wagnerschen Diskurs wieder ein, fließend und aus kleinen Einheiten zusammengesetzt, Melodie in ihrer markantesten Form – der populären also und stellt dieser Themenfamilie nur zwei oder drei selbst erfundene Themen gegenüber, darunter eine etwas alltägliche, freudige Melodie, die irgendwo zwischen Carl Maria von Weber (1786-1826) und Franz Lehár (1870-1948) liegt und nach der Explosion des Ofens in voller Pracht wiederkehrt. Das Material ist daher farbenfroh, diese Lieder sind oft angenehme kleine Leckerbissen. Wenn die Kinder das Haus der Hexe entdecken, erklingt ein kaum zu rechtfertigender Operettenwalzer, es sei denn, man stellt sich hier ausnahmsweise die zweite Stufe der „kulinarischen“ Musik vor, wie Theodor W. Adorno (1903-1969) sagte, das raffinierte Zitat der „Konsum-Musik“, die für unsere Ohren das ist, was der Anblick von Essen für die Geschmacksnerven von Kindern ist. Die dort triumphierenden Instinkte wären ebenso verstörend wie der Einsatz von Kindern in der schäbigen Werbung für einen McDonald’s, wenn man einen weitaus komplexeren Walzer hörte – ein Thema in zwei Takten über einem freiteiligen Takt -, der das erste auf seine wahre parodistische und beinahe anklagende Funktion zurückführt!

Patricia Nolz (Hänsel), Juliette Aleksanyan (Gretel) und Louisa Stirland (Taumännchen) © Klara Beck

 

Ein weiterer Bruch tritt mitunter zutage, den der Brahms-Kritiker Eduard Hanslick (1825-1904) bereits hervorgehoben hat: „Es ist das seltsame Missverhältnis zwischen der musikalischen Opulenz der Oper und der Atmosphäre, den Figuren und Handlung der Originalgeschichte, die zudem erheblich beschönigt wurde, um Popularität zu erlangen und Gewinne zu sichern. Aber scheinen diese kleinen Figuren nicht eine schwere Last auf der Bühne zu tragen, arme Seelen, die in einem komplexen Orchesterklang ertrinken, als wären sie in zu große Kleider gehüllt und die sich mit solch anspruchsvollen Gesangspartien auseinandersetzen müssen?“ Humperdinck ist damit der Anti-Maurice Ravel (1875-1937) von L’Enfant et les Sortilèges (1925). Selbst wenn wir Konventionen berücksichtigen, können uns diese Zwergen-Gestalten, die in so viel kulturellem Lärm verloren gehen, beunruhigen – das ist nicht unsere Kindheit, das sind nicht gerade die schlanken, herzzerreißenden Gefährten, die aus jenen allerersten Texten geboren wurden, die wir hörten oder entzifferten, als das Buch auf einem immer zu hohen Tisch stand – es ist die Beschwörung von Walter Benjamin (1892-1940) in Berliner Kindheit um Neunzehnhundert (1923) -, wenn der Atem des Kindes in der Luft der Ereignisse angehalten wird, wenn es mehr der den Figuren als mit der Welt der Erwachsenen verschmilzt und wenn es beim Aufstehen „mit all dem Weiß dessen bedeckt ist, was es gerade gelesen hat“. Darüber hinaus wurden oft Versuche unternommen, die die Titelrollen Kindern anzuvertrauen; es gab auch eine „Re-Singspielisierung“ von Hänsel und Gretel im Jahr 1927 mit reduzierter Besetzung, zu einer Zeit, als Geld und Orchester sicherlich knapper geworden waren.

 

Uns ist aber auch aufgefallen, dass dieses gewaltige Orchester die Kinder durchweg kaum überfordert: Wenn man sie alleine lässt, wird es leichter und feiner. Bei populären Liedern ist zu beachten, dass die meisten von ihnen beim Singen – dramatisch – auftreten und daher einen „Realitätseffekt“ erzeugen.

 

Der Erfolg von Hänsel und Gretel resultiert somit aus einer letztlich immer korrigierten Balanceübung, die unser Unbehagen – das Unbehagen „zu Deutsch“ zu sein, „zu Wagner-ianisch“, das Unbehagen übermäßig verführerischer Themen oder gedämpfter Kinder – in den Genuss einer Musik überführt, die im Sinne der Opern von Richard Strauss (1864-1949) „sehr lebendig“ ist und trotz großer Konstruktions-Kunst nicht ohne Bescheidenheit auskommt. Weil Humperdinck vielleicht bewusst ein wenig hinter dem Meisterwerk zurückbleibt und sich direkt neben Wagner und etwas darunter anordnet: Sein Orchester selbst – wo Anklänge an Mahler – Vorspiel zur 3. Szene -, an Strauss – Ende der ersten 3. Szene – und oft auch an Die Meistersinger von Nürnberg (1868) -hier und da wie in einer magischen Laterne leuchtet auch Franz Liszt (1811-1886) auf, wagt sich aber kaum an Legierungen von Parsifal (1882). Auch seine harmonische Sprache geht eine wenig zurück, mit einer großen Vorliebe für harmonische Märsche, für die klassische neapolitanische Sexte, für unmittelbare Modulationen zur Terz – diese Mediantenrückung, das eine der Drogen von Franz Schubert (1797-1828) war – und wenigen komplexen Akkorden, wobei er sogar den Tristan und Isolde - (1865) Akkord vermeidet, einer der harmonischen Joker des Wagner-Rezitativs schon für Der Ring des Nibelung (1876).

Louisa Stirland (Sandmännchen), Patricia Nolz (Hänsel) und Julietta Aleksanyan (Gretel) © Klara Beck

 

Die Merkmale, die der junge Kritiker Adorno 1934 über Die Königskinder (1897) – eine Art schwarzes Gegenstück zu Hänsel und Gretel – anmerkte, treffen bereits auf diese erste Oper zu: „Was sich in dem so definierten Rahmen musikalisch abspielt, ist nicht gering. Wir können heute ohne Angst vor Übertreibung sagen, dass es unter den unmittelbaren Epigonen von Wagner niemanden gab, der mit so viel Geschmack, wenn auch ein wenig Arroganz und vor allem mit einem so zuverlässigen und kritisch gefilterten Beruf komponierte und der durchaus mit den zu mehr Berühmtheit gewordenen Namen konkurrieren konnte. Eine gewisse Entspannung der Geste orchestral bezieht sich eindeutig auf den ersten Strauss, ein merkwürdig düsterer Volkston wie bei Mahler; aber alles hat seinen eigenen Klang und viel Erfindungsreichtum.“

 

Anhang: Libretto von Adelheid Wette (1858-1916).

 

Zur Premiere in der Opéra National du Rhin / Straßburg am 07. Dezember 20025:

 

Ein etwas zu dunkles Weihnachtsfest ohne Lebkuchen…

Die Neuinszenierung von Humperdincks Hänsel und Gretel, die von dem französischen Regisseur Pierre-Emmanuel Rousseau für die Opéra National du Rhin konzipiert wurde und die  2020 während der Pandemie ohne Publikum in einer kleinen Orchesterbesetzung gefilmt wurde, findet nun ihren Weg endlich auf die Bühne: Anfangs zu Zaghaft, kommt die Aufführung erst mit dem Erscheinen der Hexe richtig in Schwung und die Gesangsbesetzung erweist sich leider als zu uneinheitlich: Um auf die Dauer zu überzeugen! 

 

Humperdincks: Hänsel und Gretel, das in deutschsprachigen Ländern zur Weihnachtszeit und mitunter auch darüber hinaus zum festen Repertoire gehört – siehe beispielsweise im Stadttheater  Saint-Gallen -, genießt in Frankreich leider nicht denselben Ruhm. Zwei große Pariser Inszenierungen  in 25 Jahren – im Théâtre du Châtelet  (1997) und anschließend auch in der Opéra National de Paris / Palais Garnier (2014) – und nur eine im Elsass im Jahr 2000 sind für ein so brillantes Werk mit seiner reizvollen Melodik, dessen größter Wert darin besteht, junge Talente in die Opernwelt heranzuführen, sehr wenig. Umso lobenswerter war die Initiative von Eva Kleinitz (1972-2019 ), der damaligen deutschen Direktorin der Opéra National du Rhin, die besonders in dieser Region  noch immer relativ selten aufgeführte Werk wiederzubeleben. Mit dieser Wiederaufnahme, in der größtenteils eine völlig neue Besetzung zu sehen ist, können wir diese Inszenierung unter der Regie von Rousseau endlich wieder auf der Bühne erleben. Seit seinem Debüt  an der Opéra Comique Paris im Jahr 2010 hat sich der ehemalige Assistent von Stéphane Braunschweig am Théâtre National de Strasbourg eine beachtliche Karriere aufgebaut, wie das elsässische Publikum 2018 in Gioachino Rossinis (1792-1868) Il barbiere di Siviglia (1816) feststellen konnte.

Szenenfoto (© Klara Beck

 

Rousseau betonte in seiner Inszenierung von Hänsel und Gretel von Anfang an die extreme Armut der Protagonisten, die sich ihren Lebensunterhalt in den Überresten einer offenen Müllhalde verdienen müssen. Indem er die Figuren in einer trostlosen sozialen Realität verankerte, nahm er der Eröffnungsszene jegliches Erstaunen, ohne dabei auf visuelle Illustrationen in den prachtvollen Orchesterzwischenspielen Humperdincks zurückzugreifen. Während dies für die Ouvertüre verständlich sein mag, schadet es insbesondere der Szene, in der der Vater von der Hexe erzählt, die dadurch erheblich geschwächt wird. In diesem minimalistischen Ansatz enthüllen das Finale des ersten Akts und das Waldzwischenspiel nach und nach ein ganzes farbenfrohes und skurriles Bestiarium und erwecken die Bühne schließlich zum Leben. Die Entdeckung des teuflischen Hauses, das sich in ein von einem Jahrmarkt umgebenes Kabarett verwandelt hat, überrascht daher mit seiner überschäumenden Energie und steht in starkem Kontrast zur Statik und Kargheit des Beginns. Die Entscheidung, die beiden Akte radikal gegeneinanderzustellen, mag zwar intellektuell schlüssig sein, doch muss man anerkennen, dass dadurch alle dramatischen Möglichkeiten des ersten Akts geopfert werden und Langeweile  droht. Um die Aufführung vollends würdigen zu können, muss man diese Einschränkung  in Kauf nehmen. Sie nimmt in der zweiten Hälfte, mit Marlene Dietrich (1901-1992) und ihrem ungehemmten Freakshow – Auftritt, erst richtig Fahrt auf! Fasziniert von den Bemühungen der Diva, den Lauf  der Zeit bis zu ihrem Lebensende aufzuhalten, entwirft Rousseau das Bild einer Hexe, deren Schönheit zunehmend verblasst und die ihre Jugend bewahrt, indem sie sich von der jüngeren Generation nährt. Die wenigen Andeutungen auf das räuberische Sexualverhalten des Monsters, das sich schließlich wie ein ferner Avatar aus der Novelle von The picture of Dorian Gray (1891) von  Oscar Wilde (1854-1900) offenbart, sind im Libretto vollkommen gerechtfertigt. 

 

Angesichts dieser uneinheitlichen Darbietung wirkt das Ensemble nicht gänzlich überzeugend, da die Rolle der Gretel vielleicht schlecht besetzt ist. Schuld daran ist wohl die Wahl der armenischen Sopranistin Julietta Aleksanyan, die den Anforderungen ihrer Rolle nicht vollends gerecht wird. Die Sopranistin hat in der ersten Hälfte Schwierigkeiten, ihr fehlt es an Flexibilität in den Beschleunigungen und selbst in den lyrischeren Passagen sind hörbare Registerwechsel festzustellen. Auch einige Stellen mit Stimmmodulationen sind zu erkennen, möglicherweise ein Zeichen von Nervosität vor dieser mit viel Spannung erwarteten Aufführung. Ihre Partnerin, die österreichische Mezzo-Sopranistin Patricia Nolz in der Rolle des Hänsel ist da schon überzeugender. Sie zeigt in diesem Repertoire eine bewundernswert artikulierte Phrasierung und eine lobenswerte Diktion. Lediglich ihre hohen Töne wirken nicht brillant genug, um wirklich zu fesseln. An ihrer Seite glänzt der französische Tenor Damien Gastl als Peter, mit einem  größeren Stimmumfangs in der Tiefe, dank seiner natürlichen Kontrolle über seine perfekt projizierte Stimmlinie. Die französische Sopranistin Catherine Hunold, die sich noch in ihrer Rolle als Gertrud etwas unsicher fühlt, enttäuscht mit ihrer im Vergleich zu ihrem Partner eher zurückhaltenden Stimme; ihre Mittallage ist verhalten, um die nötige harmonische Fülle voll zur Geltung zu bringen. Eine weitere Enttäuschung ist der amerikanische Tenor Spencer Lang in seiner blassen Darstellung der Hexe: Selbst wenn diese Wahl durch die Inszenierung  bedingt war, gelingt es ihm nicht, die erwartete komödiantische Ausgelassenheit seiner Rolle einzufangen. Die britische Sopranistin Louisa Stirland hingegen liefert in ihrer Doppelrolle als Tau – und Sandmännchen eine Meisterleistung an strahlender Musikalität ab, die eine willkommene Abwechslung bietet.

Patricia Nolz (Hänsel) und Spencer Lang (Hexe) © Klara Beck

 

Der junge österreichische Dirigent Christoph Koncz, Musikdirektor des Orchestre symphonique de Mulhouse, benötigte aufgrund der anfangs zu langsamen Tempi etwas Zeit, um sein Orchester in Schwung zu bringen. Seine Vorliebe für eine feine, klangliche Leichtigkeit leidet mitunter unter einem Mangel an Struktur und Bass, bleibt aber dank seines erzählerischen Gespürs fesselnd, ohne jemals die Sänger zu übertönen.

 

 

 

 

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