Stralsund, Theater Vorpommern, Die Hochzeit des Figaro - W. A. Mozart, IOCO

Stralsund, Theater Vorpommern, Die Hochzeit des Figaro - W. A. Mozart, IOCO
Bassem Alkhouri, Elisabeth Starzinger, Jovan Koščica copyright Peter van Heesen

Premiere 10.05.2025

Künstlerischer Paukenschlag mit Mozart in Stralsund

Wolfgang Berthold verabschiedet sich mit „Die Hochzeit des Figaro“

 

Was für ein Abschied! Wolfgang Berthold, erst seit der Spielzeit 2021/22 Operndirektor und Chefregisseur für das Musiktheater am Theater Vorpommern, verlässt zum Spielzeitende seinen hiesigen Arbeitsplatz. Und das – sinnbildlich – mit Pauken und Trompeten! Will heißen: mit einer Abschiedsproduktion von  Mozarts „Die Hochzeit des Figaro“, deren rechtens begeistert gefeierte Premiere am 10. Mai in Stralsunds Großem Haus stattfand.

Der „Figaro“ als Wagnis? In Stralsund war das als ein solches eher nicht erkennbar, als Kompendium diverser Herausforderungen aber schon! Doch Berthold ist ein erfahrener Regisseur und die Dramaturgie des Hauses (hier Katja Pfeifer) von hinlänglich bekannter und geschätzter Fachkompetenz. Auch den Sachwaltern von Bühne und Kostüm (Stefan Rieckhoff, Julia Klug) waren noch nie fantasievolle Lösungen ausgegangen, der Chor permanent in besten Händen. Dazu ein Philharmonisches Orchester, das sich zu großartiger Leistung zu steigern versteht und – seit langem ein Riesenbonus – ein hauseigenes Sängerensemble von rundum bestechender Qualität. Die elf Positionen im „Figaro“ waren – nur zwei Gäste inbegriffen -so zu besetzen, dass häufiger Szenenbeifall und enthusiastischer Schlussapplaus zwangsläufige Folge waren? Fazit: eine Inszenierung, die im Gedächtnis bleiben wird!

Antje Bornemeier, Pihla Terttunen copyright Peter van Heesen

Optisch ist das Auge schnell im Bilde: die Drehbühne wird in der Mitte durch eine sehr hohe Wand

geteilt, wobei deren beiden Seiten unterschiedlich gestaltet sind: undekoriert belassen die eine (kahles Gerüst), freundlicher im Aussehen (farbige, gemusterte Tapete) die andere. Davor moderne Stühle auf der einen, Andeutungen barocken Mobiliars auf der anderen Seite. Wichtig: fünf Türen in der Wand, deren permanente Nutzung standesmäßige Unterschiede zwischen aristokratisch und bürgerlich – so das Konzept – immer mehr aufweicht, bis die Wand als Symbol gesellschaftlicher Trennung am Schluss (Gartenszene!) fällt und damit funktionslos auf dem Boden liegt. Das Wenige an Bühne reicht, um dem nicht wenig verwirrenden, hier aber nicht näher zu erörternden „Beziehungsdickicht einer Palastgemeinschaft“ (Progammheft) jede Menge Raum für ungemein lebendige, dabei stets assoziationsreiche Aktionen zu schaffen.

Die Inszenierung rechnet offensichtlich mit einem Adressaten, der um die historisch brisanten  (französischen revolutionären) Hintergründe bezüglich literarischer Quelle (Beaumarchais) und (politisch gemäßigterem) Libretto (da Ponte) weiß. Es genügt also, sich auf „die feine Subordination, die festgefahrene Gesellschaften ins Schwanken bringt“, zu konzentrieren (Programmheft). Oder auch der bloße Verweis auf Mozarts eigene und entsprechend drastisch formulierte Erfahrungen im Umgang mit Vertretern der Aristokratie. Und dann gibt es ja auch noch  die Möglichkeiten, über Kostüme absichtsvoll erkennbare und sehr charakteristische (gesellschaftskritische) Botschaften zu vermitteln. Auf Stralsunds Bühne gerät das zu einer überaus fantasievoll ausgelebten Orgie von Farben, Formen, Modellen, Stilen und Frisuren.

Franziska Ringe, Maciej Kozłowski copyright Peter van Heesen

Eine für den Zuschauer durchaus anspruchsvolle, lohnende Aufgabe, in einem überaus bunten, jeder commedia dell`arte-Präsentation alle Ehre machenden äußeren Erscheinungsbild Charaktere zu dechiffrieren und personelle beziehungsweise soziale Zuordnungen auszumachen. Da diese an Deutlichkeit keine Zweifel lassen, kann auf jede veräußerlichende Demonstration konkreter politischer Hintergünde gut verzichtet werden; da Ponte hat ohnehin– wie schon angedeutet – eine im Vergleich zur Vorlage bereits gemilderte Textfassung geliefert. Ganz abgesehen davon, dass es sich hierbei dezidiert um eine Komödie handelt.

Denn Mozart schreibt sehr bewusst eine opera buffa! Und er verleiht ihr alle Kennzeichen einer gattungsgeschichtlich bedeutsamen Gratwanderung, in der sich bühnenwirksame Komik und tiefere Bedeutung auf neue, kühne Art mischen. Wer es betont fachlich formuliert wissen will: „Nicht seine  Musik ist revolutionär, sondern sein Verfahren, die Tradition der opera buffa durch deren Vervollkommnung aufzuheben“ - so Ulrich Schreiber in seinem Opernführer für Fortgeschrittene (hier 5. Auflage, Band 1,2010, S. 452). Wer im Stralsunder Theater saß, hat das durchaus hörbar erfahren oder zumindest erahnen können. Sicher aber machte er zeitgleich die Erfahrung, direkter Zeuge „der endgültigen Emanzipation der Musik zu einem dramatischen Funktionsträger“ geworden zu sein, einschließlich „des im Gesang seine ganze Komplexität ausdrückenden Menschen...“ (Schreiber, S. 452/53). Was will man mehr! 

So gewichtig dies alles ist, das Werk versteht sich als geniale Demonstration immensen Vergnügens, als eine doppelbödige Stegreif- und Verwicklungskomödie, der nichts Menschliches fremd ist. Ein Glücksfall – auch in Stralsund!  Dort lebt die Inszenierung von durchgängig hohem Tempo, unterbrochen von Phasen (trügerischer) Ruhe. Türen auf, Türen zu, Bewegungen hin, Bewegungen her, Rasanz und Erregtheit in hohen Graden. Und das Ganze zwischen Soloaktion und hier massiv ausgebauten Chorszenen. Triebkraft ist pure Leidenschaftlichkeit. Sie ist im Handeln höchst unterschiedlich motiviert und ausgeprägt, was wesentlich zur Spannung, zur Lebendigkeit und Stringenz des von diversen Intrigen und ihren ungewissen Folgen bestimmten Bühnengeschehens beiträgt. Das Ensemble versteht es zudem, der Gewichtigkeit des Stoffes mit souveräner, lustvoll servierter, dennoch nie übertriebener Spielfreude zu begegnen; ein Garant für äußerst unterhaltsame Kurzweil.

Semjon Bulinsky, Maciej Kozłowski, Pihla Terttunen, Franziska Ringe copyright Peter van Heesen

Dazu gehört auch ein bißchen Stoff  für die nachdenklich in Falten gelegte Stirn. Spielerisch-aufgelockert beginnt  etwa die Ouvertüre mit allen bestens aufgelegten Protagonisten in vokaler Version. Zum Einsatz des Orchesters stürmt eine Kinderschar die Bühne, diskutiert wild und vertreibt das Vokalensemble in die Kulissen. Ähnlich gekleidet wie die Vertriebenen, deren Rollen sozusagen übernommen werden, war das als Hinweis auf die textliche Vorgeschichte der Oper zu verstehen.   

Als Einfall zum Weiterdenken darf auch die Präsentation optisch wahrlich gut geratener, fast durchweg gehörnter Tiere gelten. (Ein Schelm, wer...) Der Bezug zur nachdenklich-traurigen Marcellina-Arie im 4. Akt (Szene IV) ist evident, die zu ziehenden Schlussfolgerungen des irgendwie verzweifelt angestellten Vergleichs zwischen Tieren (die es, angeblich, besser machen) und Menschen bezüglich gegenseitiger Treue im Konzept fest intendiert. 

Und wie ist ein mit  reichlich brennenden Stehlampen bestücktes Finale (Garten!) zu verstehen, das zwischen gesungenem Text – alle sind wir zufrieden! - und realem Bühnengeschehen eigentlich nur Diskrepanzen aufweist? Die Antwort verwundert nicht: Nach allem bisher Vorgefallenen kann das mit der allgemeinen Zufriedenheit nicht stimmen. Nichts ist sicher, alles, oder zumindest vieles bleibt offen; was das Vergnügen an Turbulenzen, die das Leben so schreibt, nicht mindern muss. 

Denn da ist ja noch Mozarts Musik! Über sie muss man nicht reden, über ihre Präsentation schon! Und da blieben an diesem Premierenabend keine Wünsche offen. Rhetorisch prägnant und mit viel dramatischem Furor präsentiert, gerieten die so wichtigen, am Cembalo von David Wishart (2. Kapellmeister und Studienleiter) geradezu entfesselt gestalteten Rezitativkomplexe zu beeindruckenden Szenen. Nicht minder von hinreißender Faszination auch die Ensembles und die  sanglich-klanglich verführerischen „Ohrwurm“-Soli. Jede Rolle war makellos besetzt. Es agierte ein Ensemble, das in seiner Gesamtheit für einen solchen Mozart geradezu gemacht schien. Und das darf dann schon mal hervorgehoben werden! Ein (mit Pause) rund dreistündiges Hörvergnügen, das nicht nur schlechthin als „schön“ präsentiert wurde, sondern dass bis zum letzten Ton mit echter Leidenschaft, fesselnder Spielfreude und praller Lebendigkeit gewaltig punkten konnte. Dies allerdings kaum als Vertreter traditioneller Komödientypen, sondern als echte Menschen mit jeweils ausgeprägt individuellen Gefühlen und Charakteren. Dass diese in ihren stückprägenden Besonderheiten, ihrer ganzen Tiefe und kontrastierenden Vielfalt lebendig wurden, verdankte man einem Vokalensemble, das mit Maciej Kozłowski (Graf Almaviva), Antje Bornemeier (Gräfin Almaviva), Franziska Ringe (Susanne; mit Melissa Domingues ebenfalls bestens zweitbesetzt), Alexandru Constantinescu (Figaro), Pihla Terttunen (Cherubino) und Elisabeth Starzinger (Marcellina) in den großen Rollen, aber auch mit Jovan Koščica (Bartolo), Semjon Bulinsky (Basilio), Bassem Alkhouri (Don Curzio), Soobhin Kim (Barberina) und Thomas Rettensteiner (Antonio) für spontane Begeisterung sorgte.

Dies auf der Basis wieder bestens vorbereiteter Chöre (Jörg Pitschmann, Opernchor, Extrachor und Kinderchor des Theaters), vor allem aber dank eines Orchester, das unter Alexander Mayer, 1. Kapellmeister und Stellvertreter des GMD, einen großen Tag hatte! Schon die Ouvertüre ließ mit klanglicher Sensibilität, federnder Elastizität und stets pulsierendem musikantischem Furor aufhorchen, Qualitätsmerkmale, die sich in der Folge mit feinster Detailarbeit, bemerkenswert kontrastgeschärfter Differenzierungskunst und – auch hier – hörbarer Spielfreude verbanden. Das Ganze wie aus einem Guss und auch höchste künstlerische Ansprüche erfüllend. Nicht zuletzt den: „fein und witzig, scharf und spitzig“ (Mozart).