Stolpe an der Peene, Gutshaus Haferscheune, Festspiele Mecklenburg-Vorpommern - Kent Nagano, Rafał Blechacz, Philharmonisches Staatsorchester Hamburg

Stolpe an der Peene, Gutshaus Haferscheune, Festspiele Mecklenburg-Vorpommern - Kent Nagano, Rafał Blechacz, Philharmonisches Staatsorchester Hamburg
Kent Nagano, Philharmonisches Staatsorchester Hamburg © Geert Maciejewski

 

Konzertant-Sinfonisches in beeindruckender Qualität

 

Großér Bahnhof in einem kleinen Dorf. Nur wenige Häuser, Reste eines ehemaligen Klosters, ein rustikaler, historischer „Fährkrug“  und ein Landgut (Hotel) – das ist Stolpe an der Peene, gelegen an der Bundesstraße 110 zwischen Jarmen und Anklam in Mecklenburg Vorpommern.

Aber dann ist da noch die riesige Haferscheune, die – neben einem gern zu Weihnachtskonzerten genutzten stilvollen „Pferdestall“ ¬ seit 2008 als gesuchter Veranstaltungsort der Festspiele MV zum jährlichen Mekka der Konzertfreunde aus Fern und Nah mutiert. Wie auch nicht, wenn sich hier in traumhafter landschaftlicher Idylle am „Amazonas des Nordens“ (!) Weltklasse-Orchester die Ehre geben. Erst kürzlich etwa das Philharmonische Staatsorchester Hamburg, der Pianist Rafał Blechacz und der Dirigent Kent Nagano. Letzterer gleich nach seinem offiziellen Abschied von diesem Orchester und Amt in Hamburg und nun - auf dem Wege nach China - mal eben in Stolpe. Wohin auch sonst, liegt ja am Wege!

Stolpe an der Peene! Der Himmel blau, die Wolken unschuldig weiß, die Temperaturen relativ angenehm und die „Hütte“ ausverkauft. Ideale Voraussetzungen für ein Programm, das zwar recht traditionell ausfiel, mit solchen künstlerischen Sachwaltern aber höchsten Kunstgenuss versprach. Die Garanten: Beethovens 3. Klavierkonzert c-Moll op. 37 und die 4. Sinfonie e-Moll op. 98 von Brahms. Mithin für den, der Akustisches gern mit dem Vergnügen an historischen Einordnungen verbindet, zunächst ein Werk gewissen gattungsspezifischen Fortschritts (Beethoven) und danach eines, das als Konzentrat und Höhepunkt eines sehr individuellen sinfonischen Weges Erfüllung wie Abschied gleichermaßen bedeutet.

Kent Nagano, Philharmonisches Staatsorchester Hamburg © Geert Maciejewski

Beethoven und das Klavier – ein Thema von außerordentlichem Gewicht. Paul Bekker schrieb in seinem Beethoven von 1911: „Die Klaviermusik ist der Mutterboden der Kunst Beethovens. Hier ruhen die Wurzeln seines Schaffens.“ Was mit zahllosen Beispielen zu belegen ist. Natürlich auch mit dem 3. Kavierkonzert, das nach den ersten beiden Werken der Gattung dem Kenner nicht nur wegen der ungewöhnlichen Tonartenanlage (c-Moll, E-Dur, c-Moll) Aufmerksamkeit abfordert.

Auch die Bezüge zu Mozart und seinen Moll-Klavierkonzerten – von Beethoven sehr geschätzt, gespielt und teilweise (d-Moll-Konzert) mit eigenen Kadenzen versehen! - gehören dazu. Und die Schlussfolgerungen, dass Beethoven natürlich dennoch seine eigene Sprache artikuliert und damit auch dieses Werk vom nunmehr einzuschlagenden „neuen Weg“ profitiert.

Nicht zuletzt mit solchem Wissen war den Intentionen von Nagano und Blechacz Entscheidendes abzugewinnen. Etwa der Gesamteindruck eines nahezu durchweg kammermusikalisch angelegten Musizierens, einer durchsichtigen, immer tonintensiven Struktur, filigranen Klangs und ¬ häufig – nobel wirkender Zurückhaltung.

Was nicht bedeutete, ohne den auch handfesten „beethovenschen Zugriff“, die munter perlende, spielerische, virtuose, aber auch energisch aktivierende Spielweise und Gestik auskommen zu müssen. Von der Sphäre der Versonnenenheit, geradezu träumerisch pastoraler Ruhe im Mittelteil ganz zu schweigen. Insofern lebte das gesamte Konzert von sehr fein abgestimmten dynamischen Nuancen und klanglichen Kontrasten. Und von permanenter pulsierender Beweglichkeit sowie einer stückbestimmenden Stringenz, die viele große Bögen kannte und nicht zuletzt deshalb das Hinhören, besser: das Hineinhören zum stets spannenden Vergnügen werden ließ.

Und auch das war nicht zuletzt der Tatsache einer Interpretation geschuldet, die das akribische Ausspielen feinster, gern mal überhörter Details mit dem Zug zum Großen Ganzen zu verbinden wusste. 

Beim Publikum kam ein hier die gattungsgeschichtlich neue Ausgewogenheit zwischen dem Solisten und dem Orchester betonender Umgang mit dem Werk sehr gut an.

Rafał Blechacz © Geert Maciejewski

Rafał Blechacz, Jahrgang 1985 und mit einer Arbeit über Aspekte von Metaphysik und Ästhetik in der Musik promoviert, zählt spätestens seit dem Gewinn des Chopin-Klavierwettbewerbs in Warschau (2005) zur internationalen, mit vielen Preisen ausgezeichneten Spitze seiner Generation. Was in Stolpe mühelos und sehr überzeugend nachzuvollziehen war. Sein Spiel besticht durch federnde Mühelosigkeit und filigrane Klarheit. Er verfügt über einen Anschlag, der einem Allegro jene (stets auch prägnante) legato-Sanglichkeit zu verleihen vermag, die Beethoven für das Klavierspiel favorisierte. Und ein inspiriert agierender, wenn man so will: höchst „mitteilsamer“ Musikant ist er sowieso! Unnötig hinzuzufügen, dass er da mit Kent Nagano und dem fabelhaft mitgehenden Staatsorchester Hamburg auf Augenhöhe lag.

„...nun habe ich eine Idee davon und ¬ eine sehr günstige.“ So Eduard Hanslick, nachdem ihm Brahms seine 4. Sinfonie am Klavier vorgespielt hatte. Für den Freund (und Chirurgen) Theodor Billroth war es ebenfalls ein erstes, eigenes Klaviervorspiel (zu vier Händen), das ihn brieflich Brahms gegenüber zu detaillierten Überlegungen diese Sinfonie betreffend anregte. Tenor: schwierig, man muss sich hineinhören, am besten aber selber musizieren, dann stellt sich auch das Verständnis für ein großartiges Werk ein! Dies nur zwei Beispiele für den seinerzeit als besonders empfundenen Charakter eines Werkes, das später einem Arnold Schönberg gar als „fortschrittlich“ im Sinne zeitgenössischer Kompositionstechnik (Dodekaphonie) galt! Spannend dieses  Brahmssche Fazit eigener sinfonischer Entwicklung, aber diesbezüglich hier nicht weiter zu verfolgen.

Gleichwohl ist für die Rezeption nicht unwichtig, das Prinzip der „entwickelnden Variation“ (Schönberg) zu erkennen und als gestaltbildend zu „erhören“. Bis hin zu der daraus folgenden These, dass die altertümliche Form der Passacaglia im Finale (30 Variationen wie bei Bachs Goldbergvariationen) genutzt wird, um neue Lösungen zu finden.

Kent Nagano © Geert Maciejewski

Naganos Angebot: gut 40 Minuten enorm tonintensiver Spannung, eines zwischen geradezu schmerzhafter innerer Ruhe und lärmender Turbulenz, ausladend elegischer Lyrik und konstruktiver Dichte chargierenden Musizierens von fesselnder Expressivität, einem „Zugriff“, der größte gefühlshafte Dringlichkeit mit fast schon voyeristischer Mitteilungsdichte unlösbar verband. Eine hochkonzentrierte „Rede“ voller prägnanter erzählerischer Gestik, dynamisch ungemein sensibel wie differenziert angelegt und bis in das feinste Detail hinein klanglich ausgekostet. Da wollte man keine „Silbe“, kein „Wort“ verpassen und teilhaben an  faszinierend „beredter“ motivischer Konstruktivität, einer balladesken, pulsierenden Kontrasthaftigkeit ohne jeden äußerlichen klanglichen Pomp, aber mit praller, gebändigter Energie. Damit war größte Wachheit provoziert sowie garantiert, und damit größtmöglicher Lohn für eine in jeder Note deutlichen interpretatorischen Kompetenz durch Kent Nagano und das auch hier wieder fabelhaft musizierende Philharmonische Staatsorchester Hamburg. Wahrlich, eine begeisternde Präsenz, eine Sternstunde künstlerisch hochkarätiger Gestaltungsfähigkeit. Im Saal hielt es niemanden mehr auf seinem Sitz. Der Dank „von vorn“: d e r   Brahmssche Ohrwurm schlechthin (Ungarischer Tanz Nr. Nr. 5 g-moll) und – Überraschung! ¬ der 4. Satz aus György Ligetis Rumänischem Konzert von 1951; der raffiniert instrumentierte, überbordend musikantische, ja elektrisierende „Rauschmeißer“ am Ende eines tollen Konzertabends.               

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