Rügen, Festspiele Mecklenburg-Vorpommern, IOCO

Rügen, Festspiele Mecklenburg-Vorpommern, IOCO
Drigge, Fibonacci Quartet copyright Festspiele Mecklenburg-Vorpommern

Gestandene Meister und junge Streichquartett-Eliten

Grandiose „Inselmusik“ auf Rügen

 

Das Finale unmittelbar vor Augen, haben die Festspiele MV auch in diesem Jahr noch einmal kräftig zugelangt: mit drei Tagen der schon traditionellen „Inselmusik“ auf Rügen (10. - 12. September). Wollte heißen: neun Konzerte an neun Spielorten und Protagonisten, die einmal mehr für das stets so attraktive Zusammenwirken von gestandenen und jungen Künstlern stehen. Was nichts weniger denn einen Gegensatz bedeutete. Natürlich, man kennt ihn schon lange, einen Jacques Ammon als „gestandenen“, will heißen: international geschätzten Pianisten, und wem das Artemis-Quartett als weltweit höchste Standards verkörperndes Kammermusikensemble vertraut ist, der kennt auch das dreißig Jahre lang mitmusizierende Gründungsmitglied des Ensembles, den Cellisten Eckart Runge – und damit ein nun auch schon wieder rund ein Vierteljahrhundert gemeinsam arbeitendes Duo Ammon/Runge. Beide nun also auf Rügen. Und mit Ihnen, gewissermaßen künstlerisch auch „betreut“, das Kleio-Quartett und das Fibonacci-Quartet aus London.  Beide Ensembles – wen wundert`s – so jung wie bereits hochkarätig, wettbewerbserfahren und vielfach erstklassig preisgekrönt. Dass sie hier im peripheren Nordosten kaum bekannt sind, ist nun als Erfahrungs- und Kenntnislücke geschlossen; der diesbezüglich „in Haftung“ genommenen Muse der Geschichtsschreibung Kleio (Clio) sei`s gedankt (aber wenn ja, wie?)

Und das ist gut so! Denn ihr „Fußabdruck“ war ja auch entsprechend nachdrücklich. Im  Programm etwa Quartette von Haydn, Janáček, Beethoven, Ravel, Smetana, Grime, Britten  und Schulhoff, Dvořáks A-Dur-Klavierquartett, Schuberts C-Dur-Streichquintett und manches andere; etwa Arrangements von Filmmusiken, ein Besuch der Rügener Inselbrauerei  mit Musik, Führung und Verkostung sowie, im  Finale am Freitag, die Kombination von Musik und Pantomime.

Drigge_Jacques Ammon und Eckart Runge copyright Festspiele Mecklenburg-Vorpommern

Hier nun lediglich ein Blick auf den Eröffnungstag, der allerdings vielverprechend genug war.

Ein freundlicher, etwas kühler Vormittag und der Riesenraum einer Bootshalle in der Naturoase Gustow (Drigge) – dies der Start mit gleich allen an den drei Tagen vielbeschäftigten Protagonisten. Eine Visitenkarte, die es in sich hatte. Sanft der Einstieg mit Mendelssohn (Lied ohne Worte op. 109), schockierend rasant der Kontrast mit einer Paraphrase über einen sehr bekannten Song von einem gewissen Mackie Messer (Die Dreigroschenoper) und einem weniger bekannten (ursprünglichen) Tango (Youkali) aus dem Theaterstück Marie Galante - beide von Kurt Weill und ausnehmend raffiniert für Violoncello und Klavier arrangiert von Wolf Kerschek und dem Duo Runge & Ammon. Die beiden hatten denn auch keine Mühe, das hiermit vorliegende Reservoir an romantischem, melodisch-musikantisch verführerisch Schönem (Mendelssohn) und einer die musiksprachlich höchst unorthodox, frei, fantasievoll, auch mal rabiat, ungemein kontrastreich und inspiriert bearbeitete „Moderne“ souverän und begeisternd vorzutragen. Ein ungetrübtes Vergnügen, den wahrlich kompetenten Arrangeuren auf ihren verschlungenen Wegen musikalischen Fabulierens zu folgen; von dem der mitreißenden Präsentation ganz zu schweigen.

Drigge, Kleio Quartet copyright Festspiele Mecklenburg-Vorpommern

Und eine solche prägte auch den gesamten weiteren Verlauf des Konzertes auf sehr beeindruckende Weise. Zunächst mit Haydn und seinem Streichquartett D-Dur op. 50 Nr. 6 (aus den sogenannten Preußischen Quartetten) mit dem sich das aus vier jungen Damen bestehende Kleio-Quartet vorstellte. Was für eine Präsentation: ein Haydn von hinreißender Dynamik, locker, elastisch und sensibel, voll (ge)wichtig genommener Leichtigkeit und Bedeutung! Transparent das Klangbild – mit wenig Vibrato – schlüssig die Artikulation und perfekt ein Zusammenwirken, das so gefühlvoll wie leidenschaftlich bestens geeignet war, jegliche Unverbindlichkeit eines „Papa“ Haydn ad absurdum zu führen. Diese Selbstverständlichkeit des spieltechnisch wie gestalterisch höchst Anspruchsvollen war sehr überzeugend und entsprach ganz der bisherigen „Biographie“ des Ensembles.

Gleiches galt für das Fibonacci-Quartet. Auch das sind vier junge Musiker – drei Herren, eine Dame – mit allen Aspekten bereits ausgeprägten Gestaltungswillens und -vermögens! Ihnen gelang eine überaus beeindruckende Aufführung des Streichquartetts Nr. 2 „Intime Briefe“ von Leoš Janáček. Das von einer späten heftigen Liebesbeziehung des Komponisten zu einer wesentlich jüngeren Frau geprägte Werk erfuhr hier eine Darbietung, die hinsichtlich ihrer dramatischen Direktheit, ihrer geschärften Deklamatorik und geradezu schmerzhaften Expressivität alle Grenzen des Kammermusikalischen auszuloten schien. Sehr deutlich wurde, wovon da die Rede war – der Komponist hatte sich brieflich so detailliert wie eindeutig geäußert. Und man ließ keine Möglichkeit aus, überbordende Gefühle mit geradezu bestürzender, permanent und meist krass die Gefühlslagen wechselnder Klanglichkeit Gestalt werden zu lassen; eine Aufführung von geradezu unheimlicher Spannung und faszinierender Stringenz. Eine starke, aufwühlende Präsentation, zu der die akustisch übrigens sehr günstige Bootshalle nicht wenig beitrug. (Rätseln durfte man ein wenig über den Namen des Ensembles. Leonardo Fibonacci war ein um 1200 in Pisa lebender Mathematiker, dessen „Fibonacci-Folge“, eine Zahlenreihe für bestimmte Größenverhältnisse, Berühmtheit erlangte. Man kann lesen, dass eine Visualisierung  der Zahlenreihe die Form einer Schnecke besitzt; Streichinstrumente besitzen eine solche als oberste „Spitze“. Man spricht aber auch vom Synonym für organisches Wachstum und harmonische Proportionen. Nun ja!)

Soweit ein musikalisch fulminanter Tagesbeginn. Danach war eine emotionale Pause durchaus angemessen. Zu finden war sie in Groß Schoritz, im Geburtshaus Ernst Moritz Arndts. Dort gab es ein „Open Masterclass“, eine Demonstration zum Thema: wie erarbeite ich mir ein Streichquartett, hier am Beispiel von Beethovens Quartett cis-Moll op. 131. Das Ganze mit dem Fibonacci-Quartet und Eckart Runge, der glaubwürdig (und englischsprachig) zu vermitteln wusste, wie man aus papiertrockenen Noten lebendige Musik macht. Da waren selbst oft wiederholte Auszüge hörenswert und die nachmittägliche Stunde insgesamt so unterhaltsam wie erholsam.

Fulminant aber wieder der Zielpunkt des Tages mit dem Kleio-Quartet in der Kapelle des Gutshauses Boldevitz. Man kann eben nicht nur Haydn. Man glänzt etwa mit Benjamin Britten und seinen Drei Divertimenti für Streichquartett – die mit Haydnscher Lockerheit und Spritzigkeit sowie seiner unerhörten Musizierfreudigkeit, aber in ganz anderem stilistischen Gewand aufhorchen ließen. Kraftvoll, spritzig, brillant, heftig, auch burlesk bis orgiastisch beeindruckten die vier Damen mit bereits bekannter Leidenschaftlichkeit und verhalfen den souverän einfallsreich komponierten, durchaus modern unkonventionellen Genre-Stücken (March, Waltz, Burlesque) zu lebhaft bekundetem Erfolg.

Groß Schoritz, Fibonacci Quartet mit Eckart Runge copyright Festspiele Mecklenburg-Vorpommern

Der steigerte sich beträchtlich nach einer gemeinsam mit Eckart Runge (2. Violoncello) präsentierten Aufführung des Streichquintetts C-Dur op. posth. 163, D 956 von Franz Schubert. Das Werk hat Kultstatus und gilt schon mal als „eines der ernstesten und bedeutendsten Werke in der Geschichte der Kammermusik...“ (I. Allihns Kammermusikführer, 2000), worauf an dieser Stelle lediglich verwiesen werden kann. Auch hier bewiesen die Ausführenden, dass ihnen die Ambivalenz eines schon von der Besetzung her (zwei Celli) Ausnahme-Werkes mit vielen (doppelten) Böden buchstäblich Herzensangelegenheit war. 58 Minuten lang – besagter Kammermusikführer veranschlagte ca. 47 Minuten -  vermochten sie es, das Stück jenseits nur schönen Klanges zu verorten, ihm zwischen kontrastreicher Düsternis, elegischem, traumhaften Weltschmerz, derber Tanzhaftigkeit und keineswegs entspannter, froh oder befreiend machender „Kehraus“-Mentalität (vielfach in Moll) und ungewöhnlicher Spannungen die Dimensionen bedeutender musikalischer Aussage zu verleihen. Expressivität pur! Und eine Gestaltungsintensität,

die schon mal den Atem stocken ließ. Und die wohl, als der „mitunter etwas seltsame Gang  Ihrer Geistesschöpfungen“ (Verleger Probst an Schubert),  auch der Grund dafür war, dass sich für das Werk erst einmal niemand interessierte. Armer Schubert! Da ticken wir doch heute sehr anders! In Boldevitz war man direkt aus dem Häuschen!

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