Rouen, Opéra de Rouen Haute-Normandie, Ein deutsches Requiem - J. Brahms, IOCO

Rouen, Opéra de Rouen Haute-Normandie, Ein deutsches Requiem - J. Brahms, IOCO
Théâtre des Champs-Elysées Paris © Wiki commons.j

04.11.2025

  

EINE TOTENFEIER FÜR DIE LEBENDEN…

 

Herr, lehre doch mich, dass ein Ende mit mir haben muss,
und mein Leben ein Ziel hat, und ich davon muss.

Siehe, meine Tage sind einer Hand breit vor dir, und mein Leben ist wie nichts vor dir.

Ach, wie gar nichts sind alle Menschen, die doch so sicher leben.
Sie gehen daher wie ein Schemen, und machen ihnen viel vergebliche Unruhe; sie sammeln und wissen nicht, wer es kriegen wird.

Nun Herr, wes soll ich mich trösten?

Ich hoffe auf dich.

(Psalm 38 (39) 5-8)

 

In der szenischen Interpretation des französischen Regisseur David Bobées verkörpert der Chor aus Brahms‘ Ein Deutsches Requiem, Op. 45 (1867) die Menschheit auf der Suche des Lichts nach der großen Tragödie. Die kraftvolle und zugleich tröstliche Musik lädt zum Nachdenken und zur Stärkung der Widerstandskraft ein. Sakral, ohne religiös zu sein, monumental, ohne zu erdrücken, ist dieses Requiem ein Lied der Versöhnung, eine Ode an das Leben geschrieben von einem Mann, der seinen eigenen Schmerz überwinden und den Lebenden Trost spenden wollte.

 

Auch heute noch berührt es uns tief im Inneren, wie ein Weg zur inneren Ruhe. In dieser szenischen Lesung wird die Emotion greifbar, der Chor zu einem Volk in Bewegung und der Bühnenraum verstärkt die intime Wirkung des Werkes. Ein zutiefst bewegendes musikalisches und visuelles Erlebnis, in dem die Erhabenheit von Johannes Brahms sich (1833-1897) auf der Suche nach Frieden in unserer Zeit befindet.

Ensemble © Caroline Doutre

 

Johannes Brahms und die Philosophie der Souveränität…

Flüchtig betrachtet, ist Ein Deutsches Requiem durchaus ein Kind seiner Zeit, so etwas  wie der brave Parteigänger einer Epoche zunehmender Säkularisierung geistlicher Inhalte. Und doch geht Brahms  im Schlüsselwerk seines künstlerischen Durchbruchs einen ganz und gar eigenen Weg. Wo die Totenmessen eines Hector Berlioz (1803-1869) oder Giuseppe Verdi (1813-1901) in drastischen Klanggewittern das göttliche Weltgericht auf die imaginäre Bühne stellen, mit Demut und Pathos Erlösung im ewigen Leben verkünden, entscheidet sich der allzu oft als kühl gescholtene Hanseat für einen Standpunkt außerhalb des gängigen Rituals. Wo jene dem überpersönlichen Text des lateinischen Propriums folgen, ihn nach Maßgabe opernhafter Dramaturgie emotional überhöhen, sucht dieser nach völlig neuen Anknüpfungspunkten für seine künstlerische Auseinandersetzung mit dem Themenkreis um Leben und Tod. Im Ein Deutsches Requiem formuliert Brahms, der protestantisch getaufte, aufgeklärte Freigeist aus dem Hamburger Bürgertum, sein ureigenes Credo, belegt mit Bibelpassagen unterschiedlichster Provenienz, und entwirft so ein geistliches Konzertstück abseits aller liturgischen Bindungen. In ihm spiegelt sich eine überkonfessionelle Glaubenshaltung, die überzeugt und zugleich doch immer wieder Anlass für Missverständnisse bot. „Ein so großer Mann, eine so große Seele, doch glaubt er an nichts!“, soll der Kollege und Freund Antonin Dvořák (1841-1904) kopfschüttelnd geäußert haben – und irrte doch gründlich. Denn die Skepsis allein, mit Brahms blinder Frömmigkeit wie  der geistigen Enge strikter Glaubensdoktrinen zeitlebens begegnete, machte ihn noch lange nicht zum Atheisten.

Ensemble © Caroline Doutre

 

Die weit versprengten Auszüge aus dem Altem wie dem Neuem Testament und den Apokryphen, die Brahms in seinem ungewöhnlichen oratorischen Entwurf zusammenbindet, ordnen sich einer klar umrissenen Dramaturgie unter. Einer Dramaturgie, bei der jeder einzelne der sieben Sätze dieselbe Wandlung durchläuft: Von der Thematisierung irdischer Vergänglichkeit, von Trauer und bis Leid hin zu einer universellen, gleichwohl im Diesseits verankerten Hoffnung auf Erlösung und Frieden. Damit versteht sich Ein Deutsches Requiem ausdrücklich als ein Werk des Trostes für die Lebenden, nicht aber als Abgesang auf die Toten. Was fehlt, ist das Bild vom jüngsten Gericht! Bei Brahms blasen die Posaunen eben nicht zum göttlichen Strafvollzug, sondern künden von der Überwindung der Furcht mittels der unsterblichen Kraft des menschlichen Geistes. „Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg?“ heißt es mit Worten aus den Korintherbriefen des Paulus auf dem Höhepunkt des sechsten Satzes.  Dort, wo „der Tod in den Sieg verschlungen“ ist, wird der Mensch selbst zum Bezwinger seiner Endlichkeit. Kerngedanke einer weltlichen Religionsphilosophie der menschlichen Souveränität und Eigenverantwortlichkeit, wie sie in den Ernsten Gesängen (1896) ein Jahr vor Brahms‘ Tod, ihre endgültige Bestätigung  finden wird.

Ensemble © Caroline Doutre

 

Begonnen hatte der einunddreißigjährige Wahlwiener seine Arbeit an der Partitur im Frühjahr 1865, höchstwahrscheinlich unter dem Eindruck des unerwarteten Verlustes seiner innig geliebten Mutter, die am ersten Februar einem Schlaganfall erlegen war. Ende April ist der vierte Satz fertiggestellt, die ersten beiden bereits grob skizziert. Abgeschlossen wird das Werk im Sommer 1866 in Lichtenthal bei Baden-Baden – jedenfalls vorläufig, denn zwei Jahre später, im April 1868 wird Brahms einen weiteren, nun als fünften bewegenden Satz eingefügten Abschnitt, „Ihr habt nun Traurigkeit“, mit Sopransolo hinzukomponieren, dessen tief berührende Innerlichkeit, wie er selbst gestand, dem Andenken seiner Mutter gewidmet ist. Seit bekannt wurde, dass die Idee zur Komposition indes  bis weit in die fünfziger Jahre zurückreicht, ist vielfach auch nach Verbindungen zum Schaffen des väterlichen Freundes und Mentors Robert Schumann (1810-1856) gefahndet worden. Auch der hatte nachweislich Pläne zu einem deutschsprachigen Requiem verfolgt, die allerdings bis zu seinem frühen Tod im Juli 1856 nicht mehr zur Ausführung gelangten. Ob Brahms hiervon wusste, den Werktitel Ein Deutsches Requiem womöglich sogar Schumanns „Projektenbuch“ entnommen hat, wie ein Zeitgenosse und bestens informierte Biograf Max Kalbeck (1850-1921) vermutet? Wir wissen es nicht!

 

Charakteristisch für Brahms‘ besondere Wertschätzung der Tradition: Vorbereitet und begleitet wurde die kompositorische Arbeit an der Partitur von intensiven Studien älterer Chorliteratur aus der Renaissance und dem Barock – Giovanni Pierluigi da Palestrina (1525-1594) vor allem, Heinrich Schütz (1585-1672), Johann Sebastian Bach (1685-1750), Georg Friedrich Händel (1685-1759) -, was bis hin zu konkreten Anlehnungen unübersehbare Spuren in dem Werk hinterlassen und zu einer einzigartigen Synthese aus alten und neuen Stilelementen geführt hat. In ihr bilden die Ordnungsprinzipe polyphoner Satztechniken, emotionales Feingefühl und sinfonische Schlagkraft keinerlei Widerspruch mehr. Zu den hervorstechendsten Merkmalen des kompositorischen Formplans zählen Symmetrie und zyklische Konzeption. Echte Symmetrie erreichte Brahms letztendlich erst durch die nachträgliche Erweiterung zur siebenteiligen Werkgestalt. Durch sie wird der kurze vierte Satz, „Wie lieblich sind deine Wohnungen“, der das immerwährende Streben nach Seelenfrieden zum Inhalt hat, zur Spiegelachse der Gesamtarchitektur, während  die Sätze drei und fünf – Klage versus Trost – sowie zwei und sechs - Vergänglichkeit versus Ewigkeit – ihrerseits thematische Klammern setzen. Eröffnungs- und Schlussteil schließlich sind in doppelter Hinsicht eng miteinander verknüpft: Zum einen durch die textlichen Kohärenzen der Seligpreisung, darüber  hinaus  vor allem durch offenkundige musikalische Analogien, die dem Werk zu einer mustergültigen zyklischen Geschlossenheit verhelfen. Wollte Brahms mit ihr vielleicht zum Ausdruck bringen, dass jedem Ende immer zugleich auch ein neuer Anfang innewohnt? Gewiss nur eine von vielen möglichen Deutungen!

Ensemble © Caroline Doutre

 

In der öffentlichen Wahrnehmung  hatte  Ein Deutsches Requiem seinerzeit ein so gewaltiges Echo wie noch keine andere Komposition von Brahms zuvor – anfangs noch eher uneinheitlich, teils kritisch, teils enthusiastisch. So reichte die Palette vom Vorwurf übergroßer Nachdenklichkeit, indifferenter Glaubenshaltung und akademischer Strenge bis hin zur emphatischen Ausrufung eines zukunftweisenden Neubeginns protestantischer Kirchenmusik, die Brahms über Nacht zur prophetischen Figur erhob. Die oft als Desaster  beschriebene unvollständige Erstaufführung mit den Sätzen eins bis drei fand am Nachmittag des 1. Dezember 1867 im Großen Redoutensaal zu Wien unter Leitung von Johann von Herbeck (1831-1877) statt und ließ einstweilen noch wenig von den Triumphen der späteren Wirkungsgeschichte erahnen. Ihr folgten die vom Komponisten selbst geleitete Uraufführung der sechssätzigen Version vor rund 2000 Zuhörern im Bremer Dom am Karfreitag  1868 und diejenige der erweiterten Fassung am 18. Februar des Folgejahres im Gewandhaus Leipzig, dirigiert von Kapellmeister Carl Reinecke (1824-1910). Mehr als zwanzig weitere Aufführungen an zahlreichen Orten schlossen sich noch im selben Jahr an!

Ensemble © Caroline Doutre

 

„Es ist ein ganz gewaltiges Stück, ergreift den ganzen Menschen in einer Weise wie wenig Anderes“, hatte Clara Schumann (1819-1896) an Brahms, ihren geschätzten Freund, nach der Bremer Aufführung geschrieben. „Der tiefe Ernst, vereint mit allem Zauber der Poesie, wirkt wunderbar, erschütternd und besänftigend“. Gewichtiger noch als diese eher private Notiz einer eng Vertrauten mag freilich jene Einschätzung erscheinen, mit der Eduard Hanslick (1825-1904), der tonangebende Musikkritiker seiner Zeit, über das Werk uns seinen musikgeschichtlichen Rang urteilte: „In Brahms‘ Requiem sehen wir mit den reinsten Kunstmitteln das höchste Ziel erreicht“, schreibt er im Jahr 1875 nach mittlerweile fast einhundert Aufführungen  des Werkes in ganz Europa. „Wärme und Tiefe des Gemüts bei vollendeter technischer Meisterschaft, nichts sinnlich blendend und doch alles tief ergreifend. Keine neuen Orchester-Effekte, aber neue große Gedanken und bei allem Reichtum, aller Originalität die edelste Natürlichkeit  und Einfachheit“. Und weiter, jetzt mit scharfer dialektischer Spitze: „Bei  Richard Wagner (1813-1883) ist jeder Satz in Manier getaucht, bei Brahms kein einziger. Wagner fängt auf den Trümmern aller früheren Musik die seinige ganz neu an. Brahms glaubt an anständige Vorfahren wie Bach und Ludwig van Beethoven  (1770-1827) sich nicht schämen  zu müssen. Während die Musik bei Wagner die Innerlichkeit ihrer Herrschaft aufgegeben hat, um Malerei zu werden, bleibt sie bei Brahms die eigenste Sprache eines starken Gemüts und zeigt uns, wie eine Tondichtung alle Herzen erschüttern kann, ohne die Grundfesten der Musik zu erschüttern. Man darf es heute ruhig aussprechen, das seit Bachs Messe in h-Moll, BWV 232 (posthum 1833) und Beethovens Missa solemnis in D-Dur, Op. 123 (1824) nichts geschrieben worden, was auf diesem Gebiete sich neben Brahms‘ Ein Deutsches Requiem zu stellen vermag“. Wie bei Hanslick nicht anders zu erwarten, durfte Brahms hier also einmal mehr als strahlender Sieger aus dem Duell mit seinem Kontrahenten Wagner hervorgehen.

Ensemble © Caroline Doutre

 

Zur szenischen Aufführung Ein Deutsches Requiem im Théâtre des Arts / Rouen am 04. November 2025

 

Liturgie für einen einsamen Menschen…

Eine spektakuläre Inszenierung eines Werkes von metaphysischer Schönheit: EIN DEUTSCHES REQUIEM, inszeniert von dem äußerst talentierten französischen Regisseur DAVID BOBÉE und dirigiert von der französischen Dirigentin LAURENCE EQUILBEY, ist  einwandfrei eine kostbare Rarität.

 

Ein Deutsches Requiem, so nannte Brahms diese Partitur für Chor und Orchester, deren Texte dem Alten und Neuen Testament entnommen sind, jedoch ohne liturgischen Bezug. In sieben Sätzen, die in deutscher Sprache gesungen werden, erkundet das Werk Leben und Tod, Leid und Trauer und lässt gleichzeitig Trost und Hoffnung aufscheinen. Mit einem bedrückenden düsteren Ton, der gelegentlich von Wutausbrüchen durchbrochen wird, transzendiert die Musik die Emotionen und verleiht diesen Fragen eine philosophische und universelle Dimension. Diese tiefe Spiritualität besitzt eine theatralische Qualität, die sich unbedingt für die Bühne eignet.

 

Bobée entwirft eine apokalyptische Vision: Die eines Flugzeugabsturzes! Vor den Trümmern eines in zwei Teile gerissenen Flugzeugs hinterfragen die Überlebenden den Sinn von Leben und Tod. Noch bevor die Musik einsetzt und die Bühne erstrahlt, hallt der dunkle Zuschauerraum von tiefen, beunruhigen Grollen wider, die den Absturz des Flugzeugs evozieren. Die Überlebenden erscheinen – der Chor verkörpert laut Bobée „die kollektive Menschlichkeit“ – und versuchen anderthalb Stunden lang, ihr Leben durch Biwakieren, den Bau provisorischer Unterkünfte und gegenseitige Ermutigung zu verlängert. Schließlich zerlegen sie das Wrack des Flugzeugs, „eine Metapher für menschliche Schwächen und eine Welt, die ihrem Untergang entgegenrast“, als wollten sie ihre Spuren verwischen… Oder vielleicht, um diesem irrsinnigen Wettlauf zu entsagen?

 

Die schlichten Kostüme, entworfen von den beiden französischen Kostümbildnern Samuel Bobée und Léa Jézéquel, die gegen Ende von gebrochenem Weiß und hellen Ockertönen dominiert werden, verbannen jeden überflüssigen Prunk. Die projizierten Videos von dem polnischen Videodesigner Wojtek Dororszuk – verwüstete Städte, zerstörte Gebäude, Visionen der Trostlosigkeit und die Nahaufnahmen des berühmten Triptychon Das Jüngste Gericht (1482) von Hieronymus Bosch (etwa 1450-1516), die die Hölle darstellen – unterstreichen diese Atmosphäre der Kargheit und Qual.

Ensemble © Caroline Doutre

 

Les Choeurs  accentus  & der l’Opéra Normandie Rouen zeigen unter der Leitung  von Equilbey ihr ganzes Können. Der Reichtum ihres Timbre und die Homogenität ihrer Stimmen sind ihre beiden größten Stärken, die dieser nach Einheit strebenden Musik perfekt gerecht werden. Die Dirigentin arbeitet die Feinheiten von Brahms‘ Komposition heraus, und das Orchestre de l’Opéra Normandie Rouen folgt ihrem Dirigat in jeder Nuance mit Bravour. Der Auftritt der französischen Sopranistin Elsa Benoit in einem weißen Kleid, deren klare Stimme wie aus den Trümmern emporzusteigen scheint, hat die Kraft göttlicher Fügung. Der deutsche Bariton Samuel Hasselhorn seinerseits verleiht dem Werk mit seinem tiefgründigen, resonanten Gesang emotionale Tiefe.

 

Ein weiteres markantes Merkmal ist die delikate Einbindung zusätzlicher Musik, insbesondere von Brahms und Bach, die teilweise als Lieder für Bandoneon neu arrangiert wurden. Die Aufführung beginnt und endet mit diesen Melodien, die sowohl Resignation angesichts des Daseins als auch eine Sehnsucht nach dem Leben zum Ausdruck bringen.

 

Während der gesamten Aufführung übersetzt der französische Schauspieler Jules Turlet den Dialog elegant in Gebärdensprache. Seine Gesten, die in das Bühnenbild integriert sind, machen ihn zu einer eigenständigen Figur. Sie vermitteln einen Akt der Güte in einer brutalen Welt, den Willen zum Zusammenleben trotz allem.

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