Rostock, Hochschule für Musik und Theater Rostock, Orchesterkonzert, IOCO

Mit Energie, Leidenschaft, Verve – und Kompetenz!
Hochschulsinfonieorchester Rostock überzeugt mit Mendelssohn, Ravel - und Emilie Mayer
Was für ein Vergnügen, in den überaus reichhaltigen Veranstaltungsprogrammen der Hochschule für Musik und Theater Rostock (HMT) zu schmökern, und was für eine (schöne) Qual, dann die entsprechende Wahl treffen zu müssen. Aber es gibt Angebote, bei denen man nicht lange überlegt. Etwa jene Termine, an denen das Hochschulsinfonieorchester einlädt. So geschehen am 4. und 5. Juni mit einem Programm, das in gleich mehrfacher Hinsicht besonders neugierig machte. Dies mit Emilie Mayers Marcia funebre für Blasinstrumente, Mendelssohns Notturno in D-Dur op.24 für Blasinstrumente, Maurice Ravels Shéhérazade für Gesang und Orchester sowie – nach der Pause – Emilie Mayers 7. Sinfonie in f-Moll.
Das Programm verband Bekanntes und kaum Bekanntes, und es präsentierte mit Bläsern pur sowie vollem Orchester zwei unterschiedliche Besetzungen; sinnvoll, um auf die Ausbildungsbreite einer Hochschule zu verweisen und attraktiv für ein solcherart selten damit konfrontiertes Publikum.
Und dann wäre da noch die mit gleich zwei Werken vertretene Komponistin Emilie Mayer. Zu Lebzeiten (1812 Friedland i. M. - 1883 Berlin) als selbstbewusste Schülerin von Carl Loewe (Stettin) und Adolf Bernhard Marx (Berlin) erst mit ungläubigem Staunen, dann mit Lob durch die (männliche!) Fachwelt anerkannt, nach ihrem Tod aber gründlich vergessen, wird sie nun, seit gut zwei, drei Jahrzehnten, wiederentdeckt. Und das angesichts der bislang kaum bekannten künstlerischen Qualitäten ihres umfangreichen kompositorischen Werkes mit erheblichem Überraschungspotenzial. Man lese bisher Geschriebenes und höre, was bereits auf Tonträgern vorliegt, darunter fast das sinfonische Gesamtwerk. Im Übrigen verweist die zunehmende Präsenz in Konzertprogrammen auf Akzeptanz eines offensichtlichen Schatzes, den zu heben lohnt.
Zurück nach Rostock. Hier steht der erste Abend zur Debatte und damit eine sehr gelungene Präsentation anspruchsvoller Orchesterarbeit. Ihr Garant am Pult: Prof. Florian Erdl. Er ließ kaum eine Möglichkeit aus, lebloses Papier zu höchst vielgestaltig klingendem Leben zu erwecken. Ein Glücksfall für Emilie Mayers deutlich bewährten Traditionen eines Trauermarsches folgendem Stück. Sinfonisch besetzt (16 Mitwirkende), trug es zwischen sanglicher Lyrik und gravitätisch punktierter Tragik sowie motivisch dichter Verarbeitung alle Kennzeichen des auch harmonisch interessanten und klangattraktiv Würdevollen. Nicht zu erfahren war, von wem das nur in vierhändiger Fassung überlieferte Original (einer verschollenen Orchesterfassung?) in einen Bläsersatz zurückinstrumentiert wurde.
Mit diesmal nur 11 Bläsern kommt Mendelssohn aus. Dafür schraubt er die spieltechnischen Anforderungen deutlich höher. Er ist fünfzehn Jahre alt, als er anlässlich eines Aufenthaltes in Bad Doberan („Dobberan“) für die dortige „Hofmusik“ („Bademusik“??) und für exakt deren Besetzung ein „Nocturno“ in C-Dur schreibt („Dobberaner Blasmusik“). Werkverzeichnisse sprechen von op. 24 und „Ouvertüre“, man liest aber auch: „Militärmusik“ und Werk ohne Opuszahl Wie auch immer, der Ostsee-Bezug ist eindeutig, Mendelssohns briefliche Äußerungen – er nennt die genaue Besetzung der Kapelle – sind es auch. Die damaligen Musikanten müssen ihr Handwerk sehr gut beherrscht haben, denn Mendelssohn mutet ihnen spieltechnisch einiges zu. Aber auch diesbezüglich ließ man im Großen Katharinensaal der HMT natürlich nichts anbrennen und lieferte neun sehr kurzweilige, souverän servierte Minuten höchst abwechslungsreichen, mit melodischem Schmelz ebenso wie mit virtuoser Brillanz geradezu konzertant spielenden, deutlich lustbetonten Musizierens.
Dann Ravel in großer sinfonischer Besetzung und damit Eintritt in eine völlig andere Klangwelt. Im Jahre 1903 auf Texte Tristan Klingsors geschrieben, sind diese drei Gesänge Ravels Tribut an die „tiefe Faszination, die der Orient seit meiner Kindheit auf mich ausübte.“ Und er ordnet sie jenen seiner Kompositionen zu, „in denen der zumindest geistige Einfluß Debussys spürbar genug ist.“ Aber wohl nicht nur der geistige! Was das Publikum zu hören bekam, war des vorbildhaft Erwähnten, aber eben auch des Eigenen voll! Ob Asie, La Flûte enchantée oder L`Indifférent –

Ravel erweist sich als Klangzauberer - und mit ihm das Hochschulorchester. Eine ausgezeichnete Leistung unter Florian Erdl, der hier besonders akribisch auf die Vielfalt subtiler Klangschattierungen und deklamatorische Feinheiten setzte. Dies im Vokalen (Solistin) wie Orchestralen! Atmosphärisch schwebend und dennoch weder konturlos noch ohne Kontraste, stets pulsierend, ja erregend, aber ohne Unruhe, rauschhaft im Zarten wie in der großen Geste, von impressionistischer „Klangstatik“, die allerdings nicht ohne Expressivität und Empathie auskommt – so ließe sich an diesem Abend der Eindruck beschreiben, den schon Ravels Textdichter quasi vorformuliert haben könnte, als er schrieb: „Denn ihm [Ravel] kam es hier gerade darauf an, dem gesprochenen Wort nachzugehen, seine Akzente und Flexionen herauszuarbeiten, sie durch Übertragung ins Melodische zu veredeln; und um sich in seiner Absicht noch zu bestärken, ließ er sich die Verse von mir mit erhobener Stimme vorlesen.“

In Rostock war es Anna-Maria Apostolina Kawatzopoulos, die als Master-Studentin an der HMT dem Werk ihre so voluminöse wie schöne und charaktervoll-ausdrucksstarke Mezzosopran-Stimme lieh. Und das mit hörbarem Gespür für die Spezifik einer doch sehr speziellen französischen Musiksprache. Fazit: Eine insgesamt sehr überzeugende Aufführung, der allerdings das Vorliegen deutscher Textübersetzungen zusätzlich gut getan hätte.
Zielpunkt des Abends und sicher besondere Herausforderung war dann Emilie Mayers 7. Sinfonie. Sie entstand 1856/57, möglicherweise aber auch kurz davor. Sie besitzt, wie die meisten Werke Mayers, keine Opuszahl, aber die Stimmen tragen die Bezeichnung „Nr. 7“. Die Erstaufführung fand im April 1862 in Berlin statt; es folgten nur wenige weitere Aufführungen.
Am 31. Oktober 2001 stellte die Kammersinfonie Berlin unter Jürgen Bruns das Werk erstmals wieder vor. Inzwischen gibt es Tonaufnahmen, eine gedruckte Partitur (Furore-Verlag, allerdings als Nr. 5) und weitere Aufführungen; erst kürzlich in Friedland/M. durch die Neubrandenburger Philharmonie unter Romely Pfund. Dies alles sind Belege dafür, dass es sich hier um ein bedeutendes sinfonisches Werk handelt.
Dies genauer zu begründen, ist hier nicht der Platz. Eher interessiert der Eindruck der Aufführung vom 4. Juni, für die das Rostocker Hochschulorchester noch einmal alle spieltechnischen und gestalterischen Qualitäten abrufen musste. Emilie Mayer macht es ihren Interpreten nicht leicht. Sie fordert Kraft, Energie, Stringenz, Durchhaltevermögen. Sie setzt auf Expressivität, prägnante Gestik, ausgefeilte und dichte Verarbeitungstechnik, die dringlich darauf verweist, dass hier von musikalischer „Rede“, von starkem Drang zu bedeutenden „Mitteilungen“ zu sprechen ist.
Dies im traditionellen Vier-Sätze-Kanon, aber jeweils sehr eigengeprägt und bis zur allerletzten Note bestimmt von einem geradezu atemlos machenden, in den Ecksätzen schon stürmisch, ja draufgängerisch zu nennenden Drang „nach vorn“. Die Besinnungsphasen wären dann ein bemerkenswertes Adagio – seinerzeit auch als Einzelsatz im Konzert geschätzt – und ein flottes, recht geschmeidiges Scherzo.
In Rostock hatte man alles das für sich erkannt. Dirigent Erdl agierte auch hier mit einem Höchstmaß an bewegungsintensivem, mit größtmöglicher Deutlichkeit gestalterisch auch das Differenzierteste forderndem Dirigat und schaffte so alle Voraussetzungen für eine äußerst lebendige, immer fesselnde, die Neugier stets wachhaltende Aufführung. Das Orchester ging aufmerksam mit, ließ deutlich werden, dass es die „Mayersche Sache“ zu der seinen machte. Das gelang auch dann überzeugend, wenn man – weder verwunderlich noch Kritik! - hinsichtlich einiger weniger Parameter Reserven sieht.
Ein Hochschulorchester ist ständig „unterwegs“, eigentlich nie an einem endgültigen Ziel – und das ist normal und gut so. Dafür hat es den Bonus und die Chance, mit jugendlicher Begeisterung und einer Direktheit zu musizieren, die Aufführungen wie dieser den so hochsympathischen Stempel unmittelbarer, fesselnder Lebendigkeit zu verleihen vermag. Im Übrigen war es besonderer Ehren wert, sich der vielen Mühen zu unterziehen, die die Beschäftigung mit einem weitgehend unbekannten Werk und seiner Autorin bedeuten. Von der damit eingegangenen künstlerischen Verantwortung, ja Verpflichtung ganz zu schweigen. Allein das machte diesen Abend bedeutsam – und alle Ausführenden zu wichtigen Vermittlern! (Ähnliche Unternehmen dann vielleicht mit informativem Programmheft?).