Paris, Théâtre du Châtelet, Hamlet/Phantome - B. Ubaldini - K. Serebrennikov, IOCO

09.10.2025
EIN FREIER UND ENTSCHIEDEN ZEITGENÖSSISCHER HAMLET…
Anormal zu sein bedeutet,
Zweifel an den Gesetzen
der Existenz zu haben. Er
ist der unverschämte Typ,
der daherkommt und sagt:
„Aber nein, das ist es nicht,
das passiert anders“. Also
verprügeln wir ihn, wir
jagen ihn weg, wir
verfluchen ihn.
Aber durch die Fragen, die
er stellt, kann er vieles
verändern. Und am Ende
sagen die Leute: „Ja, da ist
etwas, und wahrscheinlich
hat er recht“.
(K. Serebrennikov: Hamlet / Phantome)
W E L T U R A U F F Ü H R U N G
The Tragedy of Hamlet, Princes of Denmark (1603)
von William Shakespeare (1564-1616) ist vielleicht eines der berühmtesten Theaterstücke der Welt. Dieses Werk wirkt wie ein Meilenstein, wenn „die Zeit aus den Fugen gerät“ oder „die Vergangenheit Rache und die Zukunft eine Entscheidung fordert“, wie Kirill Serebrennikov (* 1969) es ausdrückt. Für diese Inszenierung im Théâtre du Châtelet hat der russische Regisseur und Produzent einen radikalen Ansatz gewählt: Von mehreren Schauspielern interpretiert, spaltet sich Hamlet, vervielfältigt sich und deklamiert seinen Text in mehreren Sprachen (Englisch, Russisch, Deutsch und Französisch). Shakespeares Stück inspirierte Serebrennikov zu dieser Inszenierung, die Hamlet mit sich selbst, seiner Zeit und dem Publikum konfrontiert: „Hamlet als Diagnose. Hamlet als Rhizom, Hamlet als Phobie, Hamlet als Erinnerung“.

Hamlet / Phantome ist an das Musiktheater angepasst, d. h. mit einem performativen Regime, das Text und Musik in allen möglichen Kombinationen vermischt und wird vom Ensemble Intercontemporain unter der Leitung des französischen Dirigenten Pierre Bleuse (*1977) im Wechsel mit der deutsch-iranischen Dirigentin Yalda Zamani (*1988) begleitet. Das Orchester führt die Musik des französischen Komponisten Blaise Ubaldini (*1979) auf, die für ein großes Ensemble von dreißig Musikern mit Schlagzeug und E-Bass, einem elektronischen Synthesizer und einem Vokaltrio konzipiert und komponiert wurde.
Der Event-Kreation im Théâtre du Châtelet: Kirill Serebrennikov, eine Schlüsselfigur der internationalen Kunstszene, signiert eine freie und entschieden zeitgenössische Neuinterpretation von Shakespeares Werk. Der russische Künstler greift den Shakespeare-Mythos auf und bietet eine musikalische und vielsprachige Version, getragen von einer Originalkreation des Komponisten Ubaldini, die vom Théâtre du Châtelet für das Ensemble Intercontemporain in Auftrag gegeben wurde. Diese neue Version von Shakespeares Meisterwerk nimmt die Form eines Musiktheater in zehn Szenen an, in denen sich acht Schauspieler abwechselnd die Titelrolle teilen. Der Ukrainer Filipp Avdeev, der Schwedisch-amerikanische Odin Lund Biron, die Französin Judith Chemla, der Deutsche August Diehl, der Russe Nikita Kukushkin, der Tschechische Tänzer Kristian Mensa, die Georgische Multi-Künstlerin Shalva Nikvashvilli und der Franzose Bertrand de Roffignac: Sie alle sind Hamlet, durch eine fragmentarische und vielstimmige Erzählung, die in vier Sprachen aufgeführt wird. Mit dieser Aufführung setzt Serebrennikov seine Erkundung des totalen Theaters fort, indem die Grenzen zwischen Text, Musik, Sprache und Identität verschwimmen, um einer sinnlichen, politischen und zutiefst menschlichen Erfahrung Platz zu machen.

Serebrennikov konfrontiert Hamlet mit sich selbst, seiner Zeit und dem Publikum: Er vervielfacht die Perspektiven, um die mörderischen Fehler des dänischen Hofes und den Wahnsinn seines Kronprinzen, Opfer und Organisator der Schrecken der Aufführung zu erforschen. Die blasse Ophelia, der verbrecherische König, der Geist des Vaters, die verräterische Mutter, die unbeugsame Reinheit einer rachsüchtigen Klarheit, die vergeblich gegen die blendende Macht des Schicksals kämpft. Bei Shakespeare verschwört sich alles hoffnungslos, um nichts anderen als die Verwirklichung des Schicksals zu sein. Serebrennikov, ein Genie der Bühne, spottet über das Schicksal und schreibt seine Rolle neu!
Eine hypnotische mentale Odyssee…
Hamlet kehrt zurück, aber anders als wir ihn kennen, Serebrennikov sprengt den Mythos: Hamlet spaltet sich in zwei Teile, spricht mehrere Sprachen, stellt sich selbst, seiner Zeit und unseren Geistern. Zwischen Theater und Konzert, Text und Live-Musik wird diese Tragödie zum Bühnen-Schwindel – ein zerrütteter, zeitgenössischer und elektrisierender Hamlet.

Der Besuch einer Serebrennikov - Aufführung ist an sich schon ein politischer Akt. Das ist einer der Hauptgründe, warum wir an diesem Abend hier im Théâtre du Châtelet sind. Der im Exil lebende russische Regisseur, ein erklärter Wladimir Putin (*1952) - Gegner, macht keine Kunst um der Kunst willen. Und Hamlet / Phantome bildet da keine Ausnahme: Die Show trägt diese politische Dimension in jeder ihrer Szenenbilder.
Hamlet / Phantome ist keine Inszenierung von Shakespeares Meisterwerk. Es ist eher eine Abhandlung, ein Abschweifen über die Figur des Hamlet. Das Stück ist in Kapitel unterteilt, die jeweils eine andere Facette untersuchen: Den Vater, Liebe, Gewalt, Angst… Um es gleich vorweg zu nehmen: Man sollte sich das Stück am vornehmen, wenn man das Werk gut kennt. Wirklich gut! Stellenweise erinnert es an Olivier Pys Arbeit Hamlet à l’impératif vor einigen Jahren in den Jardins Ceccano beim Festival d’Avignon – derselbe Wunsch, das Theater durch Hamlet zu hinterfragen, anstatt seine Geschichte zu erzählen. Doch während Py das Publikum direkt zu den Möglichkeiten des Theaters befragte, geht Serebrennikov in Sachen Komplexität noch einen Schritt weiter: Er vervielfacht die Wege, Blickwinkel und Interpretationen bis zum Schwindelgefühl.
Der Vorteil von Gemälden besteht darin, dass manche uns mehr ansprechen als andere. Eine Ästhetik, ein Thema, ein Blickwinkel, ein Schauspieler – und plötzlich eröffnen sich uns neue Perspektiven auf Hamlet. Hier nimmt der Prinz in seiner Beziehung zu seinem Vater sie Anmutung eines Horrorfilms an – verstörend zu sehen, wie die Figur diesen Codes verfällt. Dort ist es das großartig getanzte Tableau Hamlet / Phantome das uns im Gedächtnis bleibt, ein Moment, in dem Körper die Worte ersetzen. Weiter unten lässt uns das Tableau der Angst, das an Joseph Stalin (1878-1953) erinnert, erschaudern – mit einer erschreckenden und entschieden politischen Genauigkeit. Wir denken an Dmitri Schostakowitsch (1906-1975), Antonin Artaud (1896-1948), Sarah Bernhardt (1844-1923). Die Schau liefert Ausschnitte, verstreute Gedankenfetzen, in denen Hamlet mit Figuren des 20. Jahrhunderts kommuniziert. Die Idee ist auch zu zeigen, inwieweit Hamlet zu einem Namen geworden ist, der über die Figur hinausgeht, zu einem Mythos, der sich endlos vervielfältigen lässt.
Es ist reichlich vorhanden – vielleicht sogar zu reichlich. Es werden so viele Ideen herumgeworfen, dass wir bereitwillig zugeben, dass wir an bestimmte Passagen das Interesse verlieren, die uns weniger ansprechen – und ganz unter uns, wer kann sich schon rühmen, Hamlet wirklich VERSTANDEN zu haben? Aber was die Aufmerksamkeit fesselt, ist diese imposante Szenografie – diese verlassene, von der Zeit zerfressene Wohnung wird zu Hamlets geistigem Raum – und vor allem bestimmte Schauspieler auf der Bühne, absolut faszinierend. Mehrere Darsteller verkörpern Hamlet und wechseln im Laufe der Aufführung die Sprachen – Englisch, Russisch, Deutsch, Französisch – getragen von der Live-Musik des Ensemble Intercontemporain, die die gesamte Aufführung begleitet.

Diese Bilder, diese Intuitionen, diese Fragmente, die er uns vermittelt, nähren unsere eigene Vision von Hamlet und erweitern unsere mentale Bibliothek des dänischen Prinzen. Vielleicht rufen wir sie später wieder hervor, wenn wir das Stück noch einmal sehen, den Text noch einmal lesen. Und dann erscheint das letzte Bild! Erhaben! Wir gehen mit all diesen Eindrücken im Kopf nach Hause – Empfindungen, die unserer Meinung nach noch lange nachwirken werden, nachdem wir das Theater verlassen haben
Zur Welturaufführung im Théâtre du Châtelet am 09. Oktober 2025:
SHAKESPEARES im Schatten WAGNERS…
Das geniale Projekt HAMLET / PHANTOME des im Berliner Exil lebenden russischen Regisseurs SEREBRENNIKOV, das vom 7. bis 19. Oktober 2025 im THÉÂTRE DU CHÂTELET präsentiert wird, bietet in zehn Tableaus eine Meditation über die ebenso schützende wie unruhige Figur HAMLETS, des dänischen Prinzen, dessen Phantome die gesamte europäische, aber auch russische Theater- und Kulturtradition heimsucht. Auf Wunsch von PY – der SHAKESPEARES Stücke selbst bereits inszeniert hat – liefert der Regisseur ein Gesamtspektakel aus Musik, Video, Tanz und Text, der auf Französisch, Deutsch, Englisch und Russisch gesprochen wird. Denn während HAMLET / PHANTOME bei HAMLET mitschwingen und ihn sogar noch einmal mitschwingen lassen will, in der Hoffnung, im Echo ein nie zuvor gesungenes Lied zu finden, wird das Musikstück von einem anderen – komplexen und mehrdeutigen – Phantom der europäischen Kultur heimgesucht: RICHARD WAGNER (1813-1883)…

Wenn sich der imposante Vorhang des Théâtre du Châtelet hebt, präsentiert die Bühne das heruntergekommene Innere einer bürgerlichen Wohnung. Die hohen Mauern und ihre Stuckarbeiten aus einer anderen Zeit umgeben im Garten von große Fenstern, durch die kein Lichtstrahl mit seiner Wärme und seinem Versprechen von „Morgen“ dringen kann. Auf der Bühne ist das Licht weiß, fast wie in einem Operationssaal. Der imposante Spiegel über dem Marmorkamin ist noch mit alten und feinen verhedderten Laken bedeckt. Zwei Schauspieler betreten die Bühne durch die Doppeltür an der Rückseite. Einer von ihnen, der entzückende Odin Lund Biron, schiebt eine Schubkarre voller Totenköpfe, jenes Totemobjekt, dessen bloße Anwesenheit auf der Bühne sofort an die Figur Hamlets erinnert und mit ihm an die Überreste von Yorick, dem Hofnarren des Königs und auch der Vater von Hamlet, der im fünften Akt des Stücks vom Prinzen von Dänemark manipuliert wird. Der andere, Bertrand de Roffignac, kniet schnell nieder um all das Blut zu erbrechen, das er vergossen hat. Es ist Prinz Hamlet, der durch die rachsüchtige Aufforderung seines Vaters ebenso vernichtet wie auch enthüllt wurde. Von Anfang an wird dem Zuschauer die Methode der Aufführung angedeutet! Da es sich aber weigert, der Chronologie und Dramaturgie des Originalstücks zu folgen, wird es bei Hamlet / Phantome nicht darum gehen, das ebenso emblematisch wie mysteriöse Stück - oder sogar emblematisch, weil es darum geht, die – als geheimnisvolle – Seite Shakespeares zu betrachten, sondern vielmehr zu hinterfragen, was die Figur Hamlet in ihren Themen, Einsätzen und metaphysischen und sozialen Fragen zu einem – manchmal verdorbenen und stinkenden - Nährboden der europäischen und sogar russischen Kultur macht. Das Stück wird keine neue Hagiographie des Genies Shakespeare sein und schon gar keine naive Ode an das Theater.
Hamlet im Kaleidoskop…
Die zehn Tableaus folgen mit seltener Geschmeidigkeit aufeinander und unterstreichen die extreme Harmonie zwischen der Inszenierung und Dramaturgie von Serebrennikov und der von Ubaldini im Auftrag des Théâtre du Châtelet geschaffenen Musik. Hamlets „Phantome“ folgen einander, wandelbar und bewohnt, um ihre Wahrheit zu brüllen, ihren Schmerz zu verkünden, das Bild von Épinal in Bewegung zu setzen, das an ihrer Haut klebt und sie für immer in eine zweite Haut hüllt, die sie kratzt und reizt wie ein unangenehmer Juckreiz. Sprachen verschmelzen, Wahrheiten prallen aufeinander, Stimmen überlagern sich, Worte vermischen sich mit dem Stimmentrio der Solisten des Ensemble Intercontemporain, das heute Abend von Bleuse dirigiert wird.
Hamlets Gestalt wird pulverisiert! Jedes Stück seiner Überreste wird auf einem kunstvollen Seziertisch gelegt, wo alle künstlerischen Werkzeuge zum Einsatz kommen, um die Unsterblichkeit seiner Seele in der europäischen Kultur zu beleuchten. Serebrennikov projiziert live auf der Bühne gefilmte Bilder auf die hohen Wände und schafft so ein Gesamtkunstwerk nach dem Vorbild der von Wagner in Bayreuth erdachten Form. Er ist ein Künstler mit einem besonderen Gespür für Wagners Werke, die er bereits mehrfach inszeniert hat. Parsifal, WW 111 (1882) 2021 an der Staatsoper Wien und Lohengrin, WWV 75 (1850) 2023 an der Opéra National de Paris. Die Bilder von Serebrennikov halten die besonders eindrucksvollen Darbietungen der Schauspieler Bertrand de Roffignac und August Diehl fest. Die Arbeit am Blick und an den subtilen Variationen eines in Schuldgefühl versinkenden Hamlets, der sich stehts an der Grenze zwischen Genuss und Verzweiflung befindet, wird in einem Schwarzweißbild vervielfacht, in dem das Rot des Blutes aufgehoben wird, wodurch der Speichel des Prinzen zu einem zähflüssigen Schlamm, einer fauligen und eitrigen Erde wird und die Begriffe Abstammung, Weitergabe, Tradition, Heimat und Patriarchat in Frage gestellt werden.

Der Deutsche August Diehl, dessen viele Erfahrungen im Kino ihm eine scharfe Intelligenz und ein Verständnis für die Kamera verliehen haben – von Quentin Tarantinos (*1962) Inglourious Basterds (2009) bis zu Lars Kraumes (*1973) Fernsehserie Bauhaus - Die neue Zeit (2019), die auf Arte ausgestrahlt wird, unter anderem auch Raoul Pecks (*1953) Der junge Karl Marx (2017) und Das Verschwinden von Josef Mengele [1911-1979] (2025) von demselben Serebrennikov, der am 22. Oktober in die französischen Kinos kommt -, selbst vom Ödipuskomplex eines Schauspielervaters befallen, liefert er eine bemerkenswerte Bandbreite an schauspielerischen Leistungen: Zwischen einem Hamlet, der von seinem Vater heimgesucht wird, dessen Erbe ein Hindernis darstellt – was er formuliert, wenn er sich wie ein Besessener fragt: „Was ist denn los mit den Vätern?“ – und einem Artaud, Avatar von Hamlet, der seine Theorie des Theaters der Grausamkeit entwickelt und von einem echten Wahnsinn bewohnt wird, der den von Hamlet in Frage stellt und ihn zu einem vorgetäuschten Wahnsinn und dem gesamten Theater macht, spielt Diehl mit der Kamera wie mit einem Spiegel, den er reflektiert auf jedem Zentimeter seiner Haut.
Die Kamera wird durch den riesigen Spiegel, den Judith Chemla bedient, präzise ergänzt. Sie porträtiert Bernhardt, die erste Frau, die die Figur des Hamlet im Theater verkörperte. Die Schauspielerin und Sängerin, die einzige Frau auf der Bühne, verleiht den Frauen ihre Stimme und unterstreicht die Exzesse des genialen Künstlers, indem sie Hamlet in seiner Schöpfung verankert…