Paris, Salle Cortot, BAROCKE VIRTUOSITÄT, IOCO Kritik

SALLE CORTOT in Paris: Man musste schon wegen der Show kommen, fast mehr als wegen der Musik! Die Mezzo-Sopranistin Vivica Genaux erfreute die Herzen der Zuhörer mit feurigen Arien, Szenen und Kantaten aus der Zeit des sogenannten ersten Barock: Seicento.

Paris, Salle Cortot, BAROCKE VIRTUOSITÄT, IOCO Kritik
SALLE CORTOT - Paris @ Wikimedia commons

BAROCKE   VIRTUOSITÄT - Vivaca Genaux, Mezzo-Sopran - Jory Vinikour, Cembalo

 von Peter Michael Peters

Lieder, Kantaten und Musik für Cembalo von Purcell, Strozzi, Storace, Ferrari, Händel…

Sweeter than roses, or cool evening breeze

On a warm flowery shore, was the dear kiss,

First trembling made me freeze,

Then shot like fire all o’er.

What magic has victorious love!

For all I touch or see since that dear kiss,

I hourly prove, all is love to me.

 (Song von Purcell / Text anonym)

VIVICA GENAUX : Händel – Dopo notte (Ariodante) - youtube Timeless Musica

DIE APOTHEOSE DES HUMANISMUS…

Eine neue Musik aus Italien für Europa…

von Peter Michael Peters

L’Orfeo (1607) von Claudio Monteverdi (1567-1643) erinnert an ein klangliches und poetisches Universum voller Liebe zum Ideal von Perfektion und Harmonie. Er ist symmetrisch aufgebaut und besteht aus einem Prolog mit fünf Strophen, gefolgt von fünf Akten: Die episodai in Anlehnung an die aristotelische Terminologie mit jeweils einem Chor-Abschluss genannt: stasimon. Der antiken Übersetzung entsprechend strukturieren die Inventionen des Chores das Gesamtwerk. Das Libretto von Alessandro Striggio (1540-1592)  ist voller humanistischer Bezüge: Auf das Inferno (1307/1321) von Dante Alighieri (1265/67-1321), das er wörtlich zitiert und auf die Poesie von Francesco Petrarca (1304-1374), die er mehrmals paraphrasiert und desgleichen auf die von Marsile Ficin (1433-1499), dem überaus talentierten Gründer der berühmten glorreichen Florentinischen Neo-Platon-(428/427-348/347v.J.C.) Akademie. Monteverdis Kompositionen verbinden das kontrapunktische und modale Erbe mit der neuen Monodie, begleitet von den avantgardistischen florentinischen Komponisten. Es verleiht den Instrumental-Farben eine einzigartige dramatische Rolle. Es bietet eine Synthese der unterschiedlichsten Lied-Typen dieser Epoche: Von der bescheidenen canzonetta bis zur reich verzierten Diminution-Arie im Stil der Renaissance, einschließlich der Rezitative im Stil von Jacopo Peri (1561-1633), denen er eine völlig neue Ausdruckskraft und Plastizität verleiht.

Claudio Monteverdi Grab in Venedig @ IOCO

L’Orfeo markiert auf seine Weise das glühende brillante Zwielicht einer Welt, die dem Untergang geweiht war: Die der humanistischen Renaissance! Die erfindungsreichen Schöpfer der Oper hatten eine reichausgestattete Show für die Aristokraten  entworfen, das eine von der Antike inspirierte Rekonstruktion war. Tatsächlich war es im Jahr 1637, als das erste öffentliche und kostenpflichtige Opernhaus in Venedig eröffnet wurde, dass die Oper in dem Sinne, wie wir sie heute verstehen: Wirklich geboren wurde! Die plebejische Bestimmung der venezianischen Schauspiele und Opern führte zu einer tiefgreifenden Veränderung des ästhetischen Ambitionen, die diesem Genre eigen sind. Monteverdi wurde dazu gebracht, an der Schaffung dieser neuen Musik-Welt mitzuwirken, indem er seine ultimativen Meisterwerke komponierte: Il Ritorno d’Ulisse in patria (1640) und L’Incoronazione di Poppea (1642).

Vivica Genaux, Mezzo-Sopran @ Philippe Meillard Production

Die Musik im Dienste der Politik und der Religion…

Von Anfang an war die Oper, wie jeder weiß: una cosa d’Italia. Zunächst eine höfische Angelegenheit, entstand sie in Florenz unter den reichen Medicis, verbreitete sich dann in Mantua unter den äußerst einflussreichen Gonzagues mit L’Orfeo von Monteverdi, emanzipierte sich in Venedig mit der Erschaffung öffentlicher Theater- und Opernhäuser und blühte schließlich auf der gesamten italienischen Halbinsel  mit Francesco Cavalli (1602-1676), Antonio Cesti (1623-1669), Alessandro Stradella (1643-1682), Giovanni Legrenzi (1626-1690), bevor sie mit Alessandro Scarlatti (1660-1725)  ihre endgültige Form findet.

Um zu ermessen, inwieweit die Oper eine Tochter Italiens ist und wie direkt die legitime Zugehörigkeit ist, wenn wir das so sagen können, reicht es nur aus: Eine Reise durch das Europa des 17. Jahrhunderts zu unternehmen und wie sich dort die Musik rappresentativa entwickelt hatte! Die Regionen, in die der Einfluss Italiens aus offensichtlich religiösen Gründen nicht eindringt, können aber jedoch auf andere starke Bindungen in der Kammermusik oder in der geistlichen Musik vorhanden sein: Während für die Oper die Tür völlig  verschlossen bleibt. In Brüssel  können wir zum Beispiel im Jahre 1650 die Oper Ulisse all‘ isola di Circe von Giuseppe Zamponi (1615-1662) hören, aber nichts dergleichen in Amsterdam. Der Kantor Johann Sebastian Bach (1685-1750) wird sich an den chansonettes von Johann Adolf Hasse (1699-1783) in Dresden vielleicht erfreuen können, wo der katholische August III., König von Polen (1696-1763) regiert, aber nicht zu Hause in Leipzig. Mehr noch: Die Launen der Geschichte, sowohl religiöse als auch politisch scheinen in ihren Wendungen die Geschichte der lyrischen Musik zu prägen, indem sie ihre Ankunft in England verzögern oder sie in Prag über Österreich beschleunigen. Zu all dem kommt natürlich das Gewicht lokaler Traditionen und besonderer Geschmacks-Richtungen hinzu, die die Gegebenheiten verändern und den Strom dieser italienischen Strömung umlenken, die im 18. Jahrhundert mit der opera seria dominieren wird.

Jory Vinikour, Cembalo @ Philippe Meillard Production

 

Die französische Kunst der Konventionen…

Das offensichtlichste Beispiel ist Frankreich, das siebzig Jahre brauchte, um eine spezifische Opernform sowohl für als auch gegen Italien zu erfinden, deren langsame Fortschritte jedoch am interessantesteten sind.

Kaum waren die Religionskriege mit König Henry IV. (1553-1610) und seinem Edikt von Nantes zu Ende, da heiratete der französische König eine katholische Italienerin, Marie von Medicis (1575-1642). Auf seiner Hochzeit wurde die Oper Euridice (1600) von Peri aufgeführt. Schon ab 1604 ist der berühmte Sänger und Komponist Giulio Caccini (1551-1618) in Paris mit seiner Frau Lucia Caccini (1560-1593) und seinen beiden Töchtern, Francesca Caccini „La Cecchina“ (1581-1640) und Settimia Caccini (1591-1638): Alle drei Sängerinnen! Gemeinsam werden sie den Hof verführen und dem französischen Gesang, wenn auch nicht tiefgreifend beeinflussend, so doch zumindest einen Impuls geben, der sich auf lange Sicht als entscheidend erweisen wird: Die Franzosen entdecken die Ausdruckskraft des italienischen Gesangs. Eine Art zu deklamieren und vor allem die stimmlichen Verzierungen! Ohne ihre eigene Tradition d’Airs de Cour in vier und fünf Stimmen zu verleugnen, werden französische Sänger nach und nach eine Kunst des Ziergesangs entwickeln, von dem auch die Zeitgenossen, Italiener eingeschlossen, bald mit Bewunderung sprechen werden und von der die meisten Verfahren abstammen wie zum Beispiel die: passagi, gorgie, portamenti, was auch in den doppelten Arien veranschaulicht wird. Von dieser größtenteils improvisierten Art werden nur noch wenige Spuren übrig bleiben, von denen uns jedoch einige Beschreibungen von Henry Le Bailly (1581-1637) aus dem Jahre 1637 erhalten geblieben sind. Desgleichen von Marin Mersenne (1588-1648) und besonders auch Bertrand de Bacilly (1621-1690), der uns mit seiner Anleitung L‘Art de bien chanter (1679) einige interessante Spuren hinterlässt.

Dies ist eine langsame Entwicklung, die von Italien vorangetrieben wird. Zunächst sind die Franzosen zurückhaltend: Von dieser Rezitation in Musik, die das wesentliche Element der italienischen Revolution des Gesangs des rappresentativo darstellt, kann insbesondere keine Rede sein.

Vivica Genaux, Mezzo-Sopran @ Philippe Meillard Production

Die Launen der englischen Geschichte…

Wenn die Geschichte des Musik-Theaters im England des 17. Jahrhunderts sehr verwirrend und diskontinuierlich erscheint, liegt das daran dass sie durch die gewaltigen brutalen Höhen und Tiefen des politischen und religiösen Lebens oft völlig unterbrochen wurde. Die Fronde wurde von Kardinal Jules Mazarin (1602-1661) schnell unter Kontrolle gebracht: Die Revolution von Oliver Cromwell (1599-1658) hatte jedoch schwerwiegendere Folgen. Wenn man jedoch die Musik-Traditionen zu Beginn des Jahrhunderts betrachtet, unterscheidet sie sich nicht so sehr denen in Frankreich und Europa.

Tatsächlich wird die elisabethanische Polyphonie wie in Frankreich mit l’Air de Cour überlagert, einer besonderen Kunst des Solo-Gesangs, deren Meisterwerk nach wie vor das 1597 veröffentliche The First Book of Songs and Ayres ist. Schon jetzt zeichnet sich ein unbestreitbarer italienischer Einfluss ab und er wird sich  durch die starken religiösen Unruhen noch weiter betonen und diese Bewegung beschleunigen. Die katholischen Komponisten werden zur Flucht gezwungen, zum Beispiel John Bull (1552-1628) emigriert nach Brüssel und später nach Antwerpen, Peter Philips (1561-1628) auch nach Brüssel. Wie auch in Frankreich hilft William Shakespeare (1564-1616):Das Sprech-Theater dominiert noch immer die Bühne. Und schon mischt sich die Musik in die spezifische britische Form der mask ein. Es handelt sich um eine angelsächsische Version des Hof-Balletts, jedoch in einer freieren Form, die Komödie, Tanz und Gesang kombiniert! Oder wenn wir es vorziehen, sie ist eine Vorgängerin des Comédie Ballets und hat mit Ben Johnson (1573-1637) wohl den Höhepunkt erreicht. Während Shakespeare in seinen Werken ausschließlich populären Melodien Raum lässt, hatte Johnson echte Gesangs- und Tanz-Szenen eingeführt wie z.B. Valpone (1606). Diese eigenständige englische Theater-Version war so erfolgreich, dass es bis zum 18. Jahrhundert das Lieblings-Spektakel der Londoner blieb und so die Entstehung der Oper äußerst verlangsamte. Die Werke von Shakespeare wurden neu arrangiert, um Gesang und Tanz einzubeziehen wie zum Beispiel The Tempest (1612): Eine Tradition die bis Henry Purcell (1659-1695) andauerte.

Die englische Revolution Mitte des Jahrhunderts brach völlig mit dieser Musik-Tradition. Ein Mann, der sich des Besitzes von Opern-Partituren schuldig gemacht hat, wird nicht nur inhaftiert: Sondern das gesamte Theater-Leben  wird auch als Symbol der Unmoral völlig verboten!

Das Theater-Leben nahm mit der Ankunft von König Charles II. von England (1630-1660) wieder einen neuen Anfang, der nach seinem Exil in Frankreich, wo er einige der vielen Initiativen König Louis XIV. von Frankreich (1638-1715) übernahm. Er eröffnete nicht nur die ehemaligen Musik- Institute, sondern kreierte auch neue wie zum Beispiel: The Select Band of Violins, eine Art Imitation der Vingt-Quatre Violons du roy in Versailles und sie wurde von dem Franzose Louis Grabu (1665-1694) geleitet. Der englische König belebt die Tradition der mask, indem er ihre Annäherung an die Oper betont, ohne sie jedoch vollständig zu übernehmen: Es ist das Erscheinen dessen, was als semi- opera bezeichnet wurde und den Rahmen bilden wird, in den das Werk von Purcell einbezogen wird.

Purcell hatte leider nicht genug Zeit um sich näher mit der europäischen Musik auseinander zusetzen, denn er ist schon im Alter von 36 Jahren an der Pest gestorben. Aber er hat die traditionelle Semi-Opera seines Landes auf den Höhepunkt gebracht, mit Dioclesian (1690), King Arthur (1691), The Fairy Queen (1692) nach Shakespeares und The Indian Queen (1695), ganz zu schweigen von den zahlreichen Bühnen-Musiken, darunter das berühmte The Tempest. Mit ihm verschwand diese spezielle Art der englischen Musik und sie befand sich in den letzten Zügen: Bevor die italienische Oper das Publikum in London eroberte! Ab 1711 spielte Georg Friedrich Händel (1685-1759), der italienischste der in London lebenden Deutschen seine Oper Rinaldo, während Johann Christoph Pepuch (1667-1752) mit einer letzten mask ihr den Todesstoß läutete: Venus and Adonis (1715).

Vivica Genaux, Mezzo-Sopran und Jory Vinikour, Cembalo @ Peter Michael Peters

Der Triumph der „opera seria“…

Die im 17. Jahrhundert in Italien geborenen Oper brauchte fast ein Jahrhundert, um die verschiedenen Musik-Hauptstädte Europas zu erobern. Und es ist die italienischste Version dieses Genres, die opera seria, die nach und nach den gesamten Bereich einnehmen wird, von Rom bis Hamburg, von Neapel bis London, von Florenz bis Madrid und Venedig.

Paradoxerweise sind die besten Komponisten dieser Opern-Gattung nicht unbedingt gebürtige Italiener. Viele von Ihnen sind Ausländer, die sich für eine Technik entschieden haben, die erfolgs- versprechend schien. Also Reinhard Keiser (1674-1739) dann Georg Philipp Telemann (1681-1767)  in Hamburg, oder Hasse  in Wien und Dresden, aber  vor allem der aller Größte: Händel in London…!

Der Ausdruck opera seria wird von den Zeitgenossen selten verwendet, am häufigsten sprechen sie nur einfach von einer Oper oder von einem dramma per musica. Die Gattung selbst ist nicht perfekt standardisiert: Was wir in London oder Wien als italienische Oper bezeichnen, ist nicht unbedingt identisch mit dem, was unter diesem Namen in den unzähligen Theatern in Italien vertreten ist. Daher erscheint es relevanter, eine Definition durch Eliminierung vorzuschlagen! Als opera seria gilt in Italien jedes lyrische Werk, dessen Thema naturgemäß das Qualifikations-Merkmal buffa ausschließt. Die Debatte wird klarer, wenn wir die Techniken der Barock-Oper als Kriterium heranziehen. Wir sind uns bewusst, dass es sich vor allem um eine auf Vielfalt ausgerichtete Aufführung handelt, die Stolz auf die Komplexität und den Luxus ihrer Maschinen ist. Die Handlung mischt Ballette, Pantomimen und Orchester-Einlagen! All dies führt uns weit von der Einheits-Herrschaft entfernt, die im Einklang mit dem französischen Theater die europäische Drama-Szene im 18. Jahrhundert beherrschte. Die Vielfalt und noch mehr die Raffinesse der Produktionen sind eine kommerzielle Notwendigkeit. Sie allein können die Loyalität des Publikums zu einer sehr teuren Art von Aufführung sicherstellen.

Mit seiner ausgeprägten Vorliebe für Rezitative bietet der erste Barock des Seicento ein Universum, das sich sehr deutlich vom 18. Jahrhundert unterscheidet, in dem die Melodie allmählich einen wichtigeren Platz einnimmt und die Virtuosität immer extrovertierter wird. Was sich nicht ändert wird, ist die Kunst den Text hervorzuheben: Der immer die größte Bedeutung behält! Die großen Kompositionen der talentierten Komponistin Barbara Strozzi (1619-1677) oder auch Benedetto Ferrari (1603-1681) und desgleichen Bernado Storace (1637-1707) stellen wahre Wunder der Ausgewogenheit von Rezitativen und Melodien dar: Die mit höchsten Raffinessen verbunden sind und sich hinter einer verwirrenden Natürlichkeit verbergen! Auf der anderen Seite des Kanals wird noch immer der wohl größte englische Komponist Purcell als Orpheus Britannicus  gefeiert und dann auch der sächsische Händel als Il Caro Sassone. Der eine Generation später seinerseits mit größeren melodischen Phrasen komponierte, aber jedoch sein Gespür für die Illustration von Worten ist seinen Vorgängern in jeder Hinsicht ebenwürdig!

Virtuosität, Perfektion der Gesangslinie, Projektion des Verbs: Die amerikanische aus Alaska stammende Mezzo-Sopranistin Vivica Genaux besitzt alle diese wesentlichen Qualitäten, unterstützt in diesem Fall nur durch das Cembalo des großartigen amerikanischen Cembalisten Jory Vinikour: Der einen meisterhaften Dialog mit ihr aufgebaut hat!

Vivica Genaux, Mezzo-Sopran und Jory Vinikour, Cembalo @ Peter Michael Peters

BAROCKE VIRTUOSITÄT - DAS PROGRAMM

Purcell: SWEETER THAN ROSES, Z. 585, N°1 (1695) *** Purcell: Bess of Bedlam aus Silent Shades, Z. 370 (1683) *** Purcell: SUITE FÜR CEMBALO IN D-MOLL, Z. 668 (1696) *** Strozzi: L’ERACLITO AMAROSA, CANTATE, ARIETTE E DUETTI, Op.2 “UDITE AMANTI (1600) *** Storace: CIACONNA, N°14 PER CIMBALO ED ORGANO (1664) *** Ferrari: ARDO, MISERA, SI, MA L’ARDOR MIO (1640) *** Ferrari: AMANTI, IO VI SO DIRE (1641) *** Händel: SUITE IN E-DUR FÜR CEMBALO, HWV 430 (1720) *** Händel: LUCREZIA, CANTATE HWV 145 “O NUMI ETERNI!” (1706), Text von Kardinal Benedetto Pamphilj (1653-1730).

BAROCKE VIRTUOSITÄT - Lieder-Abend - Salle Cortot, Paris - 17. Januar 2024:

Die Primadonna, die aus der Kälte kam…

Man musste schon wegen der Show kommen, fast mehr als wegen der Musik! Und doch gab es wunderschöne Musik! Heute Abend erfreute die Mezzo-Sopranistin Vivica Genaux die Herzen der Zuhörer mit feurigen Arien, Szenen und Kantaten aus der Zeit des sogenannten ersten Barock: Seicento. Die Sängerin aus dem sehr kalten Alaska überzeugt uns jedes Mal mit ihrer warmen, ja man kann fast sagen glühenden Stimme und dazu natürlich mit ihrer legendären Koloratur-Technik. Im Vergleich zu einer anderen großen Diva ohne den Namen zu nennen: Hat die amerikanische Sängerin eine äußerst beeindruckende Musikalität, ganz zu schweigen von einem atemberaubenden Gesang, der dem ihrer Kollegin in nichts nachsteht. Vor ein paar Wochen hatte sie auch schon ihre Barock-Fans fast zur Ohnmacht gebracht: In der Rolle der Stratonica, einer grausamen Frau, die auf dem Altar ihrer Begierde nichts opfert, war sie völlig begeisterungswürdig mit ihren haarsträubenden Vokalisationen, die es ihr ermöglichten trotz eines etwas raueren Tones ein umfangreicheres Bass-Register als gewöhnlich üblich zu erkunden. Es war der unvergessene wiederentdeckte traumhafte Il Mitridate Eupatore (1707) von Alessandro Scarlatti (1660-1725) im Auditorium Michel Laclotte des Musée de Louvre Paris (Siehe IOCO-Kritik).

Vivica Genaux, Mezzo-Sopran und Jory Vinikour, Cembalo @ Peter Michael Peters

Wir kennen die Mezzo-Sopranistin schon mehr als zwanzig Jahre und haben somit ihre europäischen Anfänge miterlebt: Besonders in Berlin an der Deutschen Staatsoper unter den Linden und auch in Dresden. Sie hat sich besonders hervorgetan als Entdeckerin und Interpretin der Werke von Hasse. Wie schon gesagt ihre Interpretationen haben uns noch nie enttäuscht und wir waren immer angenehm überrascht über die Intensität ihrer Darbietung: Immer sehr frank in ihrer Stimme, eine sehr dramatische Haltung, aber auch mit ihrem fast „fleischfressenden“ Kiefer behält sie eine Linie bei, die sowohl fest als auch kunstvoll ist mit unendlichen Variationen, die sie systematisch durch die schon berühmten Bewegungen ihrer Lippen und ihres Kinns begleitet.

Die Sängerin beginnt ihren Barock-Abend mit zwei traumhaft schönen Arien aus dem Orpheus Britannicus von Purcell, es ist eine zarte traurige Musik mit nostalgischen Erinnerungen oder auch mit tristen Zukunfts-Ahnungen des so früh verstorbenen talentierten Komponisten. Eine kleine Bemerkung unsererseits: Wir wunderten uns über die verhältnismäßig schlechte Aussprache für eine Englisch sprechende Sängerin! Gleich danach die Suite für Cembalo Z. 668 auch von Purcell interpretiert von dem ausgezeichneten Musiker und heutigen Begleiter der Künstlerin: Jory Vinikour.

Die Arie Udite amanti von Strozzi ist wohl schon eine furiose wilde Liebeserklärung mit kleinen Andeutungen zur Rache. Das kann nur eine vorzeitig emanzipierte Komponistin schreiben! Brava! Auch ein Brava für die Interpretin dieser dramatischen Liebeserklärung ohne große Umschweife: Trotz dieser halsbrecherischen klangvollen Koloraturen können vielleicht diese Töne auch töten. Die Ciaconna von Storace wird dem Cembalisten mit viel Delikatesse und natürlicher Dramatik gespielt.

Die beiden Melodien Ardo, misera, si, ma l‘ardor mio und Amanti, io vi so dire von Ferrari sind sehr repräsentative Beispiele aus seinem  Musiche a voce sola (1640/1645) für diese Zeit. Hier scheint die Mezzo-Sopranistin die Register gewechselt zu haben und ihre Darbietung ist ein sanftes dahin Geplätscher von Tönen und Kadenzen. Es ist ein endloser melancholischer Gesang ohne Ende… Die Diva hat die Töne unter der Haut und wir haben die nötige Gänsehaut! Die berühmte Suite für Cembalo, HWV. 430 von Händel wird auch sehr hautnahe und mit viel Raffinesse von Vinikour interpretiert.

Der Höhepunkt ist wohl eindeutig die Kantate O Numi Eterni HWV. 145 von Händel. Diese große Szene der Lucrezia ist ein wahres Meisterwerk, das mit vielen Nuancen die Stimmungen und Gefühle der jungen Frau beschreibt, bevor sie sich das Leben nimmt. Lucrezia wird von Tarquin vergewaltigt und bittet die Götter, sie zu rächen. Sie droht, die Furien zu beschwören, wenn der Himmel  ihr nicht zur Hilfe kommt und verflucht ihren Angreifer und wünscht sich seine Vernichtung. Aus Verzweiflung über das Schweigen der Götter begeht sie Selbstmord und schwört noch Rache aus der Welt der Toten. Hier ist Vivica Genaux in ihrem Element, denn Rollen mit großem dramatischen Effekt sind ihre Parade-Rollen: Mit ihrem einzigartigen Organ streift sie zwischen Himmel und Hölle wie ein explodierender Stratosphären-Bomber mit einem geeigneten Rache- und Gewalt-Arsenal! Vorsicht!

Nach zwei Zugaben gab es einen Riesen-Applaus Viva Vivica, Viva Vivica… Der auch wohl verdient war für diese Ausnahme-Sängerin! Natürlich vergessen wir auch nicht ihren Partner am Cembalo, der auch viel für diesen äußerst gelungenen Abend beigetragen hat. Ab 18. Januar wird sie hier in Paris eine Meisterklasse mit jungen Sängern unternehmen. (PMP/20.01.2024)