Paris, Opéra Comique, BALLETT-PANTOMIMEN - C. W. Gluck, IOCO

Paris, Opéra Comique, BALLETT-PANTOMIMEN - C. W. Gluck, IOCO
Théâtre National Opéra Comique Paris © Wikimedia Commons



24.05.2025

 

Christoph Willibald Ritter von Gluck:
BALLETT-PANTOMIMEN

von Gasparo Angiolini

IPHIGÉNIE EN AULIDE, WQ. 40 (1774)
Oper in drei Akten / Orchester-Suite
Libretto : Marie François Louis Gand Bailli du Roullet (*)

SEMIRAMIS, WQ. ANH. C/1 (1765)
DON JUAN, WQ. 52 (1761)

Argumente von Gasparo de‘ Calzabigi.

KUNST ALS POLITUM… 

Gluck oder die Entstehung der europäischen lyrischen Kunst…

Don Juan widersetzt sich gesellschaftlichen Normen, indem er göttliche Gesetzte missachtet. Semiramis, Königin von Babylon, wählt einen Ehemann, ohne zu wissen, dass es ihr Sohn ist. Jedem erscheint ein Rachegeist, um für beide die höchste Strafe anzukündigen.

 

Bevor Gluck das Drama wieder in den Mittelpunkt der Oper stellte, trug er zur Transformation der choreografischen Kunst seiner Zeit bei. Gemeinsam mit dem Ballettmeister Gasparo Angiolini (1731-1803) unterstützte er das kühne Projekt von Ranieri de‘ Calzabigi (1714-1795), der in Wien den Tanz zu einer vollständigen Erzählsprache machen wollte. Diese beiden Ballett-Pantomimen, die viel von den französischen literarischen Quellen verdanken, führten die eindrucksvolle Reform-Kunst von Christoph Willibald Ritter von Gluck (1714-1787) in Europa ein.

 

Eine sehr missbräuchliche „klassisch/barocke“ Opposition…

Glucks Werk ist ganz auf die Bühne ausgerichtet: Ob Oper oder Ballett, der deutsche Musiker ist vor allem ein Mann des Theaters. Und das in einem Jahrhundert, in dem das Spektakel König ist und alle Gesten kodifiziert sind. Inmitten dieser tragischen Szenerie unterliegt der Schauspieler denselben Zwängen wie der Monarch selbst in seinem Palast. Die „petit lever“ (kleine Erhebung) des Herrschers ist eine öffentliche Zeremonie mit strengen und unveränderlichen Riten. Er zieht sein Hemd in der Öffentlichkeit an, eine umgekehrte Striptease-Show, das von den Höflingen mit Entzücken beobachtet wird und bei dem nur die höchsten Herren des Königsreichs als Diener auftreten dürfen.

 

Die musikalische Revolution des Wiener Balletts…

Die zweite Hälfte des 18. Jahrhundert ist eine der Epochen der Musikgeschichte, die am stärksten von Wandel und Innovation, von Bruch mit alten Formen, Gattungen und Stilen und von der Suche nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten geprägt ist. Der nordamerikanische Musikwissenschaftler Daniel Heartz (1928-2019) betrachtet diese im kulturellen Kontext der europäischen Aufklärung angesiedelte Phase zweifellos als „kritische Jahre der europäischen Musikgeschichte“ – Schlüsseljahre der Musikgeschichte. Dies gilt insbesondere für die Theatermusik der verschiedenen Kulturzentren Europas, darunter auch Wien, wo fast gleichzeitig gewagte Experimente auf den Gebieten der Oper und des Bühnentanzes stattfanden. Im letzteren Fall war es Gluck, der mit seinen Mitarbeitern de‘ Calzabigi und Angiolini neue Möglichkeiten der Verschmelzung von Musik, Drama, Oper und Tanz erkundeten.

 

Gluck hatte in Italien jahrelang Erfolg als Opernkomponist gehabt, bevor er Kapellmeister von Pietro Mingottis (1702-1759) Opern-Gesellschaft wurde und sich 1750 dauerhaft in Wien niederließ. In Italien hatte er sich den Ruf eines talentierten und vielversprechenden, wenn auch kapriziösen Musikers erworben und galt damals als „ein junger Mann von sehr großem Können und feurigem Geist“, wie 1756 Saverio Mattei (1742-1795) schrieb, weil seine unorthodoxe Musiksprache polemische Debatten auslöste, beispielsweise  in Neapel, als die kühnen harmonischen Progressionen und ausdrucksstarken Dissonanzen der berühmten Arie „Se mai senti spirarti sul volto“ aus seiner Oper La Clemenza di Tito (1752) von einigen als Verstoß gegen musiktheoretischen Normen kritisiert, von anderen hingegen als stilistische Neuerungen gelobt wurden, die den Weg in die Zukunft wiesen.

 

Die notwendigen kulturpolitischen und theaterpraktischen Voraussetzungen in Wien ebneten Gluck den Weg als künftigen „Reformer“, als sie 1760 vom damaligen Generalintendanten der Wiener Theater, Giacomo Conte Durazzo (1717-1794), geschaffen wurden. Dadurch gelang es, eine Gruppe von Künstlern zusammenzubringen, die einen experimentellen Geschmack teilten – eine Gruppe, zu der Gluck selbst, sein zukünftiger Opernlibrettist de‘ Calzabigi als Ideologe und „Szenograph“ sowie der Tänzer und Choreograf Angiolini gehörten. Alle einte der Wunsch, neue musikalische Wege im Bereich Theater und Tanz zu beschreiten und dabei nicht nur die theoretischen, innovativen Tendenzen zu erdenken, sondern diese auch praktisch auf der Bühne umzusetzen.

Don Juan © David Herrero

 

Das Bühnenballett im Wandel: Don Juan…

Bezeichnend ist, dass als erstes Genre der Tanz gewählt wurde. Am 17. Oktober 1761 wurde auf der Bühne des Wiener Burgtheaters das von Angiolini konzipierte und choreografierte Ballett Don Juan oder Das steinerne Fest zur Musik von Gluck aufgeführt: Ein Werk, das eine Herausforderung darstellt, weil es nicht nur die weitere Entwicklung des Balletts beeinflusste, sondern auch als Ausgangspunkt für wichtige Impulse für andere Bühnengenres diente. Die Autoren setzten große Hoffnungen in die Argumente des Libretto! Wie im Prolog des Programms und im Libretto der Premiere nachzulesen ist, wurde die dramatische Handlung ausschließlich durch Pantomime – Tanzbewegungen, Mimik und Gestik – in enger Verbindung mit „sprechender“ Instrumentalmusik dargestellt, für die Angiolini in Gluck einen brillanten Komplizen gefunden hatte. „Herr Gluck hat die Musik komponiert“, schrieb Angiolini „Er hat die schreckliche Seite des Geschehens perfekt eingefangen. Er hat versucht, die dort herrschenden Leidenschaften und den Schrecken, der in der Katastrophe herrscht, zum Ausdruck zu bringen“.

 

Zunächst wurde ein Stoff gewählt, der aus dem Burlador de Sevilla y Combidado de piedra (1630) von Tirso de Molina (1579-1648) ein eindrucksvolles Interpretatorisches Erbe in Literatur, Musik und Theater darstellt: Die Legende von Don Juan, dem skrupellosen Verführer, der seine erotische Anziehungskraft auf Frauen ausnutzt, um seine Bedürfnisse erbarmungslos zu befriedigen, für die er sich verantworten muss. Dem Wiener Publikum war dieses Thema vor allem durch die berühmte Komödie Dom Juan ou le Festin de Pierre  (1665) von Jean-Baptiste Poquelin, genannt Molière (1622-1673) bekannt, die auch Angiolini als Vorlage für seine Tanzfassung diente.

 

Musikalische Tradition und „Werk-Form“…

Die musikalische Tradition und die „Werk-Form“ der Ballettmusik zu Glucks Don Juan sind eng mit der Bühnenpraxis des Balletts des 18. Jahrhunderts verknüpft. Musik, Bühnengeschehen und Choreographie bildeten nach damaliger Auffassung je nach Kontext der jeweiligen Aufführung ein bewegliches und variables Ganzes. Anders als die Ballette späterer Epochen stellten diese Werke noch keine musikalisch und choreographisch strukturell festgelegte Einheit im Sinne eines zusammenhängenden und endgültigen Werkes dar. Dies lässt sich über Glucks Ballett Don Juan sagen, das 1761 in einer dramatisch und musikalisch auf das Wesentliche des Dramas reduzierten Form aufgeführt wurde. Es spiegelt ausdrücklich die reformistischen Konzepte seiner Autoren wider. Als experimentales work in progress wurde die Fassung der Uraufführung seit Beginn der Aufführungsreihe in der Saison 1761/62 und auch in späteren Produktionen immer wieder modifiziert hinsichtlich Lautstärke, Dramaturgie, Rollenverteilung und Choreographie. Die entsprechenden Konsequenzen wirkten sich auf die Musik aus, die in zwei Versionen überliefert ist: Eine kurze Version mit 16 Nummern, die mit dem im Libretto von 1761 beschriebenen Handlungsablauf übereinstimmt – weshalb man sie als Musik der Wiener Uraufführung bezeichnen kann – und eine erweiterte Version mit 32 Sätzen, die um 1800 in das Konzertrepertoire aufgenommen wurde und in dieser Aufführung von dem katalanischen Dirigenten Jordi Savall und seinem Orchestre Le Concert des Nations zu hören ist. Diese neueste Version enthält neben allen Sätzen der Kurzfassung auch die zusätzlichen Tanz- und Pantomimen-Nummern, insbesondere jene, die das Fest im Hause Don Juans im zweiten Akt begleiten, aber auch während der Auseinandersetzung mit dem Kommandanten im ersten Akt und zur Charakterisierung des Charakters des Kammerdieners.  

 

In beiden Versionen besteht das Ballett aus einer kurzen, einsätzigen Sinfonie, die mit energischem Gestus und großen harmonischen, dynamischen und expressiven Kontrasten sowie einer Reihe unterschiedlicher Instrumentierungen, Längen und musikalischer Charakteristika das Bühnen-Geschehen einleitet. Dem Genre entsprechend handelt es sich dabei um Tanzsätze, die den üblichen Mustern und formalen Strukturen der Instrumentalmusik des 18. Jahrhunderts folgen, wie etwa der Gavotte, dem Contredanse oder dem Menuett. Darüber hinaus finden wir in Glucks Ballettmusik auch Stücke, die in direktem Zusammenhang mit dem Bühnenbild, der dramatischen Handlung und dem choreografischen Ausdruck stehen, der durch die pantomimische Geste der Handlung definiert wird. So handelt es sich bei Nummer 2 - Andante - um eine Serenade , mit der Don Juan zu Beginn der Handlung um Donna Anna, wirbt. Die Solo-Oboe, in lyrischen und vokalem Ton gespielt, stellt den Gesang des Protagonisten dar, während die Pizzicato-Streicher ein gezupftes Saiteninstrument wiedergeben, das die nächtliche Serenade begleitet. Die Bühnenhandlung setzt am Ende des ersten Aktes ein, bei einem ersten dramatischen Höhepunkt, verbunden mit einer Steigerung der pantomimischen Handlung auf der Bühne, als es zur Konfrontation zwischen Don Juan und dem Komtur in Form eines Duells kommt. Die Musik der Nummer 5, bezeichnenderweise Allegro forte risoluto besteht  voller Kontraste mit Wechseln von Tempi, starker Dynamik und besonderem Ausdruck sowie mit unregelmäßigen Perioden. Es spiegelt die dramatischen Ereignisse der Szene wider, den Schlagabtausch zwischen den Duellanten, die Kräfte, die den besiegten Komtur im Stich lassen, als er schließlich den tödlichen Stoß erhält: Ein Moment der Pause in der Handlung, in dem die Musik aussetzt, bevor Don Juan zu den hektischen Figuren der Zweiunddreißigstelnoten der letzten Takte vom Tatort flieht.

 

Bewegungen von unvergleichlicher Sinnlichkeit…

Im zweiten Akt veranstaltet Don Juan in seinem Haus ein üppiges Fest, das von Musik und Tanz begleitet und in der Langfassung der Ballettmusik durch eine der Bühnensituation entsprechende, überwiegend tänzerische Bewegungsfolge - Nummern 6-18 - präsentiert wird, bevor die Festfreude ihren Höhepunkt erreicht: Nummer 19, der berühmte Fandango, der im 18. Jahrhundert zum „spanischen Tanz“ schlechthin wurde und mit dem man dank dieser Konnotation die spanische Atmosphäre auf der Bühne leicht und wirkungsvoll darstellen konnte. Darüber hinaus galt der Fandango als sinnlicher und erotisch aufgeladener Tanz, den Giacomo Girolamo Casanova (1725-1798) als den „verführerischsten und üppigsten Tanz der Welt“ beschrieb, dank seiner Haltungen, „die nichts Lasziveres als ihn sehen konnten“. Die Musik war daher wie geschaffen für die Handlung des Balletts Don Juan, das in Sevilla spielt und insbesondere dafür, Don Juan, den freizügigen Protagonisten und perfekten spanischen Konquistador, musikalisch zu charakterisieren.

 

Auf die von Kastagnetten begleitete Fandango-Vorführung mit dem passenden Titel „Spanische Chaconne“ folgen die Menuette Nr. 20 und 21 sowie der Volkstanz Nr. 22. Dabei handelt es sich um Gesellschaftstänze der Festgesellschaft, die bei Nr. 23 abrupt und unerwartet unterbrochen werden: In einer kraftvollen Wendung erscheint der Geist des Komturs und verwandelt das Fest abrupt von einem gesellschaftlichen Ereignis in eine metaphysische Situation. Die der Musik genau zuordenbaren Bühnenquellen schildern den weiteren Verlauf der Ereignisse nach der Erscheinung des Geistes: „Der Geist klopfet an“. Zu Beginn der Nummer 23 suggerieren die akzentuierten Unisono-Klänge der Streicher im fortissimo den Ruf des Geistes, anschließend illustriert die Musik den Schrecken des Dieners, der zur Tür geht und die Veränderung der Gesellschaft der Gäste, die vor dem Geist fliehen (presto). In den folgenden Nummern 24 bis 26 folgt Glucks Musik so genau wie möglich dem Bühnengeschehen. So überträgt die Nummer 24 (risoluto e moderato), vermischt mit den hämmernden Tönen im fortissimo, den neuen energischen Ruf des Gespenstes, das schließlich eintreten wird. Anschließend präsentiert Nummer 25 die Rückkehr der noch immer vor Angst zitternden Gäste „entrée des trembleurs“ durch eindringliche und dynamisch akzentuierte Figurationen der Violinen. Bei Nummer 26 veranschaulichen die absteigenden Tonleitersequenzen den Schrecken des Dieners.

Don Juan © David Herrero

 

Am Ende des Balletts findet die Friedhofszene mit der Konfrontation zwischen Don Juan und dem Geist des Komturs statt, der nun als Statue auf seinem Grab materialisiert ist. Im larghetto Nummer 30 fordert die Statue Don Juan zur Reue und zur Änderung seines ausschweifenden Lebensstils auf, der seinen Abstieg in die Hölle zur Folge hat. Mit der Furienszene endet das Ballett: Die Erde öffnet sich, aus dem Höllenfeuer kommen Furien und Dämonen, die Don Juan quälen und ihn in die Hölle hinabziehen. Dieses spektakuläre Finale des Balletts wurde bei der Wiener Premiere von Angiolini als Don Juan selbst getanzt, mit einer Gruppe von 24 Furien, unter eindrucksvollen Lichteffekten und begleitet von Glucks höchst ausdrucksstarker und dramatischer Musik: Angedeutet durch die bemerkenswerten Akzente der Trompeten und Posaunen sowie die stets ergreifende Linie der dominanten Sechzehntelfiguren der Violinen, die teils durch wiederholte Noten, teils durch überwiegend absteigende Tonleitern erzeugt werden und den Weg zur Hölle zu weisen scheinen.

 

Semiramis: „Zu pathetisch und traurig ?“…

Mit Don Juan hatte Gluck und sein Team einen ersten Schritt hin zu einem autonomen Tanzdrama getan, entsprechend den Bestrebungen der vorgesehenen Erneuerung des Musiktheaters seiner Zeit. So innovativ das Dekor und die Musik von Don Juan im Rückblick auch erscheinen mögen, insbesondere in der Langfassung, lassen sie doch reichlich Raum für dekorative und unterhaltsame Tanzszenen innerhalb eines bald konventionelleren Musikformats, insbesondere in der Festszene im Haus von Don Juan. Trotz des tragischen Ausgangs wurde das Ballett, das Angiolini als „Heroische Komödie“ bezeichnete, vom damaligen Publikum nicht als echte Tragödie angesehen, da Don Juans Höllenfahrt gemäß der Moral und den Werten des 18. Jahrhunderts als gerechte Bestrafung eines schuldhaften Protagonisten verstanden werden konnte, der unfähig war, Busse zu tun und seine eigenen Fehler zu erkennen.

 

Andererseits erweist sich Semiramis als genau das, was der Genrename verspricht: Eine „Tragödie im Pantomimeballett“. Das Ballett entstand anlässlich der zweiten Hochzeit des späteren Kaisers Joseph II. (1741-1790) mit Prinzessin Maria Josepha von Bayern (1739-1767) und war Teil eines dem Anlass entsprechenden Festprogramms, umgeben von verschiedenen musikalischen Darbietungen und Theateraufführungen. Die Uraufführung fand am 31. Januar 1765 nach der Tragödie Bajazet (1672) von Jean Racine (1639-1699) im Wiener Burgtheater statt und war erneut das Ergebnis der Zusammenarbeit von Angiolini, Gluck und de‘ Calzabigi. Erneut wird ein bekanntes Thema aufgegriffen, das eine lange Bühnentradition besitz und im Operngenre bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts zurückreicht. Die Handlung dreht sich um die sagenhafte assyrische Königin Semiramis  – eine Heldin der Antike -, mit der sich Gluck bereits in seiner Oper Semiramide roconosciuta (1748) beschäftigt hatte. Mit diesem Ballett begann er ein Experiment  des Tanzdramas, zu einer Zeit, als seine Position und sein Ruf als Komponist auf der Suche nach neuen Horizonten und der Erneuerung des Musik- und Tanztheaters seit seiner Oper Orfeo ed Euridice (1762) bereits völlig gefestigt waren.

 

Die Tragweite des Anspruchs, den die Schöpfer von Semiramis an ihr Ballett stellten, lässt sich anhand des Programmtextes ermessen, der zur Premiere im Jahr 1765 veröffentlicht wurde: „Dissertation über die Pantomime-Ballette der Antike, die als Programm für das tragische Pantomimeballett von Semiramis dienen sollte“. De‘ Calzabigi beanspruchte später aufgrund seiner Ideen und Konzepte die Urheberschaft, doch die Fragmente, die sich auf den Tanz beziehen, sind vor allem Angiolini zuzuschreiben. Letzterer ging von einer Ausrichtung des Balletts nach den Regeln des geschriebenen Dramas aus: Vor allem aristotelische dramatische Poesie, Vereinfachung der Handlung – Verzicht auf gewisse Episoden und Nebenfiguren -, geradlinige und strenge Handlung, ein ausdrucksstarker Tanzstil, aber auch eine ebenso ausdruckstarke Musik, der Angiolini und de‘ Calzabigi als „Poesie der Pantomime-Balletts“ eine dominierende Rolle zuschrieben. Die unmittelbare Vorlage für Semiramis fand Angiolini in François-Marie Arouet genannt Voltaires (1694-1778) gleichnamiger, 1748 erfolgreich uraufgeführter Tragödie und entwickelte daraus eine ebenso verstörende und beunruhigende wie wirkungsvolle Balletthandlung: Semiramis, des Mordes an ihrem Mann Ninus schuldig, strebt eine neue Verbindung an und wählt einen Anwärter, der in Wirklichkeit ihr eigener Sohn Ninas ist. An Ninus‘ Grab erscheint sein Geist und fordert Rache an dem Menschen, der für seinen Tod verantwortlich ist. Ninas lässt ihn hinrichten und ermordet damit seine eigene Mutter.

 

Pantomime ohne Tanz…

Semiramis stellt die konsequenteste Umsetzung der Idee des Aktions-Pantomimen-Balletts dar und zwar nicht nur in seiner dramaturgischen und choreografischen Konzeption, die nicht nur zu äußerster Verdichtung führt, sondern vor allem in seiner musikalischen Ausarbeitung. Anders als in seinen übrigen Ballettmusiken verzichtet Gluck in dieser „Pantomime ohne Tanz“, so schrieb Jean-Georges Noverre (1727-1810) auf konventionelle Tanzsätze im Modus des Divertissements und setzt stattdessen auf Stücke mit individuellem Charakter in einer „modernen“ Musiksprache: Mit kühner, heterodoxer, manchmal abrupter Harmonik, mit ausgeprägten dynamischen Differenzierungen auch in der Mikrostruktur einzelner Takte und Taktfolgen, mit Tempi- und Rhythmuswechseln und mit bewusst unregelmäßigen Perioden, mit aufwendiger Instrumentierung, mit einer über die gesamte Länge eindringlichen und handlungsgeladenen musikalischen Linie, mit emphatischen Pausen in bestimmten Momenten ohne Handlung und mit der Verwendung von Recall-Motiven; kurz gesagt, mit Stilmerkmalen: Die sie aus seiner Zeit entführen!

ohl die Eröffnungssinfonie noch an das formale Vorbild der französischen Ouvertüre erinnert, lässt ihre Darbietung durch abrupte harmonische Züge, stark akzentuierte Akkordschläge und kontrastierende Dynamik sowie das offene Dominantfinale die folgende tragische Handlung erahnen. Auf diese Weise wird es dem Anspruch Glucks, des „Opernreformers“ gerecht, dass der Beginn eines Bühnenwerks das Publikum auf die Handlung vorbereiten soll. Mit einer Linie, die teilweise archaisch in der Klageweise und teilweise dramatisch akzentuiert ist, voller chromatischer Striche, Dissonanzen und dynamischer Kontraste, beschreiben die folgenden Sätze die Gemütszustände der Königin Semiramis, die von schrecklichen Albträumen gequält wird, die mit der Vision der Erscheinung des Geistes des Ninus enden, der im Schatten erscheint und mit der Inschrift des Textes durch eine unsichtbare Hand: „Mein Sohn, geh und räche mich: Zittere, verräterische Frau“.

 

Die Musik des zweiten Aktes leitet die im Libretto ausführlich beschriebene Szene im Tempel des Königspalastes ein, wo sich das Volk versammelt, das für Semiramis einen neuen Ehemann aussuchen muss. Im Gegensatz zur dramatisch aufgeladenen Musik des ersten Aktes hören wir ein zeremonielles Moderato in der Art eines Menuetts – Nummer 3 – zu dem die Zauberer und Satrapen einen „ernsten und majestätischen Tanz“ aufführen. Ein ausdrucksstarkes Moderato grazioso – Nummer 4 – mit zart alternierenden Bläsern: Oboe und Fagott solo, begleitet den Auftritt von Semiramis, bevor sich nach einem überleitenden Moderato Nummer 5 zu einem Maestoso in D-Dur der Freier Ninas mit voller, an einen Marsch erinnernder Stimme ankündigt. Als Semiramis ihn nach anfänglichen Zweifeln zum Ehemann erwählt und zum Altar führt, bricht ein Sturm mit Blitz und Donner aus, der von der Musik in einer Fülle von Lautmalereien illustriert wird.

 

SEMIRAMIS © David Herrero

Im dritten Akt spielt sich die Szene in einem heiligen Hain ab, in dem sich die Gräber der assyrischen Könige befinden und kündigt die letzte Katastrophe des Dramas an. Mit kurzen und kontrastierenden Motiven begleitet die Musik des Adagios – Nummer 10 – die allgemein bedrohliche Atmosphäre sowie das plötzliche Erscheinen des Geistes des Ninus, der eine Semiramis hinter sich her schleppt, die beim Anblick ihres Grabes von Todesangst ergriffen wird. Bei Nummer 11 beginnt erneut ein Adagio mit einem Forte-Akkord voller energischer Geste, geprägt von Achtelnoten-Repetitionen der Streicher, dynamisch akzentuiert  und teilweise dissonant, voller fester und kurzer Motive, die je nach Handlung unterstrichen werden, bevor es sich schließlich im Nichts verliert, in einem retrospektiven  Selbstverlust, Ausdruck von Ninas schicksalhafter Erkenntnis, als er sich vor dem Grab seines Vaters wiederfindet und verbindet so wirkungsvoll die Worte „Komm, lauf, räche deinen Vater“, die auf mysteriöse Weise am Sockel des Mausoleums erscheinen. Die Ereignisse überstürzen sich wie folgt: Zu den Klängen der dramatischen akzentuierten Musik des Allegro maestoso – Nummer 13 – steigt Ninas mit einem blutigen Dolch aus dem Grab, gefolgt von der tödlich verwundeten Semiramis - Nummer 14 – in der er seine Mutter erkennt, was Ninas zu einem Selbstmordversuch – Nummer 15 – veranlasst, den die Magier jedoch verhindern.

 

Mord, Inzest, Blut, Schuld und Sühne, ein Ehemann, der durch die Hand seiner Frau stirbt, der in Gestalt eines Geistes vom Grab aus über das Schicksal seiner Familie entscheidet und schließlich die Protagonistin, die von ihrem Sohn erstochen wird. So groß die Wirkung der Motive, der Bilder und der breiten, hochdramatischen Musik auf der Bühne auch gewesen sein mag, das überaus tragische und musikalisch kompromisslose Werk des ambitionierten Künstlerkreises um Gluck löste beim Publikum der Wiener Uraufführung bestenfalls respektvolle Anerkennung, mehr noch aber ein Gefühl der Befremdung und des Unbehagens aus. So schloss sich Fürst Khevenhüller-Metsch (1706-1776) der allgemeinen Meinung an, dass dieses düstere Thema für einen freudigen Anlass ungeeignet sei, da „das von Signor Angiolini komponierte Ballett […] nicht genehmigt wurde und für eine Hochzeitsfeier eigentlich zu  pathetisch und traurig war“. Zwar war Glucks Semiramis weder zu Lebzeiten des Komponisten noch später ein Publikumserfolg, doch haben die Worte Angiolinis und de‘ Calzabigis über Glucks Musik in ihrer Dissertation sur les Ballets Pantomimes (1765) bis heute nichts von ihrer Aktualität eingebüßt: „Solche Musik zu machen ist ebenso schwierig, wie es schwierig ist, den Plan einer Tragödie in Verse zu fassen. Alles in dieser Musik muss sprechen: Sie muss helfen, uns Gehör zu verschaffen und sie ist eine unserer wichtigsten Quellen, um die Leidenschaften zu wecken. Anhand dieser Skizze können wir ihren Wert beurteilen“.

SEMIRAMIS © David Herrero

 

Anhang: (*) Marie François Louis Gand Bailli du Roullet genannt Le Blanc (1716-1786)

 

Zur Aufführung in der Opéra Comique am 24. Mai 2025:

 

Wer hat Angst vor Geistern…?

Der rot-goldene Tempel, in dem samtweicher Samt die Seufzer vergangener Jahrhunderte umhüllt, der wunderschöne SALLE FAVART, wagt eine doppelte und kontrastreiche Wiederauferstehung. Zwei Pantomime-Ballette von GLUCK: SEMIRAMIS und DON JUAN – zwei vom Tanz verzehrte Mythen, zwei Leinwände, auf denen das Schicksal seine Feuerlinie zieht.

 

Am Dirigenten-Pult: Jordi Savall, großer Barockzauberer, Wundertäter des Unerhörten mit Le Concert des Nations Orchestre. Die Choreographen: Der spanische Ángel Rodríguez und der rumänische Edward Clug, zwei Visionen, zwei Abgründe, zwei Reaktionen auf das Schweigen der Zeit. Unter seinen Fingern ersteht Glucks Musik nicht wieder auf: Sie erhebt sich, sie schwebt, sie verklärt sich. Der Anfang ein Zwischenspiel aus seiner Oper  Iphigenie in Aulis ist kein Vorspiel, sondern eine Prophezeiung. Das Concert der Nations, eine Gruppe gewählter Amtsträger mit tränenberauschten Verbeugungen, meißelt jeden Takt wie eine antike Kamee. Savall formt die Luft mit hieratischer Vornehmheit. Er führt nicht – er beschwört die Toten, die Götter, die Echos eines geträumten Hellas. Schon jetzt bebt der Boden unter den Schritten der Heldinnen und Helden, die vom hervorragenden Ballet der Opéra National Capitole Toulouse interpretiert werden.

SEMIRAMIS © David Herrero

 

Semiramis: Eine gewaltige tragische Orgie am Rande der Nacht…

In einem choreografischen Helldunkel giftiger Sinnlichkeit gestaltet Rodríguez Semiramis wie ein babylonisches Fresko, ein Ritual der Besessenheit und Sühne. Die Körper verschmelzen damit, verschmelzen zu einem Ganzen, rollen sich zu polyzephalen Gestalten von hypnotischer Kraft zusammen. Semiramis ist keine Frau: Sie ist die Reue der Macht, der in Marmor eingeschlossene Schrei. Jede Geste – das Ausholen des Arms, das Zurückweichen der Hüfte – wird zu einer Beschwörung. Wir glauben, einen Sarkophag aus Licht zum Leben erwachen zu sehen, in dem die Schritte der verfluchten Königin auf den Boden treffen, als wollten sie ihre Verbrechen wieder aufleben lassen. Ein Meisterwerk, fieberhaft und magnetisch, trotz einer Kulisse, der es an Fantasie mangelt.

Don Juan © David Herrero

 

Don Juan: Eine Abstraktion mit einem Geschmack von Asche…

Dann kommt Don Juan. Und die Spannung fällt, wie ein Stern, der von der Schwerkraft enttäuscht wird. Clug, ein subtiler, aber ein zu intellektueller Choreograf, bietet uns eine bereinigte Vision, als wäre sie schon lange von den Flecken des Mythos gereinigt. Kein Komtur mehr – verworfen als Überbleibsel verstaubter Dramaturgie. Was bleibt, ist ein eisiges, geometrisches, raffiniertes Ballett, fast körperlos. Die Tänzer zeichnen zwar elegante Linien, aber ohne tragische Dynamik. Weit entfernt von destruktiver Erotik oder prometheischer Herausforderung geht dieser Don Juan – er verbrennt nicht, er fällt nicht: Er gleitet! Obwohl Glucks Musik umwerfend ist, scheint sie hier verwaist, ohne Orgel, die ihr Raum geben könnte.

 

Ein Abend im Helldunkel: Ekstase und Frustration…

Am Ende dieses paradoxen Diptychons verlässt der Zuschauer das Bild mit brennenden Sinnen… und einer gespannten Seele. Semiramis zündet ihn an, durchbohrt ihn und brandmarkt ihn mit einem heißen Eisen. Don Juan streichelt ihn mit den Fingerspitzen – und verschwindet dann höflich. Dieses Ungleichgewicht ist weit davon entfernt, ein Fehler zu sein, sondern wird vielleicht zur Wahrheit des Abends: Die einer Kunst, die um zu überleben, Schönheit und Fadheit, Fleisch und abgedroschenem Konzept gegenübertreten muss. Zwischen der Wollust der Tragödie und der Wüste des Formalismus liegen die gesamten Bedingungen des kreativen Aktes.

 

Kurz gesagt, eine Nacht mit obsidianfarbenen Reflexionen, in der Glucks Feuer zunächst hoch brennt, bevor es sich in den eisigen Mäandern eines übermäßig polierten Spiegels verliert…

 

(PMP/02/06/2025)

 

Auskünfte für Musikliebhaber und Paris-Reisenden: www.opera-comique.com/fr/billeterie

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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