Paris, Théâtre des Champs-Élysées, DAVID ET JONATHAS - M. A. Charpentier, IOCO

DAVID ET JONATHAS, Paris: Eine verbotene Liebe während des Bürgerkrieges… Charpentier, der vor allem für seine reichhaltige Produktion geistlicher Musik bekannt ist, war jedoch auch .......

Paris, Théâtre des Champs-Élysées, DAVID ET JONATHAS - M. A. Charpentier, IOCO
Théâtre des Champs-Élysées, Paris © wikimedia commons

DAVID ET JONATHAS (1688) von Marc-Antoine Charpentier, Biblische Tragödie in fünf Akten und einem Prolog. Libretto von François de Paule Bretonneau.

von Peter Michael Peters

VON DER RENAISSANCE BIS ZUR AUFKLÄRUNG…

Ah! qu’une douce paix avoit

de charmes!

Ah! falloit il jamais

Nous ravir le plaisir

d’une si douce paix !

 (David et Jonathas / 4. Akt / 2. Szene)

Dieses einzigartige Werk im französischen lyrischen Repertoire David et Jonathas von Marc-Antoine Charpentier (1643-1704) mit einem Libretto von François de Paule Bretonneau (1660-1741) ist keine echte Oper und könnte nach seiner Entstehung schnell wieder verschwunden sein, wie so viele Kompositionen aus dem 17. Jahrhundert. Diese biblische Tragödie ist in dem von den Jesuiten geleiteten Collège Louis-le-Grand uraufgeführt worden. Da es an der königlichen Oper von dem allgewaltigen Super-Intendanten und Komponisten Jean-Baptiste Lully (1632-1687) nicht zugelassen war!

TRAILER / David et Jonathas, Charpentier I Sébastien Daucé, Jean Bellorini youtube Opéra national de Lorraine à Nancy

Vom Mythos zur Polemik…

Von Joachim du Bellay (1522-1560) bis Alphonse de Lamartine (1790-1869), David und Jonathan stehen im Mittelpunkt einer erstaunlichen Anzahl poetischer, dramatischer, politischer oder auch philosophischer Werke und entfalten sich in einem Netz von Formen und Bedeutungen. Wenn der wiederauflebende  Humanismus die Literatur nach griechisch-lateinischen Vorbildern neu begründet, greift er aber auch auf das wiederentdeckte hebräische Erbe zurück. Antike und biblischer Vorbilder vermischen sich: David wird Achilles, Aeneas oder Hector gleichgestellt. Aber ein Held ist selten allein! Achilles nennt Patroklos wie Theseus seinen Pirithoues oder Orestes seinen Pylades. Glücklicherweise feiert das Erste Buch der Könige die Freundschaft zwischen dem ersten Prinzen Israels und dem ersten großen König: David und Jonathan.

Les Tragédies Saintes (1563) des protestantischen Dichter Louis des Masures (1515-1574) sind nicht die ersten, die Davids Geste zeigen, aber sie tun es auf charakteristische Weise. Indem er Stücke im Genre der biblischen Tragödie schreibt: David kämpfend…, David triumphant… und David flüchtend! So erstellt Masures eine Trilogie, die seine Werke in Bezug zu antiken griechischen Vorbildern, aber auch zur Heiligen Schrift stellt, insbesondere in den Choral-Partien. Der Mythos ermöglicht somit eine Synthese zwischen Epos, Tragödie, religiösem Ansatz und entwickelt gleichzeitig eine politische Reflexion. Diese Trilogie kündigt die drei Perspektiven an, denen der Mythos in seinen späteren literarischen Variationen folgen wird.

DAVID UND JONATHAS - Szenenphoto - Jean-Christophe Lanièce (Saul) @ Philippe Delval

Die Modell-Freunde…

In der modernen Gesellschaft verlässt Freundschaft das traditionelle Kriegerfeld und wird zu einer Form der griechischen philia, dem Grundprinzip des Gemeinschafts-Lebens und dem höchsten Streben des Menschen. In dem Gedicht La Henriade (1723), hat François-Marie Arouet genannt Voltaire (1694-1778) geschrieben: „Ô divine amitié! Félicité parfaite / seul mouvement de l’âme, ou l’excès soit permis.“ Die beiden Helden verkörpern die stärkste Form der Freundschaft und werden zum Paradigma, das auf Heldentum und christlichen Werten basiert, wie der treffende Titel von Bruté de Loirelle (1747-1812): L’Héroisme de l’amitié: David et Jonathan (1776).

Mit dieser aristotelischen Vision von philia, die den anderen als ein alter Ego liebt, weil wir durch den anderen wir selbst werden, können wir diesen Satz aus dem 1. Buch Samuel vergleichen: „Als er zu Ende mit Saul gesprochen hatte, heftete sich Jonathans Seele an Davids Seele und Jonathan begann, ihn wie sich selbst zu lieben“. Die Werke, die diesen Mythos aufgreifen, vertiefen diese Mysterien, wie zum Beispiel die Tragödie von Pater Pierre Brumoy (1688-1742) aus dem Jahr 1741, die große Erfolg hatte: Jonathan et David ou le Triomphe de l’amitié. Aber hinter dieser von Ruhm und männlichen Tugenden sehr genährten Freundschafts-philia verbirgt sich eine echte, manchmal zweideutige Komplexität. Wir kommen nicht umhin, uns über die Natur dieser Liebe zu wundern: Die David und Jonathan vereint!

Religiöse Liebe oder weltliche Liebe…? 

„Wenn wir von Liebe zwischen David et Jonathan sprechen können, welche Bedeutung können wir diesem Wort geben? Im klassischen, außer-biblischen und neo-christlichen Griechisch sind die am häufigsten Wörter, um über Liebe zu sprechen: philia und érôs! philia ist Freundschaft, die Liebe zum Austausch und zur Gemeinsamkeit. […] érôs ist in erster Linie das Verlangen der Sinne oder das leidenschaftliche Verlangen, die Liebe als instinktiv-affektive Leidenschaft, die libido! Es ist das Streben nach Genuss durch Besitz! Während philia die Liebe zur Ähnlichkeit ist, ist érôs die Liebe zur endlich erreichten Ergänzung, die das Verlangen neu entfacht und es wieder auf die Szene bringt.“ A.Borrly, J.  M. Cros, P. Murat:  Les Apports du judaïsme, du christianisme et de l‘islam à la pensée occidentale - La personne et l’amour, philia, érôs et Agape (1996). Die griechische Unterscheidung ist zu diesem Thema interessant, denn in den Antworten der Helden wird das philia mit der christlichen Vorstellung von argape, der Liebe zur Entspannung angereichert. Es gibt aber auch viele Beispiele leidenschaftlicher Zuneigungs-Bekundungen. Die Natur ihrer Liebe bleibt daher problematisch und die Behandlung, die jeder Autor ihr gibt: Bestätigt dies!

DAVID UND JONATHAS - Szenenphoto @ Philippe Delval

Tatsächlich begünstigt die Tradition eine außergewöhnliche brennende Liebe, die sich auf wenige Erzähl-Sequenzen konzentriert. Erstens markiert die Begegnung der Beiden nach dem Tod von Goliath ihre Vereinigung. Dann vermutet David, von Saul mit dem Tod bedroht  und doch vergeben, eine Falle: Er bittet Jonathan, den König auf die Probe zu stellen. Der Sohn, der die Gewalt seines Vaters ertragen muss, versteht dass sein Freund in Gefahr ist! Mit dem Erscheinung-Trick des Regenbogens kontaktiert er David, bringt ihm alles bei und die beiden Freunde verlassen sich in Tränen aufgelöst, während sie einander vor Gott ewige Treue schwören.  Jonathan sieht David ein letztes Mal in der Wüste und versichert ihm, dass er König sein wird. Schließlich erfährt David vom Tod des Saul und Jonathan und rezitiert das berühmte Lied vom Regenbogen. In diesen vielen verschiedenen Wieder-Belebungen in den Werken des 17. Und 18. Jahrhundert wird die Leidenschaft auf sehr originelle Weise veranschaulicht.

Somit ist die Offenbarung der Freundschaft ein starker Moment in dem schon oben zitierten Roman L’Héroïsme de l’amitié von Bruté de Loirelle. In einem traditionellen Sinnbild des Romans des 18. Jahrhunderts über Jonathan „Hörte ihm zu, betrachtete ihn mit einer ekstatischen Verzückung und mit einer derartigen Verzauberung, das er sich kaum zurückhalten konnte. Sein Gesicht war entzündet: Tränen der Freude leuchteten in seinen Augen. Sein Herz zitterte, weitete sich und flog dem Herz von David hastig entgegen“. Er erklärt ihm: „Mein lieber David, du bist mein Bruder, aber sei trotzdem mein Freund: Und du wirst das souveräne Glück meines Lebens sein“. Wir finden dieses Lexikon verliebter Entrücktheit auch in der schon zitierten Tragödie von Brumay Jonathan et David ou le Triomphe de l’amitié. Jonathan behauptet: „Ja! Von einem einfachen, im Dunkeln geborenen Thema, / schätzte ich die Liebe und Aufrichtigkeit mehr. / Mögen diese Anbeter, deren lautstarke Prozession / den Stolz der Könige mit sakrilegischem Weihrauch nährt“.

Vor allem das 17. Jahrhundert dramatisiert die Leidenschaft, wie z.B. im Saul (1642) von Pierre Du Ryer (1605-1658). Der Titelheld ist empört darüber, dass Jonathan und Michol den David so stark verteidigen. Wenn er seiner Tochter diese Zuneigung nicht vorwirft, hat er aber sehr harte Worte gegen seinen Sohn: „Also möchte dieser Jonathan, verliebt in den Ruhm  / in andere Waffen als seine eigenen den Sieg verdanken. / Welcher Zauber, welches Gift, welche kalte Mattigkeit / raubt Jonathan sowohl die Kraft als auch das Herz ?“ Besonders ein Werk David et Jonathas von Pater Bretonneau, vertont von Charpentier verdeutlicht das Gewicht des érôs. Im zweiten Akt rast gewissermaßen David zu Jonathan: „In der Nähe von Jonathas , Herr, ruft mich die Liebe.“ Es gibt zahlreiche Duos, in denen ihre Leidenschaft zum Ausdruck kommt. Der Abschied von David ist ein Schlüssel-Moment, denn das Pathos ist auf seinem Höhepunkt, während der biblische Text nüchtern bleibt. Am Ende beklagt David: „Nie war die Liebe treuer und zärtlicher. / Hatte sie ein unglücklicheres Schicksal? / Vor einem grausamen Tod konnte meine Fürsorge sie nicht schützen / Der süßeste Gegenstand meiner Wünsche. / Nur der Himmel hätte so schöne Knoten bilden können: / Leider musste der Himmel ohne mich es zurücknehmen?“ Gekrönt bleibt David seinem Ruhm gegenüber gleichgültig und schließt in zwei Versen: „Ich habe verloren, was ich liebe. / Für mich ist alles verloren!“

Wir sollten jedoch nicht vergessen, dass diese brennende und körperliche Liebe eine andere Natur widerspiegeln kann. David, Vorfahre von Jesus ist die Figur Christi. Der Sohn von Saul, ein reicher junger Mann, dessen Betrachtung über Gott ihn für sein Wort durchlässig macht, gibt sich ganz hin und wendet das Evangelium an: „Gott im Nächsten und den Nächsten in Gott lieben.“ (Louis-Isaac Lemaistre de Sacy /1613-1684). Die Vereinigung der Seelen ist transzendent! Die spektakuläre Dimension des Theaters ermöglicht es, das Geheimnisvolle sichtbar zu machen. Die Verbindung zwischen dem Prinzen und dem bescheidenen Mann stellt eine mystische Verbindung dar, die in der Tradition oft durch fleischliche und sinnliche Bilder dargestellt wird. Denken wir an Estasi di Santa Teresa (1652) von Gianlorenzo Bernini (1598-1680) in Rom. Oder auch David and Jonathan (1642) von Rembrandt Harmensszoon van Rijn (1606-1669). Geht dort die Kraft des göttlichen Geheimnis nicht durch fleischlichen Kontakt weiter?

Die Literatur wird mit der Außergewöhnlichkeit dieser Beziehung konfrontiert! Wenn diese Liebe die Liebe Gottes vorwegnimmt, ist es natürlich dass sie groß und stark ist, aber in einer modernen Kultur, in der die Zweideutigkeit Freiheit des Geistes und der Kritik ermöglicht: Müssen wir jedoch die Ordnung wiederherstellen! Einige möchten dann die kompromittierenden Lesarten vermeiden: „Du warst mir köstlich lieb, / deine Freundschaft war mir wunderbarer / als die Liebe der Frauen“ (2 S, 1,26), indem das Lied, dass die Freundschaft von David und Jonathan krönt und auch radikal betont. Unzählige Diktionäre des 18. Jahrhunderts beziehen sich nicht darauf. Adrien Baillet (1649-1706) in La Vie des Saints (1739) entwickelt Davids Leben sehr detailliert, begnügt sich aber nur schnell und nur sehr flüchtig damit, die Freundschaft mit Jonathan zu beschreiben. Abgesehen von einigen lateinischen Dramen und dem Saul le furieux (1572) von Jean de La Taille de Bondaroy (1540-1608) enden die Tragödien in französischer Sprache mit dem Tod von Jonathan. Schließlich muss der Text angepasst werden: Um ihn verständlich zu machen, müssen Unklarheiten vermieden werden. Antoine Godeau (1605-1672), Bischof von Grasse, präzisiert im Jahr 1639: „Ich habe mein Bestes gegeben, um diesen Herren, die sich nur über Gott lustig machen und einen Witz über das Evangelium zum Zeichen der Stärke und der Güte des Geistes machen wollen, keinen Grund zum Lachen oder zur Lästerung zu geben“. Jean-Jacques Lefranc de Pompignan (1709-1784) verfolgt in seiner Poésies sacrées (1753) einen ähnlichen Ansatz und übersetzt das Ende des Lied folgendermaßen: „O Jonathan! O mein Bruder! / Ich habe dich geliebt wie eine Mutter /geliebt wie eine Mutter ihr einziges Kind.“

Daher betont  die Literatur die Äquivokation, anstatt sie zu reduzieren. Einer der Hauptpunkte des Mythos scheint die Natur der Liebe zu betreffen, die umso problematischer ist, als sie sich in einem zweideutigen politischen Kontext entfaltet.

DAVID UND JONATHAS - Szenenphoto - Jean-Christophe Lanièce (Saul), Hélène Patarot (La Reine des oubliés) @ Philippe Delval

Eine politische Beziehung…

Diese außergewöhnliche Zuneigung entsteht zwischen einem Hirten und einem Prinzen! Die Opposition von König Saul basiert auf einem gerechten politischen Prinzip. Die Vitalität moderner Anpassungen nutzt diesen Weg mehr als jeden anderen. Obwohl Saul oder David die zentrale Figur ist, Jonathan existiert nur in Bezug auf sie! Diese Asymmetrie erhält ihre volle Bedeutung in der politischen Ausrichtung der Geste von David, des Königs von Israel und Vater der heiligen Linie von Salomo bis Jesus Christus.

Saul, erster König von Israel, deckt mit seiner tragischen Aura das breite Spektrum der politischen Frage ab. Seine wütende Kraft markiert eine unsichtbare Grenze zwischen den beiden Freunden. Für La Taille de Bondaroy in Saul le furieux, ist das Königtum die Stütze der Tragödie: David wie auch Saul sind zur Grausamkeit aufgerufen, während Jonathan der reine desinteressierte Held ist. Am Ende des 18. Jahrhunderts zeigt Vittorio Amedeo Alfieri (1749-1803), wie Saul seinen Sohn warnt: „Der Thron ist ein blutiger Sitz, auf dem die Treulosigkeit sitzt.“ Jonathan wäre der Prinz mit reinen Händen, der nicht regieren will. Ist nicht der König, der ohne Gott  über sein Volk regieren wollte, dazu verurteilt der Henker seines Volkes zu sein? Das von den beiden Männern gebildete Duo stellt eine originelle Inkarnation des Verhältnisses zur Macht dar!

Die Macht trennt David und Jonathan in einem solchen Ausmaß, dass der Prinz zu einem Argument im politischen Einsatz des König David wird. Ab dem 16. Jahrhundert basiert die Frage nach der Legitimität königlicher Autorität auf der Lektüre dieser heiligen Texte. Für manche ist der König „das Ion des Herrn“, seine Autorität ist heilig und daher unantastbar! Für andere ist der König nicht unbedingt legitim und sein Feind kann auch ein Verbündeter sein. In einer politischen Reflexion, in der David zum Paradigma des Königs wird, spielt Jonathan die Rolle der moralischen Garantie.

Jacques-Bénigne Bossuet (1627-1704) unterstreicht die Verantwortung der Mächtigen gegenüber dem Volk in seiner Veröffentlichung Politique tirée des propres de l’Écriture Sainte  (posthume 1709), das die Macht des göttlichen Rechts von König Louis XIV. (1638-1715) begründet. Er schlägt David als Vorbild vor und bekräftigt: „Der Charakter der Freundschaft ist in der Menschheit vollkommen und Männer, die alle nur einen Vater haben, müssen sich wie Brüder lieben. Gott bewahre, dass irgendjemand glaubt, dass Könige von diesem Gesetz ausgenommen sind oder dass irgendjemand befürchten sollte, dass es den Respekt der ihnen gebührt: Schmälern wird!“ Von besonderem Interesse ist die biblische Geschichte: Die Freundschaft der Helden ist mit Gottes „politischem“ Projekt verbunden. Prinz David ist berührt von Jonathans Tugenden, aber wir würden eher sagen von seinen Fähigkeiten.

Kann die Garantie der Legitimität des Königs und das Vorbild des Monarchen durch göttliches Recht den sprudelnden Köpfen des 17. Jahrhunderts unschuldig erscheinen? Manche betrachten David als Symbol der Tyrannei. Piere Bayle (1647-1706) eröffnet die Feindseligkeiten in seinen Dictionnaire historique et critique (1696), die von der wallonischen Kirche in Rotterdam für ein Übermaß an „obszönen oder anzüglichen Zitaten“ und drei weiteren fast ketzerischen Artikeln verantwortlich macht, darunter wird die Figur „David“ zu einem ehebrecherischen, brutalen, grausamen und machiavellistischen Barbaren ohne auch nur eine Erwähnung von Jonathan, der ihn zweifellos zu sehr vermenschlicht hätte. Voltaire wiederum beruft sich auf eine englische Broschüre, die von Baron Paul Thiry von Holbach (1723-1789) unter dem Titel David ou l’histoire de l’homme selon le coeur de Dieu (1768). Sauls Sohn erscheint dort als naiver junger Mann und die Freundschaft von David mit Jonathan verbirgt Interesse und Verrat. David endet das Stück mit den folgenden ironischen Worten: Saul wurde also getötet, meine Freunde! Sein Sohn Jonathan auch! Und so bin ich zu Recht König eines kleinen Teils des Landes“. Jonathan taucht in  Voltaires Schriften kaum auf, außer in dem Artikel Amitié in Questions sur l’Encyclopédia (1772). „Es ist nur von Freundschaft unter Juden zwischen Jonathan und David die Rede. Es wird gesagt, dass David ihn mit einer Liebe liebte, die stärker war als die von Frauen: Aber es heißt auch, dass David nach dem Tod seines Freundes, seinen Sohn Miphobozeth entkleiden und auch töten ließ.“ Zusätzliche Anklage gegen denjenigen, der wie der Mohammed in der Tragödie den Fanatismus repräsentiert, gegen den der Philosoph sein Leben lang gekämpft hatte. Jede Epoche vertrat eine bewegende Geschichte, die dem Zeitgeist angepasst war. Der Mythos entstand aus den Schwierigkeiten der protestantischen Reform, durchquerte das 18. Jahrhundert, unterstützte den Jansenismus oder auch die Lehren der Jesuiten in einigen geistlichen Schriften. Es bleibt jedoch diese reine Freundschaft, deren Brillanz keine Zweideutigkeit vermeidet, aber der Jonathan von Brumoy selbst sagt „Verdienst ist in ihren Augen ist immer kriminell, / Unschuld hat nichts, was ihre Galle vergiftet“.

DAVID ET JONATHAS - Szenenphoto - Lucile Richardot (La Pythonisse) @ Philippe Delval

DAVID ET JONATHAS - Aufführung - Théâtre des Champs-Elysées Paris - 19. März 2024:

Eine verbotene Liebe während des Bürgerkrieges…

Charpentier, der vor allem für seine reichhaltige Produktion geistlicher Musik bekannt ist, war jedoch auch ein Autor eines bedeutenden Werks für das Theater: Bühnenmusiken für Theaterstücke insbesondere von Jean-Baptiste Poquelin genannt Molière (1622-1673) oder den beiden Corneilles, Pierre Corneille (1606-1684) und Thomas Corneille (1625-1709), aber auch diverse Pastoralen, Komödien und Tragödien in Musik. Wir denken natürlich an Médée (1693), die 1976 von Jean-Claude Malgoire (1940-2018), Michel Corboz (1934-2021) und dann auch von William Christie (*1944) in der legendären Inszenierung von Jean-Marie Villégier (1937-2024) wieder ans Licht gebracht wurde. Médée wird im kommenden April auch endlich an der Opéra National de ParisPalais Garnier aufgeführt. David et Jonathas warteten bis 1981, um an der Opéra National de Lyon unter der Regie von Jean-Louis Martinoty (1946-2016) und der musikalischen Leitung von Corboz wieder auf die Bühne zurückzukehren.

 

Die Premiere von David et Jonathas von Charpentier heute Abend im Théâtre des Champs-Elysées wirkt wie ein lyrisches Ereignis, zu dem viele Musikliebhaber gekommen sind. David et Jonathas, ein einzigartiges Werk seiner Art, entstand im Zusammenhang mit einer Tragödie Saül et David et Jonathas (1688) von Père Jean-François Chamillart (1657-1714), von der wir leider keine Spur mehr haben. Die erzählerische Handlung wurde durch das Theaterstück erzählt, während Charpentiers Oper der Erforschung der psychologischen Affekte der Figuren gewidmet war. Ausgehend von dieser erzählerischen Grundlage lädt das Werk somit eher zum Nachdenken über die verschiedenen Melodien und Refrains ein als zum strikten Verfolgen der Geschichte, deren gesamte emotionale Resonanz sie mit sich bringt. Somit ist David et Jonathas offenbaren ein Wunder an Raffinesse im Schreibstil, der die Affekte in ihrer ganzen Tiefe erforscht und allen Stimm- und Instrumental-Bereichen schmeichelt, sogar die Passagen der Chöre, die kleine Juwelen in der Partition sind. Das ist es, was dem französische Dirigent Sébastien Daucé an seiner Arbeit interessierte, sich mit Opern zu beschäftigen, die seiner Meinung nach keine Opern sind oder noch nicht ganz: Wie z. B. die Histoires Sacrées (1680) von Charpentier oder Cupid and death (1653) von Matthew Locke (1621-1677).

 

Da die ursprüngliche theatrale Unterstützung nicht mehr zugänglich ist, bietet der französische Regisseur Jean Bellorini eine neue Erzählung, indem er das Werk in unsere Zeit versetzt und der Geschichte  einen Meta-Text um die Figuren der „von der Geschichte Vergessenen“ hinzufügt. Alle die die auf dem Altar der Wünsche geopfert wurden für die Eroberungen und des individuellen Ruhms der Mächtigen: Wie zum Beispiel David! Das Ergebnis ist die Inszenierung einer in Kostümen und Masken gekleideten Menschheit, die zwischen dem Universum der Kindheit und dem Düsteren Vergessen geteilt wird wie z. B. die Masken mit deformierten Gesichtern, Plastiktüten  auf  dem Kopf usw., was zweifellos den miserablen Zustand dieser Fremden widerspiegeln soll. Saul selbst, der zu Beginn des Werks in einem Krankenzimmer erscheint, wird währen des gesamten Werks von La Reine des oubliés begleitet, eine zusätzlich vom Regisseur eingefügte Figur, dargestellt von der französischen Schauspielerin Hélène Patarot, deren von Lautsprechern verstärkte Worte an ihn erinnern werden. Übrigens die Rekonstruktion des verlorenen Librettos wurde von dem französischen Dramaturgen Wielfried N’Sondé wiederhergestellt. Dieses Thema zieht sich durch das gesamte Werk bis zu den letzten Momenten, in denen sich mit dem gekrönten David das zentrale Plateau erhebt und Statuen freigibt, die von den Terrakotta-Soldaten aus Xi’An in China inspiriert sind und deren Gesichter wie ein großes Massengrab auf Video projiziert werden.

 

Der Eindruck ist gemischt! Diese Inszenierung bietet einen redaktionellen Blickwinkel, der den von Charpentier perfekt ergänzt: Die abschließende Krönung Davids mit schwungvoller Musik und einer Figur, die über das Verschwinden von Jonathas traurig bleibt, erinnert an die Eitelkeit seines Ruhms  auf Kosten des Todes vieler Unbekannter mit einem unübersehbaren relevanten Echo auf globale geopolitische Nachrichten. Ebenso begleitet und verstärkt ist die subtile Beherrschung der Lichter, das Spiel mit Netzen und Rauch, die Wirkung der Charaktere und die wichtigsten Momente der Handlung: Auch das Spiel mit den Elementen von La Pythonisse! Wir werden jedoch einige Zweifel an einem Dialog zwischen den beiden Erzählungen äußern, der in zwei zunächst getrennten Phasen verkörpert ist und das zeitgenössische Universum, in dem Saul und La Reine des oubliés wohnen. Und das phantasmagorische Universum der Handlung des Werks, das manchmal künstlich ist in Resonanzen und auch dazu bei trägt, dass die Handlung nicht mehr klar, wenn nicht sogar noch verwirrter wird. In diesem Sinne entwickelt sich das Werk und die Inszenierung manchmal parallel: Trotz allem aber mit einer endgültigen Verbindung von großer Relevanz!

 

Auch wenn die Inszenierung einen gemischten Eindruck hinterlässt, sind die Gesangs-Darbietungen und das Ensemble Correspondances von Daucé einfach hervorragend. Unter den Solisten ist der tschechische Tenor Petr Nekoranec ein David mit einem brillanten Ton, der sich über den gesamten Tonumfang hinweg wohl fühlt und sowohl das forte des Mutes als auch die herzzerreißenden piani des Kummers mühelos findet. Wir schätzen die große Aufrichtigkeit dieser Stimme mit tadelloser Diktion, die leicht über die Bühne hinausragt und eher einem Spiel als einer Anstrengung gleicht. In der französischen Sopranistin Gwendoline Blondeel findet er einen passenden Jonathas mit jugendlichen Timbre und straffem Vibrato, die in hohen Tönen immer rund und seidig trällert und mit großer Beweglichkeit in ihrer Stimme. Leider haben wir nicht die Wahl einer Sopran-Stimme für diese Rolle verstanden, das gilt auch vom körperlichen: eben gesungen und interpretiert von einer Frau. Natürlich sind die Hosenrollen im Opern-Repertoire nicht neu und das besonders bei Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791). Aber hier in diesem speziellen Fall sollte es unserer Meinung ein „wirklicher“ Mann sein. Warum nicht ein Counter-Tenor? Denn in der hier gezeigten Interpretation wird die so sehr wichtige unterschwellige homo-erotische Atmosphäre völlig verschwiegen und vergessen. Wir sollten bedenken, dass diese pikante Geschichte seit vielen Jahrtausenden heiße und sehr heftige Diskussionen unter den Intellektuellen entfachte. Aber natürlich auch von der katholischen Kirche mit schönen Worten umgangen wurde oder ganz einfach verschwiegen wurde. Der Regisseur hatte viel Mut gezeigt, indem er die ewigen Kriege und Verwüstungen unserer Menschheits-Geschichte sehr stark auf der Bühne präsentiert. Wir gratulieren ihm dafür, aber aus welchem Grunde hat er die wohl größte Liebes-Geschichte aller Zeiten von David et  Jonathas von der Bühne verdrängt? Unserer Meinung fehlt es in dieser Inszenierung an dieser doppelseitigen Ambiance!

Um das Bild zu vervollständigen, verkörpert der französische Bariton Jean-Christophe Lanièce einen ambivalenten Saul im Ausdruck, sowohl auch eine Autoritätsperson als auch einen geschwächten vom Tode gezeichneten Mann, dessen theatralische Darbietung mit müden Gesten ein Echo in einer ebenso reichen, aber leicht zurückhaltenden Stimme findet. Der Bariton kultiviert einen seidigen Mittel-Tonbereich, nie wirklich aggressiv, aber immer sehr ausdrucksstark. Die Projektion ist ausreichend und der legato-Fluss der Stimme ist spürbar. La Pythonisse interpretiert von der französischen Altistin Lucile Richardot ist im Gegenteil eine auf die Spitze getriebene Welle von Leidenschaften, die sich an die metaphysischen Elemente und Kräfte wendet, von denen die Altistin  mit ihrem charakteristischen Timbre zu unserem größten Vergnügen spielt. Der französische Bariton Étienne Bazolas interpretiert  den Joabel mit dem richtigen Maß an Scham und kriegerischem Geist für die Rolle des Philister-General, die er verkörpert mit einem gut gebauten Medium und einer bemerkenswerten Bühnenpräsenz. Der Mittelbass hat manchmal Schwierigkeiten sich über dem Orchester-Graben durchzusetzen, was dazu führt, dass der Charakter ein wenig an Autorität verliert.

Wir müssen den Chor des Ensemble Correspondances würdigen, der in diesem Werk eine wichtige Rolle spielt. Homogenität und Sensibilität vereinen die Momente des Ganzen und wir werden mehrmals zittern, bis „Jamais amour plus fidèle et plus tendre / Eut-il un sort plus malheureux?“ des V. Akts, dem ein Trompeten-Gesang vorangeht: „Du plus grand des héros, chantons, chantons la gloire“, dessen Freude Davids Einsamkeit noch tragischer macht. Auch die Instrumentalisten des Ensembles kommen nicht zu kurz. Unter der aufmerksamen Leitung von Daucé verkörpern die Musiker die Partitur mit einer entzückenden Lebendigkeit und einer Präzision in der Ausführung, die nichts dem Zufall überlässt und sie auch offensichtlich viel Freude an der Interpretation dieser Partitur haben.

Ein hochgelobtes Ensemble mit viel Enthusiasmus umjubelt und ein von einem bedeutenden Teil des Publikums ausgebuhter Regisseur, was unserer Meinung völlig ungerecht ist, schließen diese Pariser Aufführung ab. (PMP/24.03.2024)

Für Anfragen, Auskünfte und Kartenkauf: www.theatrechampselysees.fr