Paris, Théâtre des Champs-Élysées, LA DAMNATION DE FAUST - H. Berlioz, IOCO

Paris, Théâtre des Champs-Élysées, LA DAMNATION DE FAUST - H. Berlioz, IOCO
Théâtre des Champs-Elysées Paris © Wiki commons

06.10.2025

ZWISCHEN TRAUM UND ALBTRAUM…

D’amour l’ardente flamme
Consume mes beaux jours.

Ah! la paix de mon âme
A donc fui pour toujaurs !

(Romanze der Marguerite, 4. Akt, Szene XI (Ausschnitt)

Oper oder Oratorium …?

Als Hector Berlioz (1803-1869) im November 1821 aus seiner Heimat, der Dauphiné nach Paris kam, stürzte er sich auf die Oper und entdeckte Antonio Salieri (1750-1825) und vor allem Willibald von Gluck (1714-1787), dessen Iphigénie en Tauride (1779) ihn zu der Überzeugung brachte, dass er Musiker werden müsse. Im Theater erlebte er seine große Offenbarungen: Der Freischütz (1821) von Carl Maria von Weber (1786-1826) – in einer französischen Fassung mit dem Titel Robin des bois (1824) 1824 im Théâtre de l’Odeon [sic] -, eine Tragödie von William Shakespeare (1564-1616) im Jahr 1827, ebenfalls im Odeon, außerdem die Sinfonien von Ludwig van Beethoven (1770-1827), die dem Pariser Publikum ab 1824 im Konzertsaal des Konservatoriums Ohren kamen. 1828 war auch das Jahr, in dem Berlioz die Tragödie Faust (1774) von Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) für sich entdeckte, in der noch druckfrischen Übersetzung von Gérard de Nerval (1808-1855). Das Werk hinterließ bei Berlioz einen „seltsamen und tiefen Eindruck“. In seinen Memoiren erzählt er: „Das wunderbare Buch faszinierte mich auf den ersten Blick, ich legte es nicht mehr aus der Hand und las es ohne Unterbrechung, bei Tisch, im Theater, auf der Straße, überall“. Und er fügte hinzu: „Diese Übersetzung in Prosaform enthielt einige Fragmente in Versform, Lieder, Hymnen etc. Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, sie zu vertonen“. Auf diese Weise entstanden die Huit Scènes de Faust, Op. 1. H33 (1829), die wie Goethes Epos in einem Fantasietheater ihren Ursprung hatten. Dieses Werk ist nicht für die Bühne bestimmt, sondern dient der Erfüllung der Leidenschaften des Komponisten, der Marguerite oder Méphistophélès singen lässt, aber jene Person nicht berücksichtigt, die dem Werk seinen Titel gab. Die Huit Scènes de Faust wurden zu Berlioz‘ Lebzeiten in ihrer Gesamtheit nie aufgeführt. Noch heute sind sie selten im Konzert zu erleben, was damit zusammenhängt, dass sie so bunt zusammengewürfelt sind und eine umfangreiche Orchesterbesetzung erfordern.

Berlioz hatte sich bereits mit dem Schäferspiel Estelle et Némorin (1823) - dessen Partitur heute verloren ist – und mit der unvollendeten Oper Les Francs-Juges,Op.3 (1826) - von der nur die Ouvertüre und einige Fragmente geblieben sind – an der Form der Oper gerieben. Die Huit Scènes de Faust stehen am Anfang einer Reihe von Werken, bei denen eine neue Form zur Anwendung kam. Der Faust-Stoff blieb für ihn unerschöpflich: Er versuchte die Pariser Oper davon zu überzeugen, ein von Goethes Tragödie Faust inspiriertes Ballett bei ihm in Auftrag zu geben, doch das Projekt kam nicht zustande. Dann berichtete er seinem Freund Jean Jacques Humbert Ferrand (1895-1868) am 2. Februar 1829, dass er seit langer Zeit eine „Symphonie descriptive de Faust in seinem Kopf habe, die in ihm „gäre“. Daraus wurde die Symphonie fantastique, Op. 14, H 48 (1830) die am 5. Dezember des folgenden Jahres uraufgeführt wurde – eine Komposition ohne Text, aber reich an literarischen Reminiszenzen des Komponisten: Faust ist im letzten Satz durch die Überschrift „Song d’une nuit de sabbat„ präsent, was der Übersetzung entspricht, die Nerval für GoethesWalpurgisnachttraum“ wählte.

Benjamin Bernheim (Faust) © Vincent Pontet

Erstaunlicherweise dachte Berlioz zu dieser Zeit noch nicht daran, eine Oper zu komponieren, die von dem Faust-Stoff inspiriert sein sollte, vielleicht weil Goethes Opus selbst ihm nicht den Konventionen und Bedingungen der Bühne zu entsprechen schien. Die Gattung der Oper brachte Berlioz darüber hinaus nicht den erwarteten öffentlichen Erfolg ein: Trotzt ihres dramatischen Schwungs, ihrer gelungenen Mischung von Genres und ihres musikalischen Reichtums verschwand seine Oper Benvenuto Cellini (1838) sehr schnell wieder vom Spielplan der Pariser Oper. Berlioz stürzte sich darauf in die Arbeit an einem neuen Werk, Roméo et Juliette (1839) , das er „Symphonie dramatique“ nannte und bei dem unterschiedliche Genres vermischt wurden, darunter Sinfonie, Lied, Kantate und Oper: So entstand wieder eine neue Form! Doch Berlioz wurde trotz der positiven Resonanz auf seinen Roméo et Juliette bewusst, dass es für ihn in Paris keinen dauerhaften Erfolg gab, und so ging er ab 1842 auf Wanderschaft und sollte es für ein Vierteljahrhundert bleiben.

Ein Komponist auf Wanderschaft…

Im Jahr 1845 reiste Berlioz quer Deutschland und Mitteleuropa, ein Komponist ohne Publikum, der nur in den Städten, in denen er auf seinen langen Konzerttourneen als Dirigent auftrat, Zuspruch erhielt. Unterwegs kehrte er zurück zu den Leidenschaften seiner Jugend. Insbesondere erinnerte er sich daran, dass er 1828 die Huit Scènes de Faust komponiert hatte, die als Gesamtheit keine festgelegte Form , aber jeweils das Profil unterschiedlicher lyrischer und dramatischer Szenen hatten. Berlioz verspürte das Bedürfnis, sich ihnen erneut zu widmen und sie in einem neuen Werk aufgehen zu lassen: So entstand wieder ein neuer Werktypus, der ihnen eine ganz andere Bedeutung verlieh und gleichzeitig Konzert und Musiktheater in sich vereinen sollte. Auf diese Weise entwickelte sich La Damnation de Faust (1846), Berlioz bezeichnete das Werk als „Konzertoper“ und später als „dramatische Legende“.

Wie bei den meisten Werken von Berlioz handelt es sich um einen Prototyp. „Ich komponierte mein Werk mit einer Leichtigkeit, die ich sehr selten bei meinen anderen Werken empfunden habe“, berichtete der Komponist in seinen Memoiren. „Ich arbeitete daran, wann und wo immer ich konnte, in der Kutsche, in der Eisenbahn, auf den Dampfschiffen und sogar in den Städten, trotz der vielfältigen Verpflichtungen, zu denen die Konzerte, die ich dort gab, mich nötigten“. Durch die Bedingungen ihrer Entstehung und ihren eigenen Aufbau als Werk, das auf seinen Reisen entstand, ist La Damnation de Faust auch ein Fantasiestück und entfaltet verschiedene Vorstellungsebenen in schnellem Wechsel. Dieses Werk ist gleichzeitig ein musikalischen Drama und der Traum von einem idealen Theater. Es ist größer angelegt als die Huit Scènes de Faust, wie bereits erwähnt und weniger lückenhaft, aber das neue Werk lässt sich in keine konventionelle Form pressen, auch wenn später ein russischer Kritiker und Zeitgenosse von Berlioz , Wladimir Stassow (1824-1906), von „seiner Sinfonie La Damnation de Faust und in einem Brief an den Komponisten vom 24. November 1862 vom „Scherzo von Faust sprach.

Benjamin Bernheim (Faust) © Vincent Pontet

Der englische Musikwissenschaftler Hugh MacDonald (*1940) schrieb dazu: „Die Änderung der Szenerie, insbesondere im zweiten Teil, in dem die Handlung von Fausts Studierzimmer zu Auerbachs Keller in Leipzig wechselt , von dort an das Ufer der Elbe und schließlich zu einer Straßenszene, vollziehen sich eher wie ein Traum als konkret auf der Bühne. Der Einschub von Méphistophélès‘ Irrlichter im dritten Teil sorgt für ein fantastisches Entertainment-Element mitten in einer opernhaften Liebesszene. Die Darstellung von Himmel und Hölle am Ende des Stücks übersteigt die Möglichkeiten der Bühne und erfordert ein komplexeres Medium“. Bereits bei den Huit Scènes de Faust und der Symphonie fantastique erkannte Berlioz, dass der Traum das erste und einzige mögliche Fortbewegungsmittel ist. Fünfzehn Jahre später erfuhr diese Erkenntnis bei La Damnation de Faust noch eine Steigerung. Als Metapher für ein Anderswo erzählt La Damnation de Faust von der fieberhaften Suche nach einer ewigen Mobilität und von dem Streben nach dem unerreichbaren Absoluten: Im Bereich des Wissens, in der Liebe und im Einswerden mit dem Universum.

Christian Van Horn (Méphistophélès), Benjamin Bernheim (Faust) und Chor © Vincent Pontet

Von Schlössern und Ruinen…

Von den etwa zwanzig Szenen, aus denen sich das Werk zusammensetzt, spielt jede – oder fast jede – an einem anderen Schauplatz. Das schmerzliche Unerfüllt sein, das von dem Werk ausgeht, rührt von dieser extremen Unruhe her. Es gibt keinerlei räumliche Konstante, der verschlungene Ablauf des Werks spielt der Flucht nach vorn bis zum kopflosen Ritt zum Abgrund und begleitet den Komponisten selbst in seiner uneingeschränkten Inspiration. Wie der französische Schriftsteller Théophile Gautier (1811-1872) unterstrich, lehnte Berlioz die „feigen Zugeständnisse an die Philister“ ab, denen andere wahrscheinlich nachgegeben hätten.

Die Symphonie fantastique, entstanden in der ersten Begeisterung über die Entdeckung von Goethes Werk, steht ganz bewusst unter dem Zeichen von Ernst Theodor Amadeus Hoffmanns (1776-1822). Dreizehn Jahre später, im Kontext seiner ersten Deutschland-Tournee, wurde Berlioz mit Verzücken und Sehnsucht wieder von dem Fieber dieser literarischen Begegnung ergriffen: „Die Reise auf dem Rhein ist übrigens eine wunderbare Sache und alle diese Schlösser , diese Ruinen, diese finsteren Berge haben mich am hellerlichten Tag träumen lassen, eingelullt von der der Erinnerung an die Gedichte Goethes und die Erzählungen Hoffmanns? schrieb er seiner Schwester Nanci am 23. Oktober 1842. 1845 war seine Fantasie bereit: Die Zeit für Faust war gekommen! Auch die Erinnerung an Weber, an Shakespeare und an Beethoven tauchte wieder auf. Aber Berlioz beabsichtige nicht, scheinheilig Goethes Faust zu illustrieren: Mit allen Mitteln, die ihm zu Gebote standen, wollte er seinen eigenen Faust erfinden, denn dieses Werk entsprach seinen innersten Fragen, wie er in der Vorbemerkung zu seinem Werk erläuterte: „Bereits der Titel dieses Werks weist darauf hin , dass es nicht auf dem Grundgedanken von Goethes Faust basiert, denn in dem illustren Epos wird Faust gerettet. Der Verfasser von La Damnation de Faust hat bei Goethe nur eine gewisse Anzahl an Szenen entliehen, die in den Entwurf passten, den er angelegt hatte, Szenen, die unwiderstehlich für seinen Geist waren. Aber wäre er den Gedanken Goethes treu geblieben, hätte er sich gleichwohl dem Vorwurf aussetzen müssen, den ihm mehrere Personen bereits gemacht haben – einige davon mit einer gewissen Bitterkeit -, ein Denkmal verstümmelt zu haben“. Und er fuhr fort: Die Legende des Doktor Faust kann auf unterschiedlichste Weise behandelt werden, sie ist öffentliches Eigentum, sie ist bereits vor Goethe verarbeitet worden, sie zirkulierte seit langer Zeit unter diversen Formen in der literarischen Welt Nordeuropas, als er sich dieses Stoffs annahm, Christopher Marlowes (1564-1593) The Tragical History of Doctor Faustus (1589) genoss in England sogar eine Art Berühmtheit, einen echten Ruhm , der Goethe hat verblassen und verschwinden lassen“. Wo Charles Gounod (1818-1893) später einen Stoff behandeln sollte, sprach Berlioz von sich selbst!

Victoria Karkacheva (Marguerite) und Benjamin Bernheim (Faust) © Vincent Pontet

La Damnation de Faust steht von den Umständen ihrer Komposition, der Flexibilität ihrer Struktur und der Schreibweise in Arabesken her Hoffmanns nahe. Sie ist weniger von einem diskursiven Geist als von der Fantasie des Reisenden geprägt. Kapriziös und unvorhersehbar ist ihre Architektur von sehr sinnlichem, nervösem und leidenschaftlichem Ausdruck, selbst in ihren sanftesten Momenten, mit einer Lust an der Eroberung, von der nur die Sehnsucht bleibt. Sie steht Hoffmann auch durch die Abfolge der Szenen nahe, eine Vielzahl von Fragmenten, Stücken, die Berlioz zu der Erkenntnis brachten: „Ich habe nicht nach Ideen gesucht, ich ließ sie kommen und sie tauchten in völlig unvorherbarer Reihenfolge auf. Als schließlich der gesamte Entwurf des Werks angelegt war, begann ich alles zu überarbeiten, zahlreiche Abschnitte zu polieren, sie zu verbinden, sie mit aller Hartnäckigkeit und aller Leidenschaft, derer ich fähig bin, zusammenzuschmelzen und die Instrumentierung abzuschließen, die nur hier und da angegeben war“. Hoffmann wandte sich zu Beginn seiner Fantasiestücke in Callots Manier (1814/15) an Jacques Callot (1592-1635): „Schaue ich deine überreichen aus den heterogensten Elementen geschaffenen Compositionen lange an, so beleben sich die tausend und abertausend Figuren und jede schreitet, oft aus dem tiefsten Hintergrund, wo es erst schwer hielt sie nur zu entdecken, kräftig und in den natürlichsten Farben glänzend hervor“. Ebenso wie Berlioz Harold en Italie, Op. 16, H 68 (1834) nach Italien gebracht hatte, ohne dabei mit Georg Gorden Noël Byron (1788-1824) übereinzustimmen, nahm er sich auch die Freiheit, Faust nach Ungarn reisen zu lassen. Und ebenso reichten ihm einige Sekunden am Ende , um eine dieses Mal vertikale Verlagerung durchzuführen, von der Hölle auf die Erde und dann in den Himmel.

Kontraktion, Ausdehnung, Teleskopaufnahmen: Diese große Manipulation von Zeit und Raum – die Gleichzeitigkeit aller Reisen, die großen Effekte der Beschleunigung und Verlangsamung beim Ritt zum unendlichen Abgrund – erlebt ihren Höhepunkt im dritten Teil, wo die Musik die reale Handlung durcheinanderbringt, indem sie Episoden aufeinander folgen lässt, die sich in Wirklichkeit gleichzeitig abspielen. So singt Marguerite ihre „Ballade du roi de Thulé“ in dem Moment, in dem Méphistophélès im Garten die Irrlichter tanzen lässt. Ebenso singt Letzterer seine Serenade, während Faust sich in Marguerites Zimmer befindet und dem jungen Mädchen seine Liebe offenbart, nachdem er sich „hinter diesen Seidenvorhängen“ versteckt hatte – Erinnerung an Polonius in Shakespeares Tragödie Hamlet (1623)? -, und mit ihr das Duett „Ange adore“ singt, das bald zum Trio wird.

Victoria Karkacheva (Marguerite) und Benjamin Bernheim (Faust) © Vincent Pontet

Die verschwundenen Trugbilder…

Um den Aufbau seines Werks klarer zu gestalten, entschied sich Berlioz, die verschiedenen Szenen in vier Teilen zusammenzufassen. Diese einzelnen Teile repräsentieren weniger Akte im konventionellen Sinne der Theatertradition als vielmehr neue Phasen in der verhängnisvollen Verirrung Fausts, als ob jedes Mal alles von vorne anfinge. Die drei ersten Teile beginnen jeweils mit einem nachdenklichen Monolog des Helden, der vierte Teil beginnt unmittelbar, nachdem die Romanze mit Marguerite beendet ist und führt uns erneut einen verzweifelten Faust vor Augen, unendlich einsam, zerfressen von Langeweile. Der britische Berlioz-Spezialist David Cairns (*1926) erläutert die Szene so: „das absteigende Motiv aus drei Noten – cis, h, a in der Tonart fis Moll – […] den Anfang des ersten Monologs von Faust „Le vieil hiver“ mit dem Monolog des letzten Teils „Nature immense“ verbindet“. Es gibt auch eine Verbindung zwischen diesem Motiv und dem Motiv zu Beginn des dritten Monologs „Merci, doux crepuscule“. Méphistophélès interveniert bei Faust jedes Mal, wenn dieser kurz davor ist, dem Glück nahezukommen – der Religion im zweiten Teil, dem Liebesglück im dritten Teil – oder dem Trost durch die Betrachtung der Natur – im vierten Teil.

Diese zyklische Rückkehr zur größtmöglichen Enttäuschung ist das Grandmotiv des Werks. Der französische Schriftsteller Marcel Schneider (1913-2009) bringt diese Verzweiflung, die aus dem Sinnverlust und dem Kreislauf resultiert zum Ausdruck , indem er La Damnation de Faust als eine „Art höllischen Reigen“ beschreibt, „den Berlioz um Goethes Epos herum inszeniert“. Und die Rückkehr Fausts zur Natur im vierten Teil steht nur noch für den Wunsch nach Auslöschung und Auflösung: Die Stunde des Glaubens ist vorüber, auch die der Herausforderungen, denn Gott glänzt nur durch seine Abwesenheit.

Méphistophélès, der ebenso wenig Luzifer ist wie Faust der Prometheus, muss nichts anderes tun als seine Geisel zu schnappen – jeglicher Widerstand wurde aufgegeben -, um der Illusion durch die Ironie ein Ende zu setzen, die einzige mögliche Antwort auf das Fehlen des Absoluten. Nun kann der Ritt beginnen, bei dem die Bauern und die Vögel aus dem ersten Teil im dunklen Licht des Albtraums wieder auftauchen – in der Tat wohnt Berlioz‘ Werk als Ganzem etwas von der Düsterkeit des Gemäldes Der Nachtmahr (1781) von Johann Heinrich Füssli (1741-1825) inne.

Christian Van Horn (Méphistophélès) und Chor © Vincent Pontet

Faust wird am Ende des Werks den Flammen überliefert, doch das Feuer ist während der ganzen La Damnation de Faust gegenwärtig. Bereits im zweiten Teil – allerdings müsste man auch von den „mille feux éclatants“ oder von dem „feu dans leurs yeux“ im ersten Teil sprechen -, lässt die Szene in Auerbachs Keller mit der Lobpreisung des „brennenden Punsches“ die heitere Stimmung der Tavernen aufleben, wo „der Punsch der Freundschaft“ als Zaubertrank und gleichzeitig als Offenbarung diente.

Aber ebenso wie „la nuit sans étoiles“ sich Faust entzog, lehnt er dieses Mal die fiebrigen Trugbilder des Alkohols ab und bleibt dabei, sich in seinen Verzicht zu versenken: Es sind die „plantes et - les -eaux“ – I. Szene – die „suaves accords – qui – rafraîchissent – son – sein“ - IV. Szene -, die „bords de l’Elbe avec lacs, flots et ruisseaux – VII. Szene – les torrents – XVI. Szene – qui constituent son bain le plus familier et, plus idéalement, les grandes espaces et l’air pur“. Die Streichinstrumente transportieren die Träume von der Geborgenheit und die Welle der Gefühle, von der Faust ergriffen wird, darauf antworten die scharfen Blechblasinstrumente, die bei jedem Auftauchen von Méphistophélès ins Ohr dringen, oder auch die Posaunen, die sein heimtückisches Wiegenlied „Voici des roses“ begleiten. Nicht zu vergessen die schneidenden Ausrufe „Ha!“ und „Hopp!“, mit denen beim Ritt zum Abgrund die Visionen des Teufels in Erscheinung treten. Der französische Philosoph Gaston Bachelard (1884-1962) analysierte das folgendermaßen: „Insbesondere bleiben Wasser und Feuer Feinde bis zu Fausts Traum und derjenige, der dem Bach lauscht, kann kaum denjenigen verstehen, der die Flammen singen hört: Sie sprechen nicht die gleiche Sprache“. Auch Marguerite ist mit eigenem Instrumenten ausgestattet – Bratsche und Englischhorn, zärtlich und warm, ihrem Mezzo-Sopran entsprechend – und singt ihrerseits von „L’ardent flamme“ der Liebe. Am Ende wird in ihrer Apotheose die Change zu einer ultimativen Erleuchtung genutzt, bei der das Feuer in Licht umgewandelt wird, eine Reminiszenz an Philipp Friedrich Leopold von Hardenberg, genannt Novalis (1772-1801) und die Rheinromantik als Echo auf die unbekannte Sprache des Pandämonium, die nach Ansicht des amerikanischen Historikers Jacques Martin Barzun (1907-2012) wiederum einer anderen Tradition der Illuminationsphilosophie entstammt, nämlich jener des schwedischen Theosophen Emanuel Swedenborg (1688-1772).

Christian Van Horn (Méphistophélès), Chor und Orchester © Vincent Pontet

Das Licht der Nacht…

Man stellt immer wieder fest, mit welcher Freude Berlioz neue Formen gestaltet und wie präsent diese Freude in seinem gleichzeitig lyrischen und aufbrausenden Orchester ist – man muss sich nur das Pizzicato von Méphistophélès‘ Serenade anhören oder die entsetzenerregenden Erscheinungen, die den Ritt zum Abgrund begleiten -, alles wirkt sehr ausgefeilt – der Dialog zwischen den Holzbläsern und den Harfen im Tanz der Sylphen könnte nicht feinsinniger sein, ein Wunder der Anmut. – Berlioz‘ Werk zeugt auch von einer großen melodischen Erfindungsgabe, aber der melodische Reichtum ist ein Charakteristikum, das man in allen seinen Werken findet. Das „Lied der Ratte“ und das „Lied des Flohs“ sind ebenfalls sehr eindringlich, unterstützt durch eine stehende und unruhige Instrumentierung. Fausts Arie im dritten Teil wird von einem großen Atem getragen, der aufsteigt und sich dann in einer seltsamen, gewundenen Phrase der Streicher auflöst. Diese Phrase steht für die Leidenschaft, die den Helden treibt, das Zimmer von Marguerite zu beobachten. In der Szene am Ufer der Elbe steuert die Begleitung der Posaunen und Hörner in diesem der Verzauberung eine düstere Farbe bei. Die „Ballade des Königs von Thule“ mit einer Einleitung der Holzbläser von unendlicher Zartheit, auf die ein verlorenes Rezitativ folgt, ist ein „Wiegenlied“, das eher verstörend als beruhigend wirkt, es ist genauso mehrdeutig wie Méphistophélès‘ „Wiegenlied“. Marguerite singt die Ballade, „während sie sich entkleidet“, kann man der Regieanweisung der Huit scènes de Faust entnehmen, „während sie ihr Haar flicht“, heißt es in La Damnation de Faust. Ein nächtliches Licht wird freigesetzt, als ob die Musik aus einer anderen Welt käme. Die inständige Liebkosung des Bratschensolos, der Trost, der von der Klangfarbe des Horns ausgeht, die ernsten Streicher, die Unruhe einbringen – Berlioz hat bei dieser Passage die Violinen weggelassen – alles trägt dazu bei, dass der Stoff nicht greifbar wird. Marguerite trällert gleichgültig, ohne sich Gedanken über die Worte zu machen. Dabei herrscht in dieser Musik ein faszinierendes Unbehagen, eine Beklemmung, die gleichzeitig Marguerite verzaubert, die singt und den Zuhörer, der Zeuge dieser reizenden Halluzination wird. La Damnation de Faust wohnen Traum und Albtraum zugleich inne.

Man darf auch die Rolle der Instrumentalstücke nicht vergessen – das „Menuett der Irrlichter“ mit seinen zahlreichen Wiederholungen ist von einer herrlich hinkenden Eleganz – und auch nicht die Schönheit der Rezitative bei Berlioz, zum Beispiel jenes Rezitativs , das den zweiten Teil eröffnet, mit Streichern und Holzbläsern, die für das Verstreichen der Zeit stehen, mit dem bitteren Akkord auf den Worten „Viens, viens, noble cristal“. Die Rezitative verleihen dem Werk , dessen Qualitäten auch in der Vielfalt – der musikalischen Formen und Stimmungen – und der Kürze bestehen, eine enorme Spannung. La Damnation de Faust ist gewissermaßen ein reifes Werk – chronologisch liegt es genau zwischen Benvenuto Cellini und Les Troyens (1890) und zeugt von einem Komponisten, der seine Kunst mit einer souveränen Freiheit ausübt, ohne an irgendetwas anderes zu denken als an sein Werk: La Damnation de Faust ist eine leuchtende Antwort, einzigartig in der Gattung, trotz aller Schwierigkeiten, die sich durch die Verbindung von Poesie, Theater und Musik ergeben. Man bedauert in keinster Weise, dass das spätere Faust-Projekt von Berlioz, nämlich aus La Damnation de Faust eine echte Oper zu machen, unter Mithilfe von Eugène Scribe (1791-1861), dem berühmten und doch so einfallslosen Librettisten von Giacomo Meyerbeer (1791-1864), nicht zustande kam. Sicherlich hätte die Oper mit dem neuen Titel Méphistophélès die Rolle des Teufels um einige Szenen erweitert, aber La Damnation de Faust in der Form, wie sie vorliegt, mit ihrer rhythmischen Agilität und ihren Überraschungen, transzendiert alle Teufeleien.

Der Tagtraum…

Seine Musik ist wie Feuer“, sagte der Dirigent Hermann Scherchen (1891-1966): Muss man in Berlioz einen „neuen Faust sehen – wie er selbst 1831 in Lélio ou le Retour à la Vie, Op. 14b, H 5 (1832), der einfachen Form von Lélio, nannte – oder einen „ausgebrannten, aber immer noch brennenden“ Méphistophélès – wie er im 59. Kapitel seiner Memoiren (1878) schrieb ? Sofern er kein Held ist, der wie Marguerite von seinen unstillbaren Impulsen verbrannt wird. Berlioz ist Verurteiler und Heilbringer zugleich und hat die Gleichgültigkeit dessen: Der grandios scheitert! Die Ironie ist immer präsent in La Damnation de Faust, im Liegeton der Celli und Kontrabässe im „Tanz der Sylphen oder in dem kleinen absteigenden Motiv der Flöten und Klarinetten nach den Worten „ton chevet virginal“ in Fausts Arie.

Berlioz machte sich keine Illusionen über das Leben und war innerlich gespalten als bissiger Kommentator seiner eigenen Schmerzen, er konnte nicht anders, als die Versuchungen seines Helden in seinem tiefsten Inneren nachzuempfinden. Méphistophélès, der Faust von Ort zu Ort mitnimmt, steht für das Schicksal des Komponisten selbst, unglücklicher Don Juan, der die Musik sucht und glaubt, sie von Stadt, von Konzert zu Konzert finden zu können, wie Napoléon Bonaparte I. (1769-1821), der von Schlacht zu Schlacht seinen Machtwillen zum Ausdruck brachte, auf einer verzweifelten Flucht nach vorn.

Victoria Karkacheva (Marguerite) und Chor © Vincent Pontet

Fausts Niederlage, erklärt Cairns, ist auch eine Absage an den romantischen Traum. La Damnation de Faust ist ein Werk der Einsamkeit und des Scheiterns, keines der Eroberung oder Herausforderung wie die Werke der vorherigen Phase. Berlioz wählte die Flucht aus der Zeit heraus, die auch seine letzten Werke – ab L’Enfance du Christ, Op.25, H 130 (1854) charakterisierte. Ohne Glauben, ohne Hoffnung auf eine wie auch immer geartete Erlösung konnte Berlioz nur der mythischen Zeit frönen, der Kunst, der Schaffung einer neuen Welt, um den Schrecken der Geschichte zu entgehen und sich von der Wirklichkeit zu befreien. La Damnation de Faust markiert den Triumph der Fiktion und Berlioz ist ihr Held par excellence. Der Misserfolg von La Damnation de Faust bei ihrer Uraufführung am 6. Dezember 1846 an der l’Opéra Comique zwang ihn, sich wieder auf den Weg zu machen, als umherziehender Musiker und Komponist ohne Publikum.

Anlage: Libretto von Almire Gandonnière (1814-1863).

Die Aufführung im Théâtre des Champs-Elysées / Paris am 6. November 2025:

Träume und Albträume…

Die Welt der Träume ist seit Anbeginn der Zeit eine unerschöpfliche Inspirationsquelle. Geheimnisse, Wahnsinn, Albträume und Offenbarungen – die meisten der größten Unternehmungen der Menschheitsgeschichte hatten ihren Ursprung in Träumen. Für HECTOR BERLIOZ, ein fantastisches Wesen erhabener Träumereien, war jede von ihm komponierte Note ein Traum für sich -. Der Albtraum begann, als sein Werk der Ungeschicklichkeit unvollkommener Wesen zum Opfer fiel, die allzu voreilig aus ihrer banalen Unwissenheit das Werk verurteilten, was dieser bedeutende Komponist der französischen Romantik wirklich ausdrücken wollte.

Heute Abend erlebten wir auf der prachtvollen Bühne das von dem berühmten französischen Architekten, Journalist und Theaterdirektor Gabriel Astruc (1864-1938) entworfene Théâtre des Champs-Élysées eine Neuinszenierung von La Damnation de Faust unter der Regie der französischen Regisseurin Silvia Costa. Die visionäre Costa bietet eine bemerkenswerte subtile Interpretation von Berlioz‘ „dramatischer Legende“. Das Bühnenbild - ein Studentenzimmer, in dem Jugend und obsessiver Intellekt aufeinandertreffen – hätte einschüchternd wirken können. Faust wird so zu dem, was manch einer als „Nerd“ bezeichnen würde, der die berauschende Euphorie der Jugend gegen Studium, Stille und eine tröstliche Nostalgie nach einer idealisierten Kindheit unbeschwerter Sorglosigkeit eingetauscht hat. Faust scheint sich von der Welt zurückzuziehen und als äußere Umstände dies unerträglich machen, warum nicht einen Geist beschwören, der alles auf den Kopf stellt? Abgesehen von einigen Momenten, in denen Costas Intentionen nicht ganz klar sind, gelingt dieser Inszenierung eine tief bewegende und poetische Interpretation von Faust. Manche mögen Anstoß daran nehmen und die Ungarn lieber als Magnaten in protzigen mit Federn geschmückten Jacken und Mützen zu sehen, doch Costas Vision ist dennoch äußerst erfrischend. Marguerites Erscheinung besitzt eine beinahe surreale und fesselnde Poesie, eine ebenso unwirkliche wie idealisierte Fantasie, wie Marcel Albert Carnés (1906-1996) Julia, eine Erscheinung aus dem Film Les Portes de la Nuit (1946), die aus dem schwarzen Mantel des Todes emporsteigt. Dieser Tod bricht feierlich und sinnvoll hervor, wie eine wunderschöne Vanitas in der Kathedrale von Sevilla; tatsächlich erinnert diese Szene auch an die Hochzeit in Pier Paolo Pasolinis (1922-1975) Film Salò o le centoventi giornate di Sodoma (1975). All diese Visionen tragen zu einer Fantasie mit melancholischen Untertönen bei. Wir bedauern jedoch, dass die schwache Beleuchtung teilweise uns darin hinderte, einige Details vom ersten Balkon aus zu erkennen. Nichtsdestotrotz hat Costa eine Inszenierung von poetischer Farbigkeit geschaffen, in der eine subtil traumhafte Ekstase die Bühne durchdringt.

Gesanglich wird die Besetzung maßgeblich von dem französischen Tenor Benjamin Bernheim als Faust dominiert, der für dieses Repertoire wie geschaffen ist. Wie schon sein legendärer Hoffmann aus Les Contes d’Hoffmann (1881) von Jacques Offenbach (1819-1880) ist Bernheim ein Faust von außergewöhnlicher Qualität. Seine Stimme ist perfekt auf die Partitur abgestimmt, seine Phrasierung präzise, subtil und nuanciert; sein Timbre erstrahlt in brillanter Schönheit und berührt uns tief in dieser zugleich zerbrechlichen, innigen und bewegender Charakterisierung, die das Wesen der menschlichen Seele widerspiegelt. Und trotzdem ist die Ausstrahlung seines Timbre mitunter fade und langweilig, wir persönlich würden einen mehr virilen Tenor mit baritonaler Stimme vorziehen! Ihm gegenüber steht die russische Mezzo-Sopranistin Victoria Karkacheva als Marguerite mit prachtvoller Klangfarbe. Mit ihrem samtigen und vollen Timbre trägt sie ihre Arien beinahe deklamiert vor, mit der Leichtigkeit einer Geschichtenerzählerin. Trotz einiger Momente, in denen die französiche Prosodie ins Stocken gerät, sind wir von dieser Marguerite gefesselt, die, weit davon entfernt, das unschuldige Mädchen mit der Zopfkrone zu sein, in Costas Vision eine verkörperte Fantasie ist, „das weibliche Ideal in all seiner Einfachheit“, die den Dichter unbewusst verliert und ihn in seine Träumereien führt, fernab der Realität der Welt, die ihn bald richten und verdammen wird.

In der Rolle des „diabolischen“ Méphistophélès wirkt der amerikanische Bass Christian Van Horn völlig unglaubwürdig. Stimmlich beschränkt und theatralisch steif, gelingt es ihm nicht, die boshafte Vieldeutigkeit dieser Figur einzufangen. Selbst in Les Contes d’Hoffmann als die vier Bösewichter konnte man zumindest sein Timbre bewundern, doch hier verliert er sich in Ungenauigkeiten und einer unpräzisen Prosodie. In einem Kostüm, das eher an den karikierten Bratt aus dem Moi, moche et mechant, Zeichentrickfilm (2010) von Chris Renaud (*1966),und Pierre Coffin (*1967) – genauer gesagt dem des dritten Teils – erinnert, ist er praktisch eine Parodie jenes „Lichts“ von übermäßigen Wissen, das Faust auf seiner Suche nach dem Ideal letztendlich in die Irre führen wird. Im Gegensatz dazu ist der französische Bariton Thomas Dolié als Brander perfekt, eine der besten Stimmen unserer Zeit, dass wir ihn auch in Werken jenseits des französischen Repertoires gerne hören würden.

Das Orchester Les Siècles wird von dem jungen deutschen Dirigenten Jacob Lehmann präzise geleitet. Der Dirigent bemüht sich, die dramatischen Konturen sorgfältig herauszuarbeiten, ohne die Poesie von Berlioz‘ Partitur zu schmählern. Trotz einiger kleinerer Ungenauigkeiten loben wir die feine Dirigierleistung, die stimmige Herangehensweise und die authentische poetische Kraft dieser monumentalen und zugleich zarten Musik. Le Coeur et la Maîtrise de Radio France unter der Leitung ihres französischen Chorleiter Lionel Sow und der französischen Chorleiterin Sofi Jeannin für den Kinderchor präsentieren sich trotz einer Inszenierung, die gelegentlich zu Unstimmigkeiten und unbeholfenen Momenten führt, so professionell, wie man es sich nur wünschen kann.

Letztlich ist Faust in Costas Vision ein „seltsamer Kerl“, nicht der Typ, den man aus der Teleserie The Big Bang Theory (2007) kennt, sondern eher der, den der schon mythische Léo Ferré (1916-1993) in seinem Chanson Les Poètes (1954) besingt. So wie das letzte Jahrhundert mit der Oper von Bohuslav Martinů (1890-1959) Juliette ou la clef des songes (1938) barbarisch war, wird unseres mit Werken wie La Damnation de Faust sein. Was unserer Zeit mit ihrer unmittelbaren Euphorie und schleichenden Nostalgie fehlt, ist Poesie – manchmal fremd oder beunruhigend -, die aus dem Herz dessen entspringt, was leicht hätte schmutzig werden können. Wie der unglückliche Träumer in Fjodor Michailowitsch Dostojewskis (1821-1881) Weiße Nächte (1848) ist es das unerbittliche Streben nach der Muse, die obsessive Träumerei, die den Dichter in seine Verdammnis, aber auch in seine Ewigkeit treibt.

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