Paris, Théâtre du Chatêlet, L’ARLÉSIENNE, LE DOCTEUR MIRACLE - G. Bizet, IOCO

28.05.2025
ZUM 150 JÄHRIGEN TODESTAG VON GEORGES BIZET:
L’ARLÉSIENNE (1872)
Musikalisches Märchen für Erzähler, Vokalensemble und Orchester. Szenenmusik von Georges Bizet mit einem Text von Hervé Lacombe nach Alphonse Daudet.
LE DOCTEUR MIRACLE (1857)
Komische Oper in einem Akt von Georges Bizet mit einem Libretto von Léon Battu und Ludovic Halévy.
ZWEIMAL BIZET: EINMAL ZUM WEINEN UND EINMAL ZUM LACHEN…
Vom Vorstadttheater zum Théâtre Odeon…
Nach seiner Tätigkeit als Direktor des Théâtre-Lyrique, wo er Les Pêcheurs de perles (1863) und anschließend La Jolie Fille de Perth (1867) von Georges Bizet (1838-1875) kreierte, übernahm Léon Carvalho (1825-1897 ) die Leitung des Théâtre du Vaudeville. Im Jahre 1872 übernahm er die Inszenierung von Alphonse Daudets (1840-1897), L’Arlésienne und beauftragte seinen Schützling Bizet mit der Komposition einer neuartigen Szenenmusik, die weit über eine übliche musikalische Begleitung einer Theateraufführung hinausging. Die Uraufführung fand am 1. Oktober 1872 statt.

Daudet entnahm aus seinem Roman Lettres de mon moulin (1869) die Elemente seines Stückes, dessen Handlung aus einer aktuellen Zeitgeschichte entstammt: Ein Großneffe von Frédéric Mistral (1830-1914) beging Selbstmord, nachdem er erfuhr, dass seine Verlobte einen anderen liebte. Das Stück, das ländliche Figuren in den Mittelpunkt stellt, präsentiert mehrere alte Menschen auf der Bühne und übergibt einer abwesenden Figur, der berühmten Arlésienne, die Hauptrolle. Das Liebesdrama, das etwas von der Psychoanalyse des Sigmund Freud (1856-1939) vorausnimmt – die Mutter Renaud spielt eine Schlüsselrolle darin, es ist auch ein Generations-Drama: Das der Großeltern – der Großvater, der Hirte, Mutter Renaud und das der Eltern Rose, das der Kinder Frederi, der Unschuldige und Vivette. Traditionen der Vorfahren und Sehnsüchte der Jüngsten, Moralvorstellungen und Ehrgefühle prallen aufeinander. Zu gewagt in seiner Dramaturgie und zu weit entfernt von den Handlungen und Charakteren, die man damals auf den Bühnen der Hauptstadt sehen konnte, verunsichert, gelangweilt, ja sogar verärgert und so scheiterte das Stück schließlich schon nach neunzehn Aufführungen. Mistral macht sich darüber mit seinem Freund Daudet Sorgen: „Diese Szenen provenzalischer Bräuche, diese Bedeutung der kleinen Dinge im primitiven Leben, diese biblische Vertrautheit, diese anmutigen Details; die Teil unserer Landschaft, unserer Geschichte, unseres Charakters sind, ist Paris wirklich in der Lage sie zu fühlen, sie zu verstehen, sie zu schmecken?“. Émile Zola (1840-1902) seinerseits wird es verstehen: „Niemals hatte ein Werk mehr Kraft und Anmut vereinen können“. Nach dreizehn Jahren der Verdammung wurde das Stück im Odeon wiederaufgeführt, diesmal mit Erfolg und wurde für mehrere Jahrzehnte zu einer tragenden Säule des Theater-Repertoires.

Musik und Drama…
Im Jahr 1872 bestand der Chor aus 24 Sängern und das Orchester aus 27 Musikern. Ungewöhnlicherweise ergänzt Bizet die üblichen Holzbläser (Flöte, Oboe, Fagott) um ein Saxophone, während er die Streicher (vier Violinen I, drei Violinen II, eine Bratsche, fünf Celli, zwei Kontrabässe) neu ausbalanciert und den Klang durch ein Klavier ergänzt. Ein Harmonium in den Kulissen begleitet den Chor. Sein Instrumental-Ensemble gestaltet er so, dass es trotz der begrenzten Anzahl an Mitwirkenden abwechslungsreiche Kombinationen, Kammermusikseiten und imposante Tutti-Effekte ermöglicht. Der neue Saxophonklang verleiht dem Stück eine eigentümliche Note, die besonders mit der Figur des Unschuldigen assoziiert wird. Um seiner Partitur eine provenzalische Note zu verleihen, greift Bizet auf mehrere traditionelle Themen aus der Sammlung von François Vidal (1832-1911) Lou Tambourin (1864) zurück, die ihm Daudet zur Verfügung gestellt hat: Èr dou Guet (Arie des Schmiere-Stehers), um den einschlafenden Unschuldigen zu begleiten. Danso die chivau-frus (Tanz der galoppierenden Pferde), verwendet in der Farandole Marcho di Rèi (Marsch der Könige), thematische Grundlage des Präludiums und zweier weiterer Nummern.

Die fünfzig Minuten Begleitmusik sind sorgfältig in das Drama eingebettet und werden so zu einem integralen Bestandteil davon. Viele Melodramen mit Musik und gesprochenem Text erzeugen ein Gefühl der Kontinuität zwischen der Theateraufführung und der Partitur, dem gesprochenen Diskurs und dem musikalischen Ausdruck. Die Musik dient als pittoreske Vertonung, als Klangevokation, als Artikulationselement der Szenen mit den Zwischenakten, aber auch als Steigerung der dramatischen Momente. Dank einer Reihe gut gezeichneter Motive folgt Bizet der Handlung und verstärkt die Emotionen und Gefühle des Stücks, indem er sich auf den Ausdruckskodex der Musiksprache und der instrumentalen Klangfarben beruft, die im 19. Jahrhundert in Theatern und Opernhäusern weit verbreitet war. Es gelingt ihm, mit seinen eigenen Mitteln die tragische Dimension, die psychologische Entwicklung der Charaktere oder das Gefühl der Natur hervorzurufen, indem er eine Musik des Dramas ebenso kreiert wie ein Musik der Landschaft und so eine erstaunliche Resonanz zwischen Dingen und Seelen herstellt.
Das Präludium stellt mit den drei Hauptmotiven die natürliche und psychologische Szene dar. Der erste (der Marsch der Könige), thematisch und in Variationen behandelt, klingt gewissermaßen wie das Wahrzeichen der Provence. Die zweite ist mit dem Charakter des Unschuldigen, des diskreten Träumers und Einfältigen verbunden, der zum Bewusstsein erwachen wird. Der dritte, ein Ausdruck verschlingender Leidenschaft und fieberhaften Geistes, kann mit seinem Bruder Frederi in Verbindung gebracht werden: Einem sehr gequälten Charakter! In einem Brief bezeichnete Bizet es als Thema der Arlésienne: Man muss verstehen, dass diese Frau Frederis einziger Gedanken geworden ist und zugleich auch seine große Liebe, seine Instabilität und seine Bestürzung repräsentiert. Die Geschichte folgt einem Verlauf, den die Musik verstärkt und der das Spektakel von poetischer Einfachheit zu zerstörerischer Leidenschaft führt, von der Figur des Unschuldigen, die nach und nach erwacht, bis zu der von Frederi, die allmählich untergeht. Präsenz-Abwesenheit, die Seele ist verdorben und erinnert an die Schicksalsgöttlichkeit, geheimnisvoll und aktiv. Wir haben das Dreieck, das Vivette, Frederi und die Arlésienne bilden, oft mit dem verglichen, das Micaëla, Don José und Carmen aus der gleichnamigen Oper Carmen (1875) drei Jahre später bilden werden. Wir können den Vergleich noch weiter vertiefen, indem wir Mitifio und Escamillo vergleichen. Nahkampfleidenschaft und Eifersucht führen unaufhaltsam zum Tod, doch während Don José seine Verzweiflung gegen das Objekt seiner Begierde richtet und Carmen ermordet, wendet Frederi sie gegen sich selbst und begeht Selbstmord.
Um seine Partitur - eine seiner raffiniertesten – noch abwechslungsreicher zu gestalten, sie in Szene zu setzen und die Entwicklung der Seelen der Protagonisten zu verfolgen, lässt sich der Komponist von verschiedenen Stilmodellen und Schreibverfahren inspirieren: Thema und Variationen, kanonischer Kontrapunkt, impressionistische Anspielung durch klangliche Akzente – Chor in der Ferne -, Überlagerung von Themen, beschreibende Seiten, chromatische oder pseudomodale Harmonie, Ostinato auf drei Tönen im Glockenspiel… Die Stücke mit Tanzcharakter: Menuett, Farandole, Sizilianisch beziehen sich auf das populäre Universum des Stücks. Schließlich webt Bizet ein Netz wiederkehrender Motive, das zur Einheit des Werkes und zur Verwirklichung einer musikalischen Bedeutung beiträgt. So entwickelt sich das Thema des Unschuldigen weiter bis zu seiner letzten Kadenz, die mit seiner Erlangung des Bewusstseins einhergeht. „In deinen Augen strahlt jetzt echtes Licht“, sagte ihm seine Mutter.

Vom Theaterstück zur Erzählung: Absichtserklärung…
Kurz nach der Premiere wählte Bizet einige Seiten aus seiner Partitur heraus und orchestrierte sie neu, um eine Orchester-Suite zu schaffen, die am Sonntag 1872 von den Concerts Populaire unter der Leitung von Jules Pasdeloup (1819-1887) uraufgeführt wurde. Es war ein großer Erfolg! Ernest Guiraud (1837-1892) ein enger Freund von Bizet, komponierte nach dessen Tod eine zweite Orchester-Suite, die auf anderen Themen aus der Arlésienne und kurioserweise auch, einem Fragment aus La Jolie Fille de Perth basierte. Die Musik der Arlésienne ist heute in Form dieser beiden symphonischen Suiten bekannt. Das Werk ist aus der Mode gekommen und ist nur noch in Form der Orchester-Suiten und als gebräuchlicher Ausdruck bekannt: „Es ist die Arlésienne“, das eine Tatsache oder eine Person bezeichnet, über die viel gesprochen wird: Die man aber nie gesehen hat!
Ohne die narrative und poetische Unterstützung von Daudets Stück haben viele der nur wenige Takte langen Nummern der Originalpartitur der Bühnenmusik , die oft gesprochenen Dialoge begleiten, keine große Bedeutung mehr. Daher stellte sich die Frage: Wie kann diese Partitur in ihrer Gesamtheit präsentiert werden, ohne auf das Stück zurückzugreifen, was erhebliche Ressourcen erfordert und dennoch einen narrativen Faden bietet?
Da Daudet sein fünfaktiges Stück nach dem Vorbild der Lettres de mon moulin konzipierte, kam die Idee auf, den ursprünglichen Geist dieses Dramas durch eine Adaptation in Form einer Bühnen- und Musikgeschichte wiederaufzunehmen. Die Geschichte wird von einem Erzähler rezitiert und durch die Musik von Bizet ergänzt. Dabei orientierte man sich an der vom Komponisten vorgegebenen Musik und der vom Autor erdachten Handlung mit ihren Hauptfiguren.
Erzähler und Orchester sind die Akteure der Partitur, in der die gesprochene Stimme und die verschiedenen Musikstücke miteinander verwoben sind. In diesem Spiel der Echos zwischen Worten und Klängen kehren Themen immer wieder, zeichnen das Porträt einer Figur, schaffen eine poetische Atmosphäre oder verstärken dramatische Momente. Der Erzähler evoziert die Landschaften, die Orte der Handlung, die Bewegungen der Figuren, ihre Gedanken und einige ihrer Worte. Text und Musik wechseln sich ab oder überlappen sich und die Musik, die so in diesen narrativen und beschreibenden Fluss eingebunden ist, erhält ihre ursprüngliche Funktion zurück.
Le Docteur Miracle oder die Anfänge eines jungen Komponisten…
Im Jahre 1855 erhielt Jacques Offenbach (1819-1880) das Privileg, im Salle Lacare auf der Champs-Elysées mit seiner Truppe aufzutreten. Anschließend entschied er sich für einen Umzug in einen Saal aus dem Jahr 1826 in der Passage Choiseul und eröffnete dort nach kostspieligen Restaurierungs- und Verschönerungsarbeiten am 29. Dezember 1855 das Théâtre des Bouffes-Parisiens. Er kann insbesondere komische und musikalische Stücke in einem Akt mit höchstens vier Personen aufführen. Als geschickter Stratege hatte er zur Gründung seiner Truppe die Idee, einen Kompositionswettbewerb auszuschreiben, dessen Regeln im Juli 1856 in verschiedenen Zeitungen veröffentlicht wurden. Offenbach zelebrierte die Opéra-Comique, ein eminent französisches Genre nach der etablierten Formel, deren ursprünglicher Geist – zugleich leicht, heiter, unterhaltsam und amüsant – offenbar verloren gegangen war: Als Form, Stil und Handlung verändert und somit ernster geworden war. Angehende Komponisten sollten jedoch auch übermäßigen Ehrgeiz mit Werken debütieren können, erklärt der zukünftige Autor von La belle Hélène (1864).

Der Wettbewerb war ein großer Erfolg. Achtundsiebzig Kandidaten hatten sich beworben! Nach einer ersten Auswahl bleiben sechs im Rennen. Sie wurden gebeten, die Musik für ein kurzes Werk für vier Personen zu komponieren. Das Libretto stammte von Léon Battu (1829-1857) und Ludovic Halévy (1834-1903) und basierte auf die Komödie St. Patrick’s Dat, or The Scheming Lieutenant (1775) von Richard Brinsley Sheridan (1751-1816). Charles Lecocq (1832-1918) und Bizet gewannen ex aequo den ersten Preis. Ihre beiden Werke wurden ab April 1857 abwechselnd jeweils elf Mal aufgeführt.
Obwohl diese Aufführungen Bizets offiziellen Auftritt auf einer Pariser Bühne markierten , war er kein völlig unbekannter Anfänger mehr. Er hatte erste Preise für Klavier (1852) und Orgel (1855) gewonnen, hatte gerade 1856 in Rom den zweiten Villa-Medicis-Preis gewonnen und sollte im folgenden Jahr den ersten Preis erringen. Er hatte bereits Klavierstücke, Melodien, ein großes Orchesterstück – die bewundernswerte und unvollendete Symphonie in C (1855), die erst 1935 uraufgeführt wurde – und eine Salonoper für vier Sänger und Klavier La Maison du docteur (1852) komponiert. In diesem für die Aufführung unter Freunden gedachten Werk beweist der noch sehr junge Bizet, erinnern wir uns, geboren 1838, eine perfekte Beherrschung der dramatischen Codex und lyrischer Schreibkunst. Mit der gleichen Verve und Meisterhaftigkeit komponierte er die Partitur Le Docteur Miracle. Der Kolumnist des Messenger des théâtres et des arts unterstreicht: „Monsieur Bizets Partitur ist bemerkenswert wegen ihrer überraschenden Qualität, wenn man das Alter des Komponisten bedenkt. Das Orchester spielt eine unendliche detaillierte Rolle, was auf hervorragende Studien schließen lässt“.
Ein sturer Podestà (Bariton), der das Militär verabscheut, eine Schwiegermutter, Véronique (Mezzo-Sopran), die es schätzten würde, Witwe zu sein und die Tochter des Podestà, die junge Laurette (Sopran), der es nicht an Temperament mangelt und die nur an ihren Liebhaber denkt, der besagte Silvio (Tenor), seines Zustandes Kapitäne, ist zu allen Extravaganzen bereit, um die Hand von Laurette zu gewinnen… Die Handlung, die an italienische Farcen, alte komische Opern und bestimmte Szenen an Jean-Baptiste Poquelin genannt Molière (1622-1673) erinnert, ist nicht sehr originell, außer dass sie sich um ein Omelett dreht, dessen Zusammensetzung und seine schwierige Einnahme, seine verheerenden Auswirkungen auf die Verdauung des Podestà haben werden und von dem wir für einen Moment glauben: Er sei vergiftet worden! Zu dem Vergnügen mit Konventionen und typischen Charakteren zu spielen, kommt noch das Vergnügen der Verkleidung hinzu, bei dem das Theater ein Spektakle für sich selbst inszeniert: Der Kapitän Silvio verkleidet sich als Pasquin, eine Art Dorftrottel, ideal um der neue Diener des Haushalts zu werden, dann als Docteur Miracle, ein lizenzierter Scharlatan in hochtrabenden Latein. Aus heutiger Sicht könnte man argumentieren, dass das Patriarchat als gesellschaftlicher Rahmen sowohl arrogant als auch durch den Einfallsreichtum und die Liebe des jungen Paares durchkreuzt, verspottet und lächerlich gemacht wird. Der Podestà ist die Zielscheibe der Farce! Die Librettisten Battu und Halévy verstehen es, Situationen zu konstruieren und sie mit wirkungsvoller Bühnenkunst zu untermalen. Es ist, so der Musikkritiker von Le Pays: „Ein sehr heiteres Stück, gekonnt auf die Musik zugeschnitten und mit treffenden Worten gespickt“. Um die Frische und Wirksamkeit der Farce zu würdigen, ist es wichtig den konventionellen Rahmen zu akzeptieren und bewusst an die Grenze zum Lächerlichen zu gehen. Das Vergnügen des Zuschauers liegt auch darin, die der Parodie innewohnende Ironie zu würdigen.
Das Omelett-Quartett ist zweifellos das Herzstück des Werkes. Bizet verstand perfekt die macht der Parodie. Sein Quartett, majestätischer als das von Lecocq, wirkt gerade dadurch noch komischer. Es beginnt im großen Stil mit den unaussprechlichen Worten „Hier ist das Omelett“, gefolgt von nachahmenden Einsätzen, wie man sie in einem großen Opernensemble vorfindet. Die Tonbrüche verleihen dem Ganzen seine ganze Würze. Um alle Ebenen der musikalischen Komposition zu bedienen, scheint sich die Struktur zeitweise in mechanischen Wiederholungen zu verlieren, die mit kleinen, köstlich lächerlichen lyrischen Vokalisationen durchsetzt sind. Bizet wird bei seiner Aufgabe als Unterhalter vom dem großen Interpreten des Podestà Étienne Pradeau (1817-1895) unterstützt. „Der hervorragende Schauspieler“, schreibt ein Kritiker, „ist besonders erhaben in seiner Hymne an das Omelett: Er vokalisiert, er gleitet mit einer Meisterschaft über die Bass-Saiten, die einen schwindelig macht und auch zum Lachen bringt“. In die gleiche Richtung spielt die Interpretin der Véronique, Marguerite Macé-Montrouge (1834-1898) „einen sehr wilden weiblichen Podestà!“. Im Komischen – hier verstanden als unverschämte Komödie – darf man nicht an Effekten sparen und ein gewisser Exzess gehört zum Spiel! Das Premieren-Publikum war von dieser Nummer so begeistert und erreichte „mit einer höchst herzlichen Demonstration“ eine Zugabe.
Das Libretto ermöglicht dem jungen Komponisten, seine Ausdruckspalette und musikalischen Formen zu variieren. Die Romanze der Laurette „Ne me grondez pas pour cela“ ist angemessen berührend. Pasquins Verse basieren auf den lächerlichen Worten „Je sais monter les escaliers et aussi les descendre“ einerseits und der Leichtigkeit der Begleitung sowie der Schönheit der Oboen-Interpunktion andererseits. Das Duett der beiden Liebenden „En votre aimable compagnie“ tendiert zunächst ins Komische – Laurette erkennt Silvio in seiner Verkleidung als Pasquin nicht -, bevor es in einen gefühlvollen, bündnishaften Tonfall übergeht. Das auf „Dieu son père… Dieu mon père…“ folgende Trio ist ein angenehmes Klischee italienischer Musik, man könnte es aber auch Boulevard-Theater nennen. Das letzte Quartett endet brillant mit wunderschönen Vokalisationen von Laurette und einer Moral im Stil der Vorstadttheaters, die die komischen Opern der frühen Tage abschlossen: „À notre bonheur en ce jour, nous ne trouverons plus d’obstacles, grâce au savent Docteur Miracle, grâce au miracle de l’amour“.
Zur Aufführung im Théâtre du Chatêlet Paris am 28. Mai 2025:
Bittersüße Wunder-Elixiere…
Anlässlich des 150. Todestages von Bizet präsentiert das Théâtre du Châtelet im Rahmen des Festivals Palazzetto Bru Zane Venedig ein tragisch-komisches Diptychon des Komponisten. Zwischen äußert tristen Momenten in der französischen Provence und in einer schalkhaften radikalen Commedia dell’arte bewegt sich diese Hommage an einen viel zu früh verstorbenen Komponisten. Das Orchestre de chambre de Paris unter der Leitung der hervorragenden französisch-chinesischen Dirigentin Sora Elisabeth Lee und der einfallsreichen und auch manchmal polternden Inszenierung des französischen Bariton, Schauspieler, Regisseurs und „Bilderstürmer“ Pierre Lebon sorgen für ein rasant realistisch versponnenes bitter-süßes Märchen, indem wohl die gesamte Publikums-Familie voll auf ihre Kosten kam…

L ’Arlésienne, wie schon gesagt ist ein Drama von Daudet mit der Bühnenmusik von Bizet, es ist ein eher tragisches Drama, das hier von dem französischen Musikwissenschaftler Hervé Lacombe für diese Produktion neu nacherzählt wird. Die riesige Mühle im Zentrum der Bühne ist ein szenografisches Mittel von doppelter Bedeutung. Auf dramatischer Ebene stellen die beweglichen Flügel die Vergänglichkeit der Schicksale über drei Generationen hinweg in ländlichen provenzalischen Umgebungen dar, darunter das des jungen Frederi, der von seiner wankelmütigen Arlésienne schwer heimgesucht wird. Außerdem enthält die erste Stufe der Mühle ein Puppentheater, auf dessen Leinwänden in der Art eines Dioramas zu verschiedenen Jahreszeiten naturalistische Landschaften gezeigt werden, ausgezeichnet „beleuchtet“ von dem französischen Lichtbildner Bertrand Killy. Was die Neufassung betrifft, so finden die Anspielungen auf Lettres de mon moulin mit „La Chèvre de M. Seguin“, „Le Secret de maitres Cornille“ hier am Fuße der Mühle von Fontvieille, wo der junge Alphonse D. in der Nähe der Félibres (Neuprovenzalischen Dichter) wohnte: Wie eine malerische Beschwörung! In Lebons neorealistischer Inszenierung werden rasch mehrere „Gemälde“ von Hirten, Frauen und Männer von Arles eingefangen. In der geschlossenen Umgebung des provenzalischen Bauernhauses kann der intime „poetische Realismus“ von L ’Arlésienne jedoch nur schwer zum Vorschein kommen. Denn diese Adaptation verwickelt die Erzählstränge, die zum Selbstmord des Sohnes Frederi führen, der mit dem Erwachen des Gewissens seines Bruders, der Unschuldige einhergeht. Darüber hinaus verwandelt die starke Stilisierung der Pantomimen und Choreografien die leidenden Wesen in akrobatische nichtsagende Personen in einem allzu expressionistischen Register. Wenn die Aufrichtigkeit des provenzalischen Geschichtenerzählers mit dem französischen Schauspieler Eddie Chignara und die ziellose Naivität des Unschuldigen „à la Jean-Gaspard Debureau“ (1796-1846) interpretiert von Lebon selbst, die Bühne von Anfang bis Ende beherrschen, ist jedoch Bizets Bühnenmusik eine unerschöpfliche Quelle der Intimität und psychologischen Einsicht. Unter der Leitung von Lee kehrt das Orchestre de chambre de Paris zur wahren Besetzung mit 26 Musikern zurück und lässt die bekannten „Schlager“ erstrahlen: Den lebhaften „Marche des Rois“ zu Beginn oder die schwindelerregende „Farandole“ – Bizets Anleihen bei Vidals provenzalischer Sammlung -, ohne die freudigen Salven des Carillons auszulassen. Die anderen, raffinierten Stücke, die seltener in voller Länge aufgeführt werden, sind eine Mischung aus Instrumental- und Vokalquartetten. Wenn das Tempo des ersten Menuetts zu lebhaft und abgehackt ist, sind die entsprechenden Tempi und Nuancen der Pastorale – Sizilianisch für 2 erfahrene Blockflöten – und des Adagietto – „Melodrame unter den liebevollen Geständnissen alter Männer“ – bilden zwei Höhepunkte der Verführung unter einer sternenklaren Nacht im Stil von Vincent Van Gogh (1853-1890).
Im Gegensatz zum traurigen Drama entdeckt das Publikum nach der Pause einen urkomischen Leckerbissen, es handelt sich um Le Docteur Miracle, eine komische Oper in einem Akt des jungen knapp 19jährigen Bizet, den er für den Offenbach-Wettbewerb im Théâtre des Bouffes Parisiens komponiert hat, den er ex aequo mit Lecocq gewann. Unter der Feder von Battu und Halévy stellt eine ganze gewaltige Palette dell’arte den getäuschten Podestà von Padua dem Clan der jungen Liebenden gegenüber, seiner Tochter Laurette und dem Hauptmann Silvio, zusammen mit der zweiten Frau des Podestà, Véronique ist Silvio zu jeder Verkleidung bereit – Scharlatan, Diener Pasquin, Arzt - um die schwieger-väterliche Zustimmung zur Hochzeit zu erhalten. Die wirkungsvolle Szenografie eines Straßen-Theaters – ein Haufen von Plattformen und Falltüren, die das alte Haus des Podestà auf dem öffentlichen Platz in Szene setzen – führt zu akrobatischen Bühnenspielen, die auf die musikalischen Rhythmen abgestimmt sind. Ganz in Rot gekleidet wie im Zirkus trotzen die vier Sänger den Risiken und treten in die Fußstapfen eines frechen Manipulators, eine Sprechrolle auch gespielt von Lebon. Dieser Quacksalber aus den Farcen vom Pont-Neuf, eine Kreuzung aus Sganarelle und Le Malade imaginaire von Molière, führt natürlich die Handlung an. Nach der wirbelnden Ouvertüre entfalten pikante Gesangsnummern die Episoden der Pasquinade, durchsetzt mit lebhaften Dialogen. Hier zeigt sich Bizets frühreifes Talent, das die Farbe des Augenblicks zu komponieren weiß. Um uns auf Beispiele zu beschränken: Das zweite Tempo der Ouvertüre bebt unter dem Taktstock der Dirigentin mit dem Orchestre de chambre de Paris, wie eine rostige „Straßen-Kapelle“ quietscht es mit auffälliger Brillanz. In anderen Registern verbindet sich der zarte Erguss von Laurettes Romanze „L’amour vient“, frisch ausgearbeitet von der jordanisch-palästinischen Sopranistin Dima Bawab, vereint mit dem ungehemmten Register der Gier in Véroniques paralleler Arie, in der das Stolzieren und die Pracht der französischen Mezzo-Sopranisten Heloïse Mas’ mit ihrem Timbre wirken wie wahre Wunder dabei. Wenn der Verehrer - interpretiert von dem französischen Bari-Tenor Marc Mauillon – mit einer zu seiner Verkleidung passenden stimmlichen Natürlichkeit verführt „Je sais monter les escalier…“, so zeigt der Podestà mit dem falschen Bauch von dem französischen Bariton Thomas Dolié eine schöne ausdrucksstarke Farbton-Palette. Diese zertifizierten Protagonisten brillieren in dem ikonischen Omelett-Quartett, das während der Kreation im Bouffes als Zugabe gespielt werden musste. Das prosaische Register des Rezepts wird kühn in Richtung der ernsten Codes des zeitgenössischen Belcanto à la Gaetano Donizetti (1797-1848) gelenkt und baut aus dem anfänglich langsamen Tempo eine überragende Progression und ein Crescendo auf. Die vokale Großartigkeit steht in urkomischem Widerspruch zum Text. In Zusammenarbeit mit dem Orchester genießen die Interpreten diese musikalische Offenbarung mit viel Vergnügen: Zu unserem größten Vergnügen.
In diesem tragisch-komischen Diptychon entdeckt das Publikum im Théâtre du Châtelet die Facetten von Bizets Genie, vor allem natürlich durch die herausragende Carmen. Sowohl die tragische Innerlichkeit als auch die komische Ironie kommen in diesem Alter seiner Karriere voll zur Geltung.
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