Paris, Athénée-Théâtre Louis-Jouvet, Le Petit Faust - Hervé, IOCO

Paris, Athénée-Théâtre Louis-Jouvet, Le Petit Faust - Hervé, IOCO
Athénée-Théâtre Louis-Jouvet Paris © wiki commons

17.12.2025

 

Eine Parodie eines großen Erfolgs…

 

MARGUERITE
Pour les beaux yeux d’un rêveur
Je travaille la candeur;
J’inaugure, pour lui plaire.

Une seconde manière.
Et quand, par ce noble effort,
Je crois m’être fait un sort,
Il n’est plus même à son aise !...
Elle est mauvaise !

FAUST
De l’affreuse vérité
Je me sens épouvanté.
Tu ne m’aimais donc, ma biche,
Que parce que j’étais riche ?

Quand tu parlais de bonheur,
D’une chaumière et d’un cœur,
Ça n’était donc que fadaise ?
Elle est mauvaise.

VALENTIN
Elle est mauvaise.

(Auszug aus 2. Akt)

 

  

Die Ursprünge…

Charles Gounod (1818-1893) kreierte 1859 ein Werk, dessen Erfolg unbestreitbar war: Faust! Das Publikum nahm dieses von Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) inspirierte Werk begeistert auf und seine Popularität wuchs über die Jahre stetig, 1869 – als Gounods Werks an l’Opéra Imperial in Paris angenommen wurde -, kreierte Hervé (1825-1892)  Le Petit Faust (1869), Opéra-bouffe mit einem Libretto von Hector Crémieux (1828-1892) und Adolphe Jaime (1825-1901) eine Parodie-Version davon! Um Gilbert Girod (1837-1871) zu zitieren: „Durch diese Parodie erreichte Gounods Oper das einfache Publikum dazu, ein Werk zu entdecken, was musikalisch äußerst motiviert war? Aber warum die ungehemmte Parodie?

 

Ein neuer Rahmen…

Während der Erfolg des Faust von Gounod zweifellos der Musik zu verdanken ist, ist es bei Hervé die persiflierte Übertragung eines Werkes, die das Publikum vereint: Die Zuschauer kennen die Bezüge des Originals, akzeptieren die Abweichungen der Geschichte und die Freiheiten, hören zu, schauen zu und lachen gemeinsam in der Aufführung. Es ist eine Verbundenheit, die durch diesen gemeinsamen kulturellen Hintergrund entsteht! Wie können wir dieser Verbindung zwischen Bühne und Publikum gerecht werden? Wie können wir die aktive Beteiligung des Publikums durch seine Gedanken und sein geschärftes Wissen wieder in den Mittelpunkt der Dramaturgie rücken? Wir denken, indem wir einen Rahmen schaffen, der eine neue Lesart von Hervés Werk ermöglicht, können wir das heutige Publikum berücksichtigen und dem näherkommen, was es bei seiner Entstehung so erfolgreich gemacht?

Anaïs Merlin (Marguerite), Mathilde Ortscheidt (Mephisto) und Charles Mesrine (Faust) © Christophe Raynaud De Lage

 

Ein Spielplatz…

Hervé spielt nicht nur mit der Popularität von Gounods: Faust; er greift auch auf andere Variationen des Mythos von Goethe zurück, um seine Geschichte zu erzählen und um das Publikum zu unterhalten. Wie ein Ermittler deckt das Publikum auf, sucht und findet, was es kennt und was sich verändert hat. Vor diesem Hintergrund müssen die Darsteller auf jeden Fall von Anfang an darauf  vorbereitet sein, eine abwechslungsreiche, fantasievolle und vielleicht bizarre Aufführung zu bieten. Die Qualität der schauspielerischen Leistung und der Darbietung ist der rote Faden der Ariadne, der den Zuschauer leitet. Und es ist diese Interpretation, die der Musik ihre volle Bedeutung verleiht, ihre Farben und Nuancen entfaltet, denn wir lachen lange über ihre Misserfolge, bevor wir schließlich über ihre Erfolge staunen. Faust hat dies gemeinsam: Durch eine Reihe von Possen und Fallstricken, über die wir lachen, werden wir von ihrer Poesie gefesselt, von ihrem Unglück berührt?

Mathilde Ortscheidt (Mephisto), Philippe Brocard (Valentin) und Chor © Christophe Raynaud De Lage

 

Kollektive Bezugspunkte…

Was könnte dieses Spielfeld sein, von dem wir sprechen? Welche zeitgenössischen Bezüge können wir nutzen, um sowohl beim Publikum als auch bei den Darstellern eine gemeinsame Freude am Lachen über Bekanntes und Vermutetes zu wecken? Faust ist hier ein alter Professor, der überzeugt ist, dass ihn nichts vom Wissensdurst abbringen kann. Doch dann wird sein Leben erschüttert von einem Vulkan, eine junge Frau, die seine Gewissheiten im Nu gefährdet und auch seine Integrität: Indem es Gefühle in ihm erweckt, die er überhaupt nicht kannte! Mephisto konfrontiert ihn mit seinen Widersprüchen und verwickelt ihn in eine Art von Schatzsuche, bei der Faust sich verirren wird. Schon hier wird deutlich, wie vielschichtig die Frage des Spiels ist und genau darin liegt unser Zugangspunkt.

 

Das Rad des Schicksals, dreh das Karussell…

Die Fernseh-Quiz-Shows der 1980er und 1990er Jahre begeisterten alle Haushalte beim Supermarkt-Besuch, an Wochenenden und Feiertagen. Diese Sendungen wurden zu einem festen Bestandteil des Alltags, nicht nur wegen der gebotenen Unterhaltung, sondern auch weil Kandidaten aus allen Regionen und Gesellschaftsschichten teilnahmen. Die Selbstidentifikation war sehr stark ausgeprägt und man konnte sich in die Lage des anderen versetzen: „Was würde ich antworten? Was hätte ich gesagt? Was hätte ich getan? Ich hätte verloren, ich hätte gewonnen, ich wäre Risiken eingegangen, ich wäre weise gewesen!“ Diese Unterhaltungsformen, so unbeschwert sie auch sein mochten, zeigten eine kathartische Wirkung, selbst wenn der Lohn trivial, belanglos und unbedeutend war. Einige Sendungen scheinen in direktem Zusammenhand mit Hervés parodistischen Werken zu stehen: La „Roue de la Fortune – die Verbindung ist offensichtlich -, „Tournez Manège !“– das Spiel  von Liebe und Zufall, wie man so schön sagt: Le Jeu de l’amour et du hasard (1730) von Pierre Carlet dit Marivaux (1688-1763).

Mathilde Ortscheidt (Mephisto), Chor und Statisten © Christophe Raynaud De Lage

 

Kurz gesagt…

Die Freude an der Parodie, das Wesen des Lachens, das Le Petit Faust in seinen Anfängen auszeichnete, wiederzuentdecken, ist die Herausforderung dieser neuen Produktion, die die französiche  Regisseurin Sol Espeche vorschlägt. Als einer der Erfinder der Operette schuf Hervé ein verbindendes Werk, in dem jeder Zuschauer seinen Platzt findet, vom Neuling bis zum Kenner. Genau das wollte man wiederbeleben! Wir beobachten diesen Faust, einen widerwilligen Kandidaten im großen Spiel des Lebens: Er ergreift seine Chance, setzt, gewinnt, verliert… Und die Öffentlichkeit, aufmerksam, allgegenwärtig  und allmächtig, besiegelt sein Schicksal. Diese Macht gibt dem Publikum seinen Platz zurück und regt es an, seinen eigenen zu hinterfragen. Die Prüfungen, die Faust in diesen vermeintlich lustigen Spielen durchleidet, enthüllen einen Mann, dessen Handlungen und Gefühle seziert werden. Ist es aufregender, einen Mann scheitern oder triumphieren zu sehen? Unser eigenes Bild spiegelt sich darin wider und wir sind zweifellos froh, nicht an seiner Stelle zu sein. Es sei denn, uns reizt das Spiel der Grausamkeit?

Anaïs Merlin (Marguerite) © Christophe Raynaud De Lage

 

Hervé und das Palazzetto Bru Zane in Venedig…

Als das Palazzetto Bru Zane im Jahr 2013 beschloss, das Repertoire der leichten Oper in seine vorrangigen Forschungs- und Programmbereiche zu integrieren, tauchte die Figur von Hervé sofort als die des „romantischen“ Komponisten auf, der von der Nachwelt zu Unrecht vergessen worden war. Unter den Hunderten von Manuskripten, die in dem Bibliothèque-Musée de l’Opéra de Paris sorgfältig aufbewahrt werden, wurden Schätze – um nicht zu sagen Meisterwerke – entdeckt, sowohl im bescheidenen Repertoire von Melodien und komischen Sketchen als auch im Bereich großer lyrischer Werke in zwei oder drei Akten. Es war notwendig, schnell mehrherauszufinden und auch die Entwicklung des Stils des Autors besser zu verstehen, wurden Werke aus seiner Jugend: Le Compositeur toqué (1847), Le Retour d’Ulysse (1862), aus seiner Reifezeit: Mam’zelle Nitouche (1883) oder aus der mittleren Periode der Jahre 1860-1870, in der die verwirrendsten Partituren entstanden –, insbesondere: Les Chevaliers de la Table ronde (1866) und V’lan l’oeil (1867), wider „auszugraben“ um  dem heutigen Publikum eine zeitgenössische Adaption vorzustellen.  Es bleibt noch viel zu tun, sowohl im Bereich der Sinfonie-Musik – Ouvertüren, Tanzmusik und Ballette – als auch im Bereich der geistlichen Musik – insbesondere bei der Wiederbelebung der Messe de Saint-Roch (1865). Nach der Organisation von Kolloquien und Studientagen und parallel zur Entwicklung von Produktionen, die auf eine große Verbreitung abzielen, werden wissenschaftliche Arbeiten durchgeführt, darunter die Erstellung eines musikwissenschaftlichen Katalogs, die Veröffentlichung eines Gemeinschaftswerks und eines wichtigen ikonographischen Inventars.

Mathilde Ortscheidt (Mephisto) und Charles Mesrine (Faust) © Christophe Raynaud De Lage

 

Die Aufführung im Athénée-Théâtre Louis-Jouvet / Paris am 17. Dezember 2025:

 

Ein kleiner Faust sieht sich im Spiegelbild des Fernsehens…

Mit Le Petite Faust greifen der französische Dirigent Sammy El Ghadab und die Regisseurin Espeche den Faust-Mythos auf eine witzige urkomische Weise wieder neu auf, indem sie die komische Oper von Gounod mit der Opéra-Bouffe von Hervé vergleichen und die Karikatur des letzten noch einmal parodieren und dass: In einer Welt der Fernsehproduktionen der 70er Jahre!  

 

Mit Le Petit Faust profitiert Hervé vom Erfolg der großen Oper von Gounod, die 1869 in Paris Premiere feierte, vor allem aber auch, um sich über die Figuren lustig zu machen, die dem Original diametral entgegengesetzt sind, um das Publikum mit seiner virtuosen Bearbeitung der Handlung zu überraschen. Espeche verlegt all dies, wie schon zuvor mit ihrem brillanten Coup de roulis (1928) von André Messager (1853-1929), in die Welt des Fernsehens. Diesmal greift sie auf einige Kultsendungen- und Programme zurück und modifiziert oder fügt Teile des gesprochenen Textes ein, insbesondere für die Rolle des Patrick Lepion, gespielt von dem allgegenwärtigen französischen Bariton Maxime Le Gall, der aber hier nur wenig zu singen hat. Aber sind nicht ungehemmtes Theater, Exzesse, absurde Situationen und ein Feuerwerk an Wortspielen die Hauptzutaten der Werks, das Hervé vertont hat? Die Übertragung funktioniert total!

Mathilde Ortscheidt (Mephisto) und Charles Mesrine (Faust). © Christophe Raynaud De Lage

 

Der Vorhang hebt sich für eine Kinder-Show im Fernsehen, moderiert von einem gewissen Doktor Faust, gespielt von Hervé selbst [?]! Der französische Tenor Charles Mesrine  verleiht der Figur mit seiner gutmütigen und offenen Stimme eine leicht verwirrte Persönlichkeit, die mit jeder Situation überfordert ist. Ein unzufriedener Zuschauer murmelt etwas, bevor er auf die Bühne stürmt: Es ist Valentin, gespielt von dem lauten, resoluten und entschlossenen französischen Bariton Philippe Brocard. Er ist mit seiner Schwester Marguerite gekommen, einem rotzfrechen kleinen Mädchen, deren Stimme durch die französische Sopranistin Anaïs Merlins beeindruckend verstärkt wird. Er kann auf jeden Fall dieses ungezogene Mädchen nicht diesem alten Mann, der nichts von der Liebe versteht, anvertrauen  – somit bietet er nur die „Definition“ an, wie der Moderator von „Question pour un champion“ - : Jetzt kann er aber diese freche Göre ihm getrost anvertrauen! Valentin macht sich daraufhin gelassen auf den Weg zur Kaserne, begleitet von einem „Soldatenchor“, dessen Anfangstöne an Gounod erinnern, der aber ansonsten aus einer reinen Slapstick-Komödie besteht.

 

Méphisto im Weiblichen…

Wie kann der prüde Arzt sich nur so leicht von dieser Verführerin Marguerite verführen lassen? Er muss vom Teufel besessen sein? Da erscheint ein weiblicher Méphisto in der Gestalt der französischen Mezzo-Sopranistin Mathilde Ortscheid, deren Stimme eher gedämpft als bissig ist und bereit ist, ihm seine Jugend zurückzugeben. Der Pakt ist besiegelt! Befreit von der Last der Jahre, hat Faust eine neue Obsession: Marguerite zu seiner kleinen Frau zu machen. Heiraten? Welch eine Idee! Unser Dämon malt ihm mit einer Arie von unerwarteter Zartheit „Dans l‘ombre  d’un rêve“ die Reize des Idylls aus. Vergeblich! Erst auf der Bühne der „Tournez Manège“ wo die Teilnehmer zu einem  frenetischen Walzer paradieren, findet er seine Geliebte wieder. Gekleidet wie ein Rockstar, trällert sie ein „Pif! Paf! Pan!“ - sehr im Stil von Jacques Offenbach (1819-1880) -, dessen Beginn an eine kurze Anspielung auf Hector Berlioz‘ (1803-1869) „ Marche Hongroise“ aus La Damnation de Faust (1846) erinnert.

 

Die jungen Leute flirten, paraphrasieren dabei  sowohl die Dorffestszene als auch die Gartenszene aus Gounods Oper… und verfallen dann in einen burlesken Zickzackkurs zu Ehren des „Vaterlandes“ [sic]. Das Duell mit Valentin nimmt die Form eines Ringkampfes an und nicht länger ist es ein „fein ziselierender Goldpokal“, sondern ein „sehr schickes Paar Hosenträger“, das im „Klagelied des König von Thuné“ besungen wird. Von Loft Story gelangen wir zu Gym Tonic, einer im Fernsehen übertragenen Hölle, in der sie ewig zum Rhythmus einer „schrecklichen Farandole“ schwitzen müssen.

Applaus-Photo © Christophe Raynaud De Lage

 

Obwohl die schauspielerischen Leistungen der verschiedenen Darsteller in diesem „Kleinen Faust“, in dem der gesprochenen Dialog im Vordergrund steht, durchaus lobenswert sind, könnte man sich vielleicht doch einen etwas temperamentvolleren Chor erwünschen. El Ghadab scheint im Orchestergraben auf Nummer sicher zu gehen: Hervés Komposition hingegen würde von etwas mehr Überschwang und Brillanz profitieren. Zweifellos waren das Ensemble Les Frivolités Parisiennes in ihrem Element!

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