Neubrandenburg, Konzertkirche, Finale Festspiele Mecklenburg-Vorpommern, IOCO

Grandioses Festspielfinale
Begeisterung für NDR Radiophilharmonie und Anastasia Kobekina
Der 35. Jahrgang des Musiksommers der Festspiele Mecklenburg-Vorpommern (13. 6. - 14. 9. 2025) ist seit vergangenem Sonntag Geschichte. Mit einem großen Orchesterfinale in der Neubrandenburger Konzertkirche wurde der Schlusspunkt unter einen Festspieljahrgang gesetzt, von dem Intendantin Ursula Haselböck sagte: „Es war ein sehr großer Sommer für uns“. Mit 136 Konzerten – 57 davon ausverkauft - an 96 Orten und ca. 67 000 Besuchern näherte man sich wieder statistischen Rekordwerten, denen einmal mehr durchweg glanzvolle künstlerische Leistungen hinzuzufügen wären. Eine der in jeder Hinsicht herausragenden war die „residence“ der Cellistin Anastasia Kobekina. Sie musizierte in MV erstmalig 2014, dann des öfteren, um in diesem Jahr mit 20 Konzerten und inzwischen als Weltstar gefeiert nachhaltige Begeisterung zu entfachen. Sie musiziert einfach hinreißend, kann ihr Publikum in kürzester Zeit buchstäblich verzaubern, ja hypnotisieren – und tut dies alles mit verblüffender, absolut mühelos scheinender Selbstverständlichkeit. Sie macht nicht Musik; sie ist Musik! Ein Glücksfall, den auch Ursula Haselböck mit strahlenden Augen bestätigte.

Besagter Glücksfall prägte dann auch das Neubrandenburger Finale. Auf dem Programm: Ralph Vaughan Williams Fantasia on a Theme by Thomas Tallis für Streicher, Robert Schumanns Sinfonie Nr. 3 Es-Dur „Rheinische“ und dazwischen Edward Elgars Konzert für Violoncello und Orchster e-Moll op.85. Ausführende: Die NDR Radiophilharmonie unter Stanislav Kochanowsky und Anastasia Kobekina.
Da konnte man schon vor dem Konzert sagen: Herz, was willst du mehr! Ein Orchester der Sonderklasse, eine Solistin, für deren Gestaltungsfähigkeit und -eindringlichkeit einem nur noch Superlative einfallen und ein Programm, dessen zu erwartender, garantiert scheinender romantischer Wohlklang auch gewichtige Bedeutungen einschloss.
Prägnantestes Beispiel war Elgars Cellokonzert. Es gehört inzwischen zu den Standards der Celloliteratur, und das eben nicht wegen etwa besonderer virtuoser Ansprüche. Sie sind nicht ausgespart, dominieren aber nicht. Sie sind Teil eines Konzeptes, das man gern und nicht unberechtigt als „Vermächtnis“ einer stilistisch spezifisch englisch geprägten Lebens- und Komponierleistung bezeichnet hat. Viel sehr Persönliches spielt dabei eine Rolle, auch Politisches – der 1. Weltkrieg war gerade erst beendet – besonders aber wohl eine ganz bestimmte, eher traditionell bleibende Position des Komponisten bezüglich nationaler und internationaler musikalischer Entwicklungen. Gleichwohl ist das Werk weniger von Resignation bestimmt, eher vom wirkungsmächtigen, erinnernden Rückschauen seines 62jährigen Schöpfers.

Der Solistin war es zu verdanken, dass der dabei sichtbare gefühlshafte Reichtum in seiner ganzen Vielfalt zum Klingen kam. Sie schaffte es, mit ungemein beeindruckendem Spiel denkbar unterschiedlichste Emotionen bloßzulegen und den Hörer auf eine knapp halbstündige Reise durch ein bewegtes und bewegendes, vielfach geradezu balladesk „redendes“ „Innenleben“ mitzunehmen. Sie erwies sich auch hier als Meisterin in der Gestaltung feinster klanglicher Nuancen. Und das in riesiger Breite; zwischen vereinsamt wirkender, verhauchender lyrischer Melancholie, melodisch-elegischer Verträumtheit, aber auch mal spielerisch-scherzhafter oder – wie im Finale – dann doch recht munter und musikantisch daherkommender Vitalität. Da konnte man nur gebannt zuhören! Und staunen!
Neben Elgar war es Ralph Vaughan Williams, der zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert die Musik Englands wieder ins europäische Spiel brachte. Auch er mit einem gewaltigen Gesamtwerk und dem „Prädikat“ eines englischen Nationalkomponisten. Bevor er seine neun Sinfonien schrieb, lotete er mit diversen anderen Orchesterkompositionen die Möglichkeiten dieses Genres aus. Frucht dieser Bemühungen war unter anderem oben genannte Fantasia, deren letzte Fassung übrigens zeitgleich mit Elgars Cellokonzert entstand (1919). Es ist dies ein Viertelstunden-Stück für in mehrere Gruppen geteilte Streicher, auch Soli, deren thematisches Material auf eine achtchörige Motette (Spem in alium) des großen englischen Organisten und Vokalkomponisten Thomas Tallis (um 1505-1585) basiert. Das war gut anzuhören, zumal die Radiophilharmoniker der großen, vielfach geteilten Streicherbesetzung viele unterschiedliche klangliche Nuancen abgewinnen konnten und dem Werk damit einen dynamisch recht abwechslungsreichen Verlauf sicherten. Auffällig aber und von besonderem Reiz war, dass Williams melodisch und harmonisch etwas aus dem Rahmen fallende, weil bi- und modaltonale Tonsprache dadurch akzentuiert wirksam wurde und wache, vielleicht zunächst auch etwas irritierte Neugier provozierte. Eine zeitgenössische Kritik schrieb: „Das Werk zeichnet den Komponisten als jemanden aus, der ganz aus dem Trott des Alltäglichen herausgekommen ist.“ Dazu passt eine gegenwartsnahe musikwissenschaftliche Einschätzung, die das Stück als „frühes Meisterwerk“ des Komponisten einordnete (Jürgen Schaarwächter, 2006). Für unsere eher marginale Kenntnis der englischen Musik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts dürfte diese Aufführung als eine Bereicherung zu werten sein.

Blieb ein Finale, das der bisher so reizvollen wie vielfach gedämpften Stimmung eine romantisch wuchtige Aufhellung beschied: Die entsprechende Lichtgestalt: Robert Schumann. Romantik pur natürlich auch hier. Aber eine, für die Dirigent Kochanowsky und seine Philharmoniker rechtens keinen Aufwand scheuten, um jedem aufkeimenden Gefühl von bloßer Schwärmerei dasjenige schwungvoller Vitalität entgegen zu halten. Und da bietet die „Rheinische“ in ihren fünf Sätzen jede Menge begeisternder und hier geradezu lustvoll präsentierter Varianten. Ein Schumann-Bild, das man so offensichtlich kraftvoll und selbstbewusst im Schaffen des Meisters nicht oft findet, hier in Neubrandenburg aber in „beredter“, weil Menschen, Landschaften, Architektur und Brauchtum geradezu assoziativ bemühend, mit Händen greifbar schien: mit Glanz, Freude, ja Jubel und fast schon überschäumender Aktivität (1. Satz), dunkel im Melos, gedämpfter, gemütvoller, dennoch beschwingt bis zum Scherzhaften (2. Satz), innig im Melodischen (3. Satz), majestätisch und feierlich, episch in strahlender Akkordik (4. Satz) bis zur sorglos übermütigen, verspielt-spielerischen und spritzigen Fröhlichkeit eines finalen Triumphes. Da war so recht etwas los, nicht nur auf der Bühne, sondern auch in den Gemütslagen eines dann enthusiasmiert beifallfreudigen Publikums.
Was für ein Abchluss – nach vierteljährlichem Konzertmarathon.
Den nächsten sollte man sich schon vornotieren: 2026 wird der Festival-Sommer vom 13. Juni bis zum 12. September stattfinden. Der Festspielfrühling beginnt am 13. März 2026 (Vorverkauf läuft bereits) und endet am 22. März. Der Vorverkauf für den Sommer 2026 startet am 21. November 2025.