München, Residenztheater, WER LEBT, STÖRT – Tankred Dorst, IOCO

Zum 100. Geburtstag Tankred Dorsts begeistert das Residenztheater mit einer szenischen Lesung von "Herr Paul": pointiert, grotesk und hochkomisch. Ein kleines Kammerspiel über Widerstand, Kapitalmacht und einen Rentner, den man einfach nicht loswird.

München, Residenztheater, WER LEBT, STÖRT – Tankred Dorst, IOCO
Residenztheater © Sandra_Then


Szenische Lesung aus „Herr Paul“ zum 100. Geburtstag von Tankred Dorst

Ergötzliche und virtuose Lesung mit angedeuteter „Hinrichtung“ eines trägen, nicht unterzukriegenden Rentners

von Hans-Günter Melchior

Also da trafen sie sich, die bewährten Könner des Residenztheaters. Voran Manfred Zapatka, der den Herrn Paul gab und wie alle anderen auch aus einem vorbereiteten Text las. Paul wurde mit seiner Schwester Luise, gesprochen von Luise Russek, fast mietfrei ins Hinterhaus einer alten Seifenfabrik abgeschoben, wo er sich so gut wie nie von der Stelle rührte. Getrennt von der Ehefrau, eben mit seiner Schwester zusammen wohnend. Ein ruhiger Bürger, der kaum merkbar existierte, zumindest keine Probleme machte. Wäre da nicht jener Jungunternehmer oder Möchtegernunternehmer Helm gewesen.

Rita Russek, Linda Bluemchen, Manfred Zapatka, Robert Dölle, Nicola Mastroberardino © Residenztheater

Szenisch („gespielt“) gelesen von Nicola Mastroberardino, beredt unterstützt von der Schwester Lilo, Linda Blümchen. Ein Möchte-Gern-Kapitalist, der mit Hilfe des Finanziers Schwarzberg, gegeben von Robert Dölle, das Anwesen zu einer Fabrik, einer Seifenfabrik, umbauen will. Was den Auszug der beiden Bewohner, eben Paul mit Schwester erforderlich machte. Und auf deren Widerstand trifft. Sie wohnen hier und wollen hier wohnen bleiben, mag die ganze Welt aus einstürzen. Der Kampf der Kleinen gegen die Macht des Kapitalismus im Mini-Format. Der Fortschritt als menschlicher Rückschritt. Es entsteht ein diffuses Palaver, hautsächlich zunächst zwischen Helm und Paul, wobei Letzterer sich erfolgreich und Helm zur Verzweiflung bringend, bemüht, ständig vom eigentlichen Sachverhalt abzulenken und vom Hundertsten ins Tausendste zu kommen. Zur Verwirrung trägt zusätzlich die spät aus dem Besuch der Oper „Aida“ (sie bekam eine Freikarte) heimgekehrte Schwester Luise bei, die an der Sache vorbeiredet und erst spät begreift, worum es eigentlich geht. Alles mutet etwas beschränkt, kleinbürgerlich-bescheiden und ein wenig spießig an. Und ist doch ein Beispiel für den Kampf der kleinen Leute gegen das mächtige Kapital. Die eigentlichen Dramen spielen sich im Kleinen ab. Und es ist, wie nebenbei, ein köstliches Verwirrspiel, dem der junge Helm ersichtlich immer weniger nervlich gewachsen ist. Er steht unter der Macht des Kapitals. Es wird diskutiert und an der Sache vorbeigeredet. Und plötzlich hat Helm, mit der Geduld am Ende, von seiner Schwester Lilo ausgehändigt, ein riesiges Schlachtmesser in der blutigen Hand, womit angedeutet wird, was im Schauspiel auf der Bühne nachdrücklicher und bildhafter gezeigt werden kann: Helm erledigte den Pseudomieter Paul, zerhackte ihn förmlich in seine Einzelteile. Ein vom Autor offenbar bewusst ins Grelle, Übertriebene transponierter Akt der Verzweiflung.

Rita Russek, Linda Bluemchen, Manfred Zapatka, Robert Dölle, Nicola Mastroberardino © Residenztheater

An jener Grenze, wo das Grausame ins Absurde übergeht. Im Stück auf der Bühne freilich wird diese Szene zu einem der zentralen Themen. Denn der zerhackte Paul kehrt unversehrt zurück. Als einer von den Bürgern, die nicht unterzukriegen sind und letztlich obsiegen. Offenbar eine vom Autor beabsichtigte Kampfansage gegen den rücksichtslos um sich greifenden Kapitalismus. Das muss nicht explizit gezeigt werden. Das weiß man ja alles, wenn man sich ein wenig im Werk Tankred Dorsts auskennt und die Bezüge zu anderen Stücken kennt. Großes Lob für das Ensemble. Eine konzentrierte, zu Recht mit herzlichem Beifall bedachte szenische Aufführung im fast familiären Rahmen des gemütlichen Raumes „Zur schönen Aussicht“. Und eine schöne, verdienstvolle Erinnerung an den so unerschöpflich produktiven Autor Tankred Dorst.

Szenische Einrichtung: Cornelia Maschner
Dramaturgie Almut Wagner

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