München, Residenztheater, ROMEO UND JULIA – William Shakespeare, IOCO

Die Schauspieler, wohlgemerkt nur die jungen unter ihnen, turnen auf dieser Art Denkgerüst voller sich kreuzender Gedanken und Verstrebungen herum, dass es einem schwindelig werden könnte.

München, Residenztheater, ROMEO UND JULIA – William Shakespeare, IOCO
Residenztheater © Sandra Then


Waghalsigkeiten

von Hans-Günter Melchior

Wenn man es nicht besser wüsste, könnte man meinen, in eine Turnhalle geraten zu sein. Auf der Bühne ein hohes, fast gotisch filigranes Gerüst aus Stahlverstrebungen, eingeteilt in Etagen, zuweilen in Stufen, Treppen und so weiter, dass man denkt: da kommen die doch nie rauf, geschweige denn heil herunter. Und wie sie rauf kommen. Die Schauspieler, wohlgemerkt nur die jungen unter ihnen, turnen auf dieser Art Denkgerüst voller sich kreuzender Gedanken und Verstrebungen herum, dass es einem schwindelig werden könnte. Von hoch oben nach unten, federleicht, bewundernswert sportlich und fit, Rolle vorwärts: dann stehen und danach zeigen, was eine tüchtige Frau, ein sportlicher Mann ist, und was man danach schauspielerisch drauf hat (Bühne Marlene Lockemann). Da bleibt einem manchmal schon die Luft weg. Was für ein brillanter Einfall neben der schauspielerischen sportliche Leistung des Ensembles! Bravo Mädels und Jungs. Als altem Knaben bleibt einem da zuweilen der Atem weg …, hoffentlich hat sie/er sich da nicht weh getan. Aber nichts da. Stehen und Text, Bühne frei für das eigentliche Spiel. Atem holen als Zuschauer. Nichts passiert.  

Barbara Horvath, Lea Ruckpaul © Birgit Hupfeld

Dazu die großartige Musik der großartigen Musiker: Cello: Eugen Bazijan; Reeds: Jan Kiesewetter; Holzblasinstrumente: Bettina Maier, Synthesizer: Samuel Wootton.Und damit er ja nicht vergessen wird: Niels Voges an der Live-Kamera. Es dauert nicht lange und schon hält man wieder den Atem an. Ein Abend voller Bewegung, über den sich ein Text ergießt, der zum Teil mit fremden Texten angereichert wurde. Bewegung und nochmal Bewegung. Als wäre der Teufel los. Vor allem die Frauen, oh ja, die Frauen stehen im Vordergrund der teils sehr beeindruckenden, teils ein wenig irritierenden (man muss sich manchmal um den Überblick bemühen) Inszenierung. Sie wurde von Elsa-Sophie Jach besorgt, die das Ganze freilich höchst bewusst und mit feministischem Elan aufbereitet hat. (Verzeihung, wenn Loriots flapsiger Spruch ins Lachgedächtnis drängt: „Die Frauen sind aus dieser Gesellschaft nicht mehr hinweg zu denken.“). Mit Recht natürlich, so sehr mit Recht, nicht zuletzt, weil der Benvolio, von Lisa Stiegler verkörpert, eine sehr wohltuende, nämlich friedliche Figur machte. Freilich wird dennoch, um es nochmal zu betonen, viel geturnt und gekämpft, dass einem als Zuschauer Hören und Sehen vergehen. Aber nein –, nicht dass die Aufführung etwa misslungen wäre, schon gar nicht deshalb, ganz im Gegenteil, es ist ein atemberaubendes Spiel, ein richtig aufregender Abend (dass man danach einen Wein brauchte) –, nicht immer textgetreu, vielmehr wurde das Stück mit fremden Texten angereichert. Keineswegs zum Nachteil der Aufführung, wie überhaupt die vielen Raufereien und waghalsigen Turnleistungen dem Stück ein fast atemloses Tempo verliehen, dass man kaum aus der Aufregung herauskam. Die Geschichte selbst ist derart bekannt, gehört fast schon zum allgemeinen Bildungsgut, dass einige Hinweise genügen sollten: Die Familien Capulet und Montague sind verfeindet, bekämpfen sich bis aufs Blut. Es gibt gelegentliche kämpferische Auseinandersetzungen mit Waffen auf den Straßen Veronas.

Lea Ruckpaul, Vincent zur Linden © Niels Voges

Romeo Montague (Vincent zur Linden) schleicht sich maskiert auf einen Maskenball der Capulets, wo er Julia Capulet (herausragend Lea Ruckpaul, was für eine herausragende Leistung: politisch kühl einerseits, andererseits leidenschaftlich und verliebt) kennenlernt und sich in sie verliebt. Seine Liebe wird von Julia erwidert. Der Beichtvater Lorenzo (Nicola Mastroberardino) und Julias Amme (Pia Händler) arrangieren ein heimliches Zusammentreffen). Die Eltern Julias (Oliver Stokowski) und Lady Capulet (Barbara Horvath) haben andere Pläne, sie widersetzen sich der Verbindung ihrer Tochter mit dem Sohn ihrer Feinde. Es kommt zu offener Auseinandersetzung auf der Straße in Verona zwischen Romeo und Tybalt (Thomas Lettow). Romeo verweigert den Kampf, sein Freund Mercutio (Patrick Isermeyer) kämpft für ihn und wird getötet. Daraufhin tötet Romeo Tybalt, was den Konflikt mit den Capulets verschärft. Romeo wird nach Mantua verbannt. Graf Paris (Pujan Sadri) will Julia mit Einwilligung von deren Eltern heiraten. Sie folgt einem Plan Lorenzos und vergiftet sich zum Schein. Das Gift versetzt sie nur einen todähnlichen Schlaf. Romeo soll durch einen Brief informiert werden. Der Brief erreicht ihn nicht. Als er nach Verona kommt, glaubt er, Julia habe sich vergiftet. In seiner Verzweiflung nimmt Romeo Gift und stirbt. Als Julia aufwacht nimmt das Drama seinen Lauf. Sie will dem toten Romeo folgen. Sie folgt dem Geliebten in den Tod, indem sie einen Gifttrank nimmt (andere Version: Sie ersticht sich). In der Inszenierung Elsa-Sophie Jachs wird das tatsächliche oder das fiktive (?) Geschehen in einem Film über der Bühne dargestellt. Es soll wohl das historisch verbriefte Geschehen zeigen. Dann wäre das nicht gefilmte, sondern gespielte, die tatsächliche Alternative. Eine Art literarische Wahrheit. Denn auf der Bühne unterhalb der Filmleinwand tritt zum Schluss Julia als Lebende auf. Eine Szene, die freilich Interpretationsprobleme aufwirft, Interpretationsversuche anregt: Julia, die sich dem Todestrank verweigert. Die Siegerin über das wie schicksalhaft über die Gesellschaft verhängte Drama, die dem Leben gehörende Frau. Doppelbödig. Wenn es so wäre: Ein glänzender Einfall. Die sieghafte Frau der Zukunft, die die Führung übernimmt. Großer Beifall.

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Hamburg, Elbphilharmonie, "Kintsugi" + "Silentium", Leon Gurvitch Ensemble / Hamburger Kammerballett, 16. Mai 2025

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Hamburg, Elbphilharmonie: LEON GURVICH ENSEMBLE und das HAMBURGER KAMMERBALLETT–16. 5. Während der in Hamburg lebende Komponist und Pianist Leon Gurvitch in letzter Zeit bereits auf mehrere erfolgreiche Auftritte in der Hamburger Elbphilharmonie zurückblicken konnte, war es für das Hamburger Kammerballett am Abend des 16. Mai eine Premiere. Dieses von

By Wolfgang Schmitt