München, Residenztheater, GSCHICHTN VOM BRANDNER KASPER – Franz Xaver Kroetz, IOCO
Was Franz Xaver Kroetz brillant „aufgesetzet und angerichtet“ hat und was Philipp Stölzl nicht minder brillant auf die Bühne brachte, war schlechthin mitreißend und den Seelengrund berührend.

von Hans-Günter Melchior
Gschichtn vom Brandner Kaspar
Volksstück in 4 Akten von Franz Xaver Kroetz frei nach Motiven von Franz von Kobell
Die Melancholie des Abschiednehmens
Es gibt Theaterstücke, da sucht man lange nach dem verborgenen Sinn der wilden Betriebsamkeit. Man sticht mit scharfen Gedanken in den prall gefüllten Ballon angeblicher Ideen und es kommt nichts als Luft heraus, in der ein paar unfertige Ideen wirbeln und das Gutgemeinte sich verkrümelt. Betriebsamkeit statt Inhalt. An diesem Abend im Residenztheater war alles anders. Was Franz Xaver Kroetz brillant „aufgesetzet und angerichtet“ hat und was Philipp Stölzl nicht minder brillant auf die Bühne brachte, war schlechthin mitreißend und den Seelengrund berührend. Da waren zwei Meister am Werk, von denen der eine, Kroetz – zum großen Bedauern des Rezensenten – längst angekündigt hat, sich zurückzuziehen. Als das, was er doch kann: als Theaterautor, Schriftsteller und Regisseur die Theaterlandschaft bereichern.

Was für ein Verlust für die Theaterkunst. Zum Stück im Einzelnen: Die Melancholie der Vergeblichkeit und des Abschiedsnehmens vom Leben zog wie ein schwarzer Schleier durch den Theaterraum. Da war der alte Brandner, dessen Frau (Miene Costa/Marietta Diehl) gerade nach alter bayerischer Übung oder Hoffnung zum Himmel auffährt. Zurück bleiben das junge Seferl, Enkelin Brandners und eben der Opa Kaspar Brandner. Vom Boanlkramer werden sie wie ein vor sich her redender und sich Mut zusprechender Schatten umschlichen, ohne dass der Sendbote des ewigen Lebens zunächst aktiv eingreift. Die drei, Florian von Manteuffel als Boanlkramer, Günter Maria Halmer als Kaspar Brandner und Josefa Brandner, Seferl, bestimmen vielmehr das Anfangsgeschehen, während der Boanlkramer mit dem Auftrag des Chefs, Michael Goldberg als Petrus, hadert und sich aufs Gestische beschränkt. Herrlich freilich das Gespräch, das der Boanlkramer im Vorspiel mit Petrus führt. Das gestelzte Hochdeutsch des Petrus wird dem deftigen Bayerisch des Boanl entgegengehalten und als grammatische Spielerei entlarvt, wo es doch ums Existentielle geht. Komödiantisch höchst gelungen. Bereits am Anfang der alte philologische Streit um den Konjunktiv. Selbst noch im Himmel. „Do waar i wieda amoi“. So der Boanl. Hochgestochen der Petrus in Hochdeutsch: „Wenn er nur da wäre, dann ist er nicht da“. Boanl: „Wennst moanst“. Petrus: „Ich geb ihm einen Hinweis: Konjunktiv!“ Boanl: „Do warat i. Host mi – warat, Gscheithaferl, für die krawattische Listn von morgen“.

Im Grunde geschieht nichts Außergewöhnliches. Das gewöhnliche Leben eben. Außer dass etwas mehr gestorben wird. Das Seferl besteigt mit dem Großvater einen Berg. Der Opa stöhnt und tut sich schwer. Altersbeschwerden halt. Er braucht einen „Kerschgeist“. Das Seferl hält ihm vor, dass die Oma ihn für „ganz einen Odrahta“, einen ganz Gewitzten (die Interpretationsspanne ist lang) gehalten hat. Der Opa wehrt sich gegen den angekündigten und vorbestimmten Tod. Er will unbedingt 89 werden. Macht den Boanl im Verlauf des weiteren Geschehens auf dem Land und in den Bergen besoffen mit dem Kerschgeist. Führt ihn aufs Glatteis einer Wette. Beschummelt beim Kartenspiel, indem er in Abwesenheit des Boanls (der ist gerade beim „Biesln“) den Grasober, die vereinbarte Gewinnkarte, klaut, d.h. seinem eigenen Kartenstoß zufügt. Der Besitz des Grasobers ist nach der Vereinbarung zwischen dem Boanl und Brandner der Garant für ein längeres Leben (eben bis 89). Pacta sunt servanda: Verträge sind einzuhalten. Die Familienverhältnisse werden kurz gestreift. Seferl (Elisabeth Nittka) ist die Enkelin des Brandners. Ihre Mutter (Maria Helgath/Anna Veit), schlägt aus der Art. Verlässt die ländliche Heimat, taucht im modernen Outfit auf. Sie lebt in Rosenheim, später in den USA. Sie betont dies, als ob sie, noch in Rosenheim wohnend, bereits deshalb eine Frau von Welt sei. Als sie später in die USA auswandert, ist der Bruch mit dem ländlichen Milieu endgültig. Brandner hat sich ohnehin längst von der Tochter innerlich getrennt, er bezeichnet sie gegen den Protest Seferls als „Flitscherl“ (so etwas wie eine etwas sehr „leichtlebige“ Frau, vielleicht sogar mehr). Eine Begegnung zwischen Mutter und Tochter findet nicht statt. Mit Seferl unternimmt Brandner eine Bergwanderung, die erste Altersschwächen offenbart. Schwere Schicksalsschläge treffen Brandner. Seferl, die so geliebte Enkelin, wird, erst 18 Jahre alt, von einem wild gewordenen Stier getötet. Seines letzten psychischen Halts beraubt, wird er depressiv. Er wird müde und des Lebens überdrüssig und klammert sich gleichzeitig daran. Der Boanl sieht jedenfalls seine Chance. Er lädt Brandner zu einem Kurzbesuch im Himmel ein, nur zu so einer Besichtigung.

Danach könne er wieder auf die Erde zurückkehren. Brandner willigt ein. Sie schaukeln nach oben. Eine lustige Fahrt. Es gefällt ihm da oben, wo seine Frau, seine Enkelin sich befinden/ auf die Art der Unsterblichen leben. Brandner bleibt freiwillig. Freilich ist da oben alles ewig. Es gibt keine Rückkehr. Ein vager Versuch Brandners, das Paradies doch wieder zu verlassen, erweist sich als unmöglich. So ist das Paradies Glück und Gefangenschaft zugleich. Glück und Unglück. Denn Brandner hängt an der Heimat. Zudem ist er ein Praktiker des Alltagslebens. Einer, der zurechtkommt, an seiner Heimat genug hat. Über „Minga“ nicht hinausgekommen ist. Überhaupt: Brandner ist der Lebensmensch an sich. Säuft, auf die Jagd geht, Freude hat. Einer, der mit dem Teufel spielt und sich nicht vor ihm fürchtet. Letztlich ein Zweifler, ein verschmitzter Spieler, der mit den geistigen Ingredienzien der Kirche spielt, sie sich zunutze macht. Ein Weltmensch. Will er also am Schluss doch wieder heraus aus der idealen Welt? Vielleicht. Kroetz lässt die Frage offen. Ideale können auch belasten. Und einen „Kerschgeist“ gibt es da oben auch nicht. Heilige Reden und Engel und abermals Engel. So schleicht sich wohl am Ende doch ein Bedauern bei Brandner ein. Zu viel Ideales ist anstrengend. Immerhin sind dort seine Enkelin und seine Frau. Keine alles in allem ganz uneingeschränkt lustige Himmelfahrt also, wie sie der Boanl wohl versprochen und Brandner beim beabsichtigten Kurz- und Informationsbesuch wohl erwartet hatte.

Sondern im Grunde nur Zucht und Ordnung und strenge Gläubigkeit, unsinnliche Heiligkeit. Da flirren einem die Engel um die Ohren und singen fromme Lieder, anders als in der misslungenen wirklichen Welt, wo man auf die Jagd gehen kann, saufen kann und wo man am Schluss sogar sterben darf, wenn es genug ist mit dem Leben. Und dieses ist der Mühe nicht mehr wert. Das ewige Leben? Das Paradies? Auch das ist am Ende also eine Illusion. Ein frommer Glaube. Ein wenig zu steril ist es dort, dachten sich wohl/vielleicht? Kroetz und Stölzl. Zumindest wurde höchst gekonnt ein Abgleiten ins Kitschig-Kindergläubige und uneingeschränkt Schöne vermieden. Und man durfte eben auch ein wenig schmunzeln beim Genuss dieses rundum gelungenen Theaterabends. Halt. Damit es ja nicht vergessen wird. Es wäre unverzeihlich: noch ein Wort zu den Musikerinnen und Sängerinnen. Unbedingt. Ein Ereignis für sich. Mitnichten ein Nebenschauplatz oder bloße Begleitung. Sondern eine Aufführung für sich. Eine wunderbar einfühlsame Musik führten sie auf. Schön und gescheit, nicht auftrumpfend, lärmend, sondern einfühlsam. Sich geradezu ins Ambivalente der Aufführung einschleichend, es zuweilen ausfüllend und interpretierend. Man musste unwillkürlich manchmal von der Bühne wegsehen, um genauer hören zu können, was die Musik sagte. Man konnte gar nicht anders. Meisterhaft. Bravissimo.
Es war eine Aufführung für sich, die diese Frauen darboten: Akkordeon: Maria Helgath/Maria Hafner; Kontrabass: Anna Veit/Katrin Auer; Gitarre: Anna Emmersberger/Lea Reichel. Musikalische Leitung und Komposition: Michael Gumpinger. Bei allem noch die gelegentlichen Wechsel von den Instrumenten zur Bühne, mitten hinein ins Schauspielgeschehen. Zum Beispiel übernahmen Maria Helgath und Anna Veit wechselnd die Rolle der Rosetta Brandner, der Tochter Kaspar Brandners. Am Schluss: Stehende Ovationen für eine gelungene Aufführung.