Mannheim, OPAL, Oper am Luisenpark, LUCREZIA BORGIA – Gaetano Donizetti, IOCO
Zwischen Macht, Verleumdung und Mutterliebe: Donizettis selten gespielte Lucrezia Borgia entfaltet am Nationaltheater Mannheim große Belcanto-Tragik. Eine starke Inszenierung, musikalisch glänzend geführt und getragen von herausragenden Sängerleistungen.
von Uschi Reifenberg
Gaetano Donizetti (1797-1848)
LUCREZIA BORGIA, Opera seria in einem Prolog und zwei Akten
Zwischen Liebe, Macht und Tod
In Donizettis Oper erscheint die berüchtigte Renaissancefürstin „Lucrezia Borgia“ als psychologisch komplexe Frau in einer von Männern dominierten Welt, die, gefangen zwischen Intrigen, Verleumdung und Mutterliebe, an den unauflösbaren Widersprüchen scheitert. Das Nationaltheater Mannheim hat das selten gespielte Belcanto-Juwel in einer starken Inszenierung, musikalisch herausragend und mit hochkarätigen Sängerleistungen nun auf die Bühne des OPAL gebracht. Eine Produktion mit außergewöhnlicher Strahlkraft! Um die historische Lucrezia Borgia (1480-1519) ranken sich zahlreiche Mythen und Zuschreibungen: Als Tochter des Papstes Alexander VI. wurde sie als politisches Werkzeug instrumentalisiert, als Objekt dynastischer Geschäfte benutzt und von ihrer Familie, den einflussreichen „Borgias“ für deren Machterhalt eingesetzt. Lucrezias Ruf als Giftmörderin, Blutschänderin und femme fatale machte sie zur Projektionsfigur für Ängste, Faszination und Vorurteilen, an der sich die Fantasien der Nachwelt, insbesondere der männlichen, immer wieder entzündeten. Ein praller Dramenstoff, der nichts auslässt.
Die schauerliche Story der Oper geht auf Victor Hugos Theaterstück „Lucrèce Borgia“ von 1833 zurück, in der sich die Titelheldin als schuldhafte Figur von ihren vergangenen Verbrechen nicht lösen kann, inkognito ihren Sohn zuerst rettet, dann aber zu seiner unfreiwilligen Mörderin wird. Der schlechte Ruf eilt ihr voraus, Negativ-Schlagzeilen prägen das öffentliche Bild ihrer schillernden Popularität, ein klarer Fall von „Cancel-Culture“. Darauf legt die erhellende Inszenierung von Regisseurin Rachel Thiel und ihrem Team den Fokus, findet einen nachvollziehbaren Ansatz mithilfe des Boulevard-Journalismus, der lustvoll und vulgär die soziale und berufliche Demontage von Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens betreibt.
Der Bühnenbildner Fabian Wendling hat das Einheitsbühnenbild mit übergroßen Schlagzeilen in schwarz-weiß-roten Lettern ausgekleidet - den Farben einschlägiger Printmedien, die allesamt Verleumderisches über Lucrezia und ihren mafiosen Familienclan kolportieren: „Lucrezia Borgia - Heilige oder Hure“, „Wer hat Angst vor Lucrezia Borgia“, „Die Borgia wollen den französischen Hof infiltrieren“, „Orgia“. Buchstaben werden aus dem Kontext herausgelöst, hin- und hergeschoben oder dienen als Möbelstücke. Ein Gefängnis, aus dem es kein Entrinnen gibt, in dem Macht, Liebe und Schicksal aufeinanderprallen, und der unglücklichen Schuldigen nur die Hoffnung auf Erlösung durch ihr Mutterglück bleibt. Dies wird in der zentralen Szene deutlich, wenn die maskierte Lucrezia als Diva im ausladenden Gewand erscheint (die opulenten Kostüme sind von Rebekka Dornhege Reyes und Isabel Garcia Espino) und zum ersten Mal auf ihren Sohn trifft. Es entfaltet sich ein Seelendrama, das die Ambivalenzen und Verstrickungen aufflammen lässt, eine Szene, die Florian Arnholdt (Lichtregie) in gleißendes Licht getaucht hat, im Kontrast dazu später die absolute Finsternis, in der die Handylämpchen des Chores unheimlich aufblitzen. Gennaro wird, nichts ahnend von Lucrezias Identität, sofort von Leidenschaft zu der Unbekannten gepackt, und gesteht die Sehnsucht nach seiner unbekannten Mutter, deren einziges Andenken ein Brief ist, den er immer bei sich trägt -, hier spricht wohl unbewusst die Stimme des Blutes. Erst zum Schluss, wenn er im Sterben liegt, enthüllt Lucrezia, dass sie seine Mutter ist.
Die Protagonisten sind ein Glücksfall für diese Aufführung: besonders die herausragende Estelle Kruger als Lucrezia und der junge koreanische Tenor Sung Min Song in der Rolle des Gennaro. In ihrer ersten gemeinsamen Szene entfaltet sich ein bewegendes musikalisches Seelendrama, das die komplexen Verstrickungen von Mutter und Sohn deutlich macht.
GMD Maestro Roberto Rizzi Brignoli ließ Donizettis Partitur in perfekter stilistischer Authentizität, Phrasierung und Balance strahlen, stützte jederzeit die Stimmen, die ins orchestrale Geflecht transparent und sensibel eingebunden wurden. Die Musiker des NTO ließen unter Rizzi Brignolis Führung federnde Italianitá hören, straffe Tempi und frei atmenden Kantilenen, jederzeit homogen der Dialog zwischen Orchester und Singstimmen. Mit variabler Dynamik lotete Rizzi Brignoli die vielfältigen Emotionen des Dramas aus, von den düsteren Farben im Vorspiel bis zu den hochdramatischen Aufschwüngen. Eine Freude!
Estelle Kruger bietet Belcanto vom Feinsten und bewältigt mit Bravour die herausfordernde Riesenpartie. Ihr edles Timbre strömt in weiten Gesangslinien, strahlende Spitzentöne, perfekt sitzende Koloraturen und fein ziselierte Ornamentik sind immer Ausdruck ihrer Befindlichkeit, jede Regung spiegelt sich in ihrer beweglichen Sopranstimme. Sie blüht zwischen verhaltener Lyrik, dramatischer Attitüde und tiefer Verzweiflung auf. Mit ihrer Auftrittsarie „Come e bello“ setzt sie sogleich vokale Glanzlichter und offenbart ihr tragisches Schicksal. Hier erlebt man keine dämonische Giftmischerin, sondern eine verletzte Frau, die ihre Identität zwischen Verleumdung und Rache zu wahren sucht. In ihrer großen Szene „Era desso Il figlio mio“ am Ende wächst sie zu tragischer Größe, wenn sie erkennen muss, ihren geliebten Sohn, zusammen mit seinen verleumderischen Freunden unabsichtlich vergiftet zu haben.
Die anspruchsvolle Partie des Gennaro meistert Sung Min Song mühelos, überzeugt mit seinem jugendlichen, biegsamen Tenor, der die emotionalen Spannungen zwischen Leidenschaft und Verzweiflung zum Ausdruck bringt. Mit Schmelz und Strahlkraft führt er seine Stimme in jeder Lage, zeigt die Entwicklung vom unbekümmerten Schwärmer zum zerrissenen Helden und agiert kompromisslos, als er erfährt, dass seine Angebetete die verbrecherische Lucrezia Borgia ist. In seiner Wut zerstört er das Familienwappen und schändet Lucrezias Namen. Das verstümmelte Wort „Orgia“ - ohne das B-, offenbart die sexuellen und zügellosen Ausschweifungen des Familienclans. Sung Min Song wird als Publikumsliebling am Ende ebenfalls frenetisch gefeiert.
Bartosz Urbanowicz als Fürst Alfonso, Lucrezias Ehemann, glaubt an eine Affäre zwischen Gennaro und Lucrezia und schwört in seiner Eifersucht auf Rache. Bedrohlich, mit charakteristischer griffiger Färbung führt er seinen voluminösen Bariton, in der hohen wie in der tiefen Lage trumpft er mit dramatischem Impetus auf. In seiner Ehre gekränkt, besteht er unnachgiebig auf der Vernichtung Gennaros.
Die Mezzosopranistin Shachar Lavi gab der Hosenrolle des Orsini, Gennaros Gefährte und Vertrautem,jugendliche Frische und Unbekümmertheit, in ihrer Darstellung punktete sie mit viel Charisma. Ihr schöner Mezzo glänzt und funkelt in Donizetti'schen Verzierungen, vor allem in der leicht ansprechenden Höhe, bisweilen fehlt ihrer Stimme in der Tiefe die nötige Durchschlagskraft. Im Duett offenbarten die Freunde nicht nur Kameradschaft, sondern deuteten auch ihre homoerotische Beziehung an.
Christopher Diffey gab Alfonsos Spitzel Rustighello schönste Tenorfarben und markantes Profil, das er mit dämonischem Gelächter unterstrich.
Sung Ha (Gubetta), Raphael Wittmer (Liverotto), Dominic Lee (Vitellozzo), Ilya Lapich (Petrucci), Thomas Berau (Astolfo) und Zacharias Galaviz - Guerra (Gazella) ließen keine Wünsche offen und komplettierten das ausnahmslos hohe Niveau der Aufführung.
Viel Applaus für den Herrenchor des NTM unter der Leitung von Alistair Lilley, der seine vielfältige und gewichtige Rolle mit Bravour bewältigte.
Große Begeisterung und Bravorufe für diese außergewöhnliche Belcanto-Oper!