Mannheim, NTM Alte Schildkrötfabrik, THE LIGHTHOUSE - Kammeroper Peter Maxwell Davies, IOCO Kritik, 14.05.2023
THE LIGHTHOUSE - Der Leuchtturm - Peter Maxwell Davies
- Nach einer wahren Begebenheit: 1900 - die gesamte Besatzung des Leuchtturms auf einer abgelegenen Insel im Nordwesten von Schottland verschwindet spurlos -
von Uschi Reifenberg
Bis heute ist ungeklärt, was im Jahre 1900 wirklich passiert ist, im Leuchtturm auf der abgelegenen unbewohnten Insel Elean Mor, die zur kleinen Inselgruppe der Flannan Island gehört vor der Küste im Nordwesten Schottlands.
Damals verschwanden die drei diensthabenden Leuchtturmwärter spurlos, den Offizieren des Versorgungsschiffes, das unterwegs zur Insel war, bot sich eine seltsame und beunruhigende Situation. Das Licht im Leuchtturm war erloschen, es gab kein Lebenszeichen von den Männern, im Inneren des Leuchtturms wurden sie von Ratten überfallen, die Uhren waren stehengeblieben, der Tisch gedeckt, eine Tasse zerbrochen, ein Stuhl umgefallen; so, als wäre der enge Raum fluchtartig verlassen worden. Auch waren im Logbuch unklare Eintragungen über die Wetterverhältnisse, die sich später als falsch herausstellten.
Die drei Offiziere wollen furchteinflössende Gestalten im dichten Nebel wahrgenommen haben, tierähnlich, wie Meeresungeheuer, Piraten oder gar Außerirdische, denen die Wärter möglicherweise zum Opfer gefallen sein könnten. Diese Eindrücke schilderten die drei Offiziere in einem Verhör, in dem das Verschwinden der Leuchtturmwärter aufgeklärt werden sollte. Sie verstrickten sich in widersprüchliche Aussagen und es bestand der Verdacht, dass die Männer des Versorgungsschiffes möglicherweise etwas mit dem Verschwinden der Leuchtturmwärter zu tun haben könnten …
Es häuften sich Fragen, Spekulationen und Theorien über das Geheimnis des Leuchtturms, das sich nie lüften ließ, und auch in den folgenden Jahren immer wieder Anlass für Erklärungsversuche skurrilster Art bot.
Da ihnen wohl keine Schuld nachgewiesen werden konnte, lautete das Urteil des Gerichts: „Tödlicher Unglücksfall aus ungeklärter Ursache“. Man vermutete, dass die Leuchtturmwärter letztendlich im Sturm von einer Riesenwelle fortgespült wurden.
Die spannende Story mit Thriller-Qualitäten war seitdem Stoff für Autoren, Filmemacher und Komponisten.
Der produktive britische Starkomponist Peter Maxwell Davies (1934-2016), der selbst zurückgezogen auf Sanday, einer der Orknay Inseln, nördlich von Schottland lebte, war mit den Naturgewalten der rauen und unberechenbaren Landschaft bestens vertraut; er komponierte und textete dort 1980 nach den historischen Begebenheiten eine knapp 80 minütige Kammeroper für drei Sänger und zwölf Instrumentalisten, die in der Tradition der Gespensteroper steht und zu den populärsten Werken des Komponisten zählt.
Die Regisseurin Rachel Thiel, Bühnenbildner Fabian Wendling, Rebekka Dornhege Reyes Kostüme und Florian Arnhold, Licht, besprochene Vorstellung am 5. Mai 2023, erzeugten auf der länglichen Spielfläche der Ersatzspielstätte der Alten Schildkrötfabrik (das NTM Mannheim wird zur Zeit saniert, ist geschlossen) mit wenigen zentralen Ausdrucksmitteln eine beklemmende Atmosphäre, die das Publikum bereits beim Betreten des Theaterraumes in die mysteriöse Szenerie hineinzieht. In einem dunkel gehaltenen Bühnenraum sind in großem Abstand voneinander drei Tische aufgestellt, von der Decke hängt mittig ein Korb mit drei Bündeln, der von langen Schiffstauen gehalten wird. Die Protagonisten sitzen schon vor Beginn der Vorstellung an den Tischen, kritzeln ungeduldig mit Kreide darauf, was an Morsezeichen erinnert. Leuchtstäbe sind angebracht, erhellen wie Blitze das Dunkel, geben dem Raum Struktur, werden dann auch in den Händen der Offiziere zu erleuchtenden Requisiten der Handlung. Nebel wabert empor und hüllt die Szene immer mehr ein, lässt die Naturkulisse einer nicht beherrschbaren bedrohlichen Meereslandschaft entstehen.
Im Prolog wird das seitlich im Zuschauerraum positionierte Horn mit rhetorisch wuchtigen Einwürfen zur fragenden Instanz einer Verhörsituation, dem die Offiziere mit unterschiedlichen Schilderungen des Erlebten begegnen; es entstehen Visionen der Ereignisse, Phantasmagorien des Unheimlichen.
Die Erzählungen der Männer sind durch Überblendungen der verschiedenen Ebenen von Realität, Erinnerungen und Fantasien uneindeutig und vielfältig interpretierbar.
Peter Maxwell Davies lässt die Fragen unbeantwortet, er schreibt: "Es gab viele Spekulationen darüber, wie und warum die drei Wärter verschwunden waren. Diese Oper bietet keine Lösungen des Rätsels an, sondern versucht anzudeuten, was durch das gespannte Verhältnis zwischen den drei Männern, die schon viel zu lange auf Ablösung harrten und durch den Sturm im Leuchtturm festgehalten wurden, möglicherweise passiert ist“.
Eine unter die Haut gehende Szene der beeindruckenden Personenführung von Rahel Thiel bleibt in Erinnerung, wenn die Männer beim Nachstellen der Geschichte die imaginären Ratten mit ihren Gürteln erschlagen und von Ekel und Grausen gepackt werden.
Die drei hervorragenden Protagonisten Christopher Diffey (Sandy /1.Offizier), Timothy Connor (Blazes /2. Offizier), und Bartosz Urbanowicz (Arthur /3. Offizier), schieben nun die Tische zusammen, ziehen Wetterjacken an, die sie dem Korb entnehmen und die Grenzen zwischen den Identitäten von Offizieren und Leuchtturmwärtern beginnen zu verschwimmen. Im ausweglosen Aufeinanderbezogensein in der Isolation, dem vielschichtigen Spannungsfeld von Realität und Fiktion, entspinnt sich ein Psychodrama von äußerster Intensität.
Lichter blinken, es herrscht plötzlich eine unheimliche Stille, Schatten steigen auf, dann lassen sich die Gespenster der Vergangenheit nicht mehr zurückhalten, ergreifen die Gequälten in ihrer klaustrophobischen Enge immer mehr.
Beim Kartenspiel geraten Sandy und Blazes in Streit, um die Spannungen zu lösen, sollen Lieder gesungen werden. Blazes beginnt mit einem Folksong, vom Orchester begleitet mit Geige, Banjo und Kastagnetten; in heiterer Unbekümmertheit schildert er den Mord an einer alten Frau aus Habgier, für den man nicht ihn selbst, sondern seinen Vater erhängte.
Timothy Connor gestaltet den Blazes darstellerisch und stimmlich absolut beeindruckend, hinter seiner kumpelhaften Fassade lauert ein unberechenbarer Krimineller, der sein früheres Verbrechen in seiner schrecklichen Tragweite noch nicht erfasst zu haben scheint. Sein geduldiger Ansprechpartner ist die Schnapsflasche, der er seine Tat, auf dem Tisch balancierend, im Alkoholnebel anvertraut. Seinen ausdrucksstarken und flexiblen Bariton führt er mühelos in Falsetthöhen und begeistert mit seiner intensiven Gestaltung.
Christopher Diffey als sanft anmutender Sandy gibt in einer viktorianischen Ballade, umrahmt vom Cello und einem verstimmten Klavier, Einblick in seine schwierige Jugend. Seine sexuelle Sehnsucht offenbart er in seiner Erzählung von der Vergewaltigung eines jungen Mädchens, die sich als seine kleine Schwester herausstellt. Er erinnert sich ihrer in einer innigen Liebesromanze voller Schönheit und Wehmut, dabei entledigt er sich seines Oberteils, was einer physischen und psychischen Entäusserung gleichkommt und weckt -trotz seines schlimmen Vergehens- Verständnis für sein Verlangen. Diffeys lyrischer Tenor klingt klangschön und homogen in allen Lagen, strahlt mühelos, auch in extremen Höhen, dabei immer mit größter Ausdruckskraft. Sensibel formt er in seinem Song Phrasen voll schwärmerischer Innigkeit und Melancholie.
Facettenreich, stimmlich tadellos, war Bartosz Urbanovicz als Arthur zu erleben. Mit den Ergüssen seiner Mitbewohner ist er gar nicht einverstanden; er outet sich als religiöser Eiferer und trägt, mit der Bibel in der Hand, ein choralartiges Lied über das Goldene Kalb und das Jüngste Gericht vor, unterstützt von Klarinette, Trompete und Tamburin. Arthurs selbstgerechte Überheblichkeit erweist sich als Heuchelei, hinter der Fassade frömmelnder Attitüde verbirgt sich ein gewalttätiges Potenzial. Mit üppigem, dramatisch auffahrendem Stimmeinsatz und klangschönen Basstiefen brilliert Urbanowicz und sorgte für spannungsreiche Momente.
Wunderbar vereinigen sich die Stimmen der drei konträren Charaktere, die sich in der Not aneinander klammern, im homogen aufleuchtenden Terzett. So kommt die Schuld jedes Einzelnen ans Licht, wird die verdrängte Vergangenheit an die Oberfläche gespült, die in Gestalt der Bestien aus den Untiefen des Unbewussten nach oben drängt und die Männer immer mehr in den Wahnsinn treibt.
Während draußen der Sturm tobt und Arthur das Nebelhorn betätigt, verdichtet sich die Bühne immer stärker zum Angstraum; grelle Lichtreflexe blitzen auf. gezackte Schatten springen an der Wand entlang, verwandeln sich in Visionen der früheren Verbrechen der Männer.
Rachel Thiel entwickelt hier die Handlung aus einem Stoff, aus dem Horrorfilme gemacht werden: ein Pelzmantel hängt plötzlich in gespenstischer Beleuchtung vor einer Tür, der Blazes an seinen Mord an der alten Frau erinnert, Arthur kasteit sich in religiösem Wahn, Sandy beschwört früheren Kindesmisbrauch, „alles Elend steigt wieder empor“.
In dieser unheilvollen Zuspitzung drängt sich das viel beschworene Zitat von Jean Paul Sartre ins Bewusstsein: „Die Hölle, das sind die Anderen“, oder sollte es eher wie bei Thomas S. Eliot heißen: „Die Hölle, das sind wir selbst“.
Unter gewaltigen Fortissimo- Schlägen des Orchesters eskaliert die Situation, die Männer streiten, fallen übereinander her, „die Bestie ist ausgebrochen“. Kommt die erhoffte Erlösung in Form des Versorgungsschiffes oder sind die Unglücklichen Opfer ihrer eigenen Ängste geworden?
An den Fenstern stehen plötzlich wieder drei Offiziere, gekleidet wie am Anfang, blicken hinaus. Dann räumen sie den verwüsteten Raum auf, deuten Gesten an: nichts hören, nichts sehen, nichts sagen. Sind es nun die Offiziere, oder doch die Wärter …
Die zwölf Orchestersolisten unter der musikalischen Leitung des österreichischen Dirigenten Michael Zlabinger gestalteten die hochexpressive und vielgestaltige Musik von Davies exzellent, hochmotiviert und mit äußerster Intensität. Die Musik besticht durch dissonanzreiche Harmonik, volkstümliche Passagen, Stilmittel der Filmmusik und Farbigkeit. Große Spannungen erzeugt Zlabinger in den „unheimlichen“, Passagen, in denen die Extreme von weit gespannten Tonhöhenunterschieden oder klanglichen Verfremdungen eingesetzt werden.
Der Dirigent erweist sich als Fels in der Brandung und schifft die Musiker sicher durch alle Klippen, zumal das Orchester seitlich von der Bühnenmitte platziert wurde und die Koordination mit den Sängern sich nicht immer einfach gestaltet.
Das Publikum in der ansprechend renovierten „Alten Schildkrötfabrik“ war restlos begeistert, und spendete langen und heftigen Beifall.
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