Mannheim, Nationaltheater Mannheim, ANATEVKA - Musical - Jerry Bock, IOCO Kritik, 24.07.2023

Mannheim, Nationaltheater Mannheim, ANATEVKA - Musical - Jerry Bock, IOCO Kritik, 24.07.2023
NTM - Alte Schildkrötfabrik © Christian Kleiner
NTM Spielstätte - Alte Schildkrötfabrik © Christian Kleiner

ANATEVKA - FIDDLER ON THE ROOF - Musical Jerry Bock

- Basierend auf Geschichten von Scholem Aleichem, Genehmigung von Arnold Perl, Buch Joseph Stein -- Musik: Jerry Bock, Gesangstexte: Sheldon Harnick, Deutsch: Rolf Merz und Gerhard Hagen -

von Uschi Reifenberg

Der Aufbruch in ein neues Leben

Mit den Segnungen der uralten jüdischen Traditionen regeln die Bewohner des fiktiven ostukrainischen Schtetls mit dem Namen Anatevka zu Beginn des 20. Jahrhunderts die wichtigsten Fragen des Lebens. Sie trotzen einerseits tapfer der Armut, den Sorgen und Nöten des Alltags, geben andererseits aber auch den Freuden des Zusammenlebens genügend Raum, feiern Feste, trinken Wodka und ertragen das Unabänderliche mit einer gehörigen Portion Humor, auch wenn das Damoklesschwert der zaristischen Herrschaft allgegenwärtig über ihnen schwebt.

Die Tradition bestimmt das Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft, sie „erhält das seelische Gleichgewicht“, ist Stütze und Leitfaden, und wird von keinem der Einwohner ernsthaft in Frage gestellt. Das wird sich aber im Laufe des Stückes massiv ändern, dafür sorgen drei Frauen: die Töchter von Tevje dem Milchmann, dem Protagonisten des Musicals und Symbolfigur für das Schicksal der jüdischen Kultur schlechthin.

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Aber: „die Welt ist im Umbruch begriffen“ weiß Perchik, der Intellektuelle und Vorbote der aufscheinenden Revolution, Tevjes zweiter Schwiegersohn „wider Willen“, der am Ende aus politischen Gründen nach Sibirien in die Verbannung geschickt wird.

Scholem Aleichem (1859-1916) gilt als Begründer der jiddischen Literatur, er verfasste die Erzählung „Tevje der Milchmann“ (1885-1916), die zum Klassiker avancierte, und ein Künstlertrio zur Komposition jenes Musicals inspirierte, das als Fiddler on the Roof 1964 am Broadway uraufgeführt, mit Preisen überhäuft wurde und vier Jahre später unter dem Namen Anatevka seinen Siegeszug über die Bühnen der Welt antrat.

Der „Fiedler auf dem Dach“ wiederum wurde durch ein Bild von Marc Chagall (1913) angeregt, der selbst als mittelloser russisch-jüdischer Einwanderer nach Paris in seinem berühmten Bild das Leben der osteuropäischen Juden als Gratwanderung und in ständiger Bedrohung zwischen Absturz und Überlebenswillen verewigte.

Das Buch zum Musical verfasste Joseph Stein, die Gesangstexte Sheldon Harnick, Jerry Bock komponierte die packende Musik, ein Stilmix aus Klassik, Klezmer, slawischer Folklore, und Jazz, angereichert mit Hits, die bis heute „die Spatzen von den Dächern pfeifen“ wie „Wenn ich einmal reich wär“, „Zum Wohl“, oder „Jahre kommen, Jahre gehen“.

Das Inszenierungsteam mit Regisseur Markus Bothe, Robert Schweer (Bühne), Justina Klimczyk (Kostüme), Yoko El Edrisi (Choreografie), Damian Chmielarz (Licht), nutzten den intimen und wandlungsfähigen Spielort der Alten Schildkrötfabrik bestens aus, zentrierten in der Mitte des Raums eine quadratische Spielfläche, während das Publikum von zwei Seiten auf die Bühne blickt, sich quasi gegenübersitzt. In der Mitte der Bühne ist das kleine Orchester als „die Seele des Stückes“ (Markus Bothe) in einer leichten Vertiefung platziert, wodurch Dirigent und Musiker witzigerweise immer wieder in die Bühnenhandlung mit einbezogen werden; die Figuren bewegen sich nach vorne, hinten oder um das Orchester herum, in der „Quadratur des Kreises“. Seitlich begrenzt wurde die Spielfläche durch fragile Wände, die auch, vorwiegend von der „Staatsmacht“, mühelos durchbrochen werden können. Markus Bothe überzeugt mit sensibler Personenführung, und verzichtet auf jegliche folkloristische Elemente: alles ist in den Farben des jüdischen Gebetsschals  schwarz und weiß gehalten. Das einheitliche Bühnenbild ist ein weißer Raum, in dem die schwarz gekleideten Figuren agieren, was ein Höchstmaß an Abstraktion und Reduktion auf das Wesentliche vermittelt, die Verbindung der Menschen untereinander kennzeichnet, aber auch für die Polarität von Tradition und Fortschritt, Glück und Tragik steht.

NTM Mannheim / ANATEVKA hier Rebecca Blanz (Hoddel), Henriette Blumenau (Zeitel), Natalia Shumska (Chava) © Christian Kleiner
NTM Mannheim / ANATEVKA hier Rebecca Blanz (Hoddel), Henriette Blumenau (Zeitel), Natalia Shumska (Chava) © Christian Kleiner

Und nicht zuletzt wird die Armut gezeigt, die unfreiwillig asketische Lebensweise der Gemeinschaft, der Tevje so gerne entfliehen würde, was er in seinem sehnsuchtsvollen Bekenntnis  „wenn ich einmal reich wär“ traumverloren ausmalt. Seine Humanität und Empathie zeigt Tevje, wenn er dem hungrigen Perchik sein einziges Brötchen überlässt, das er in der Milchkanne versteckt hat, an der er ebenso schwer trägt wie bisweilen an seinem Schicksal.

Schwarze Tische sind fast die einzigen Requisiten, die aber vielseitige Verwendung finden: zusammen, oder übereinander gestellt und umgedreht, sowie für die vierzehn Menschen „zum Symbol für Behausung, für ein kleines Stückchen Heimat werden“ (Markus Bothe).

Anatevka ist nicht zuletzt auch ein Stück über das Erwachsenwerden, über Identität und Emanzipation, über die schwierige und manchmal schmerzhafte Abnabelung vom fest-gefügten Familienverbund, was sich in den Einzelschicksalen der drei heiratswilligen Töchtern Tevjes in anrührender Weise ereignet.

Gemäß der Tradition hat in der Gemeinschaft die Heiratsvermittlerin Jente (herrlich schrill und aufgedreht: Claudia Renner) die Töchter „an den Mann zu bringen“, was hier selbstverständlich nicht gelingt, alle haben ihren eigenen Kopf, denn „Wo die Liebe hinfällt“, ist das Verkuppeln, selbst mit einer „guten Partie“, hinfällig.

Die älteste Tochter Zeitel, von Henriette Blumenau sympathisch und willensstark gestaltet, soll den reichen, aber ältlichen Fleischer Lazar Wolf heiraten, den Thomas Berau, mit sonoren Edeltönen ausstattet. Sie liebt den armen Schneider Mottl, der auch wunderschön Geige spielen kann und von einer neuen Nähmaschine träumt.

Tevje willigt letztendlich in die Verbindung mit dem armen Schneider ein, der „auch das Recht auf ein kleines bisschen Glück hat“, Dominik Maringer gibt ihm mit unsicherem Habitus und viel Charisma Profil.

Mit Hilfe eines fingierten Traumes überzeugt Tevje seine Frau Golde von der Verbindung, in dem er die „Familiengeister“ der Vergangenheit in Gestalt der Großmutter und der Witwe Lazar Wolfs wiederauferstehen lässt. Ein Kabinettstück voller Witz und Skurrilität, in dem Henriette Blumenau und die Sopranistin Rebecca Blanz in Doppelrollen alle Register ihres stimmlichen und schauspielerischen Könnens zogen. Chapeau!

Hodel, die zweite Tochter, ist fest entschlossen, Perchik zu ehelichen, der sich als Student und Weltverbesserer auf gefährlichem Terrain bewegt. Die Sopranistin Rebecca Blanz überzeugt mit facettenreichem Sopran und Kompromisslosigkeit - sie wird Perchik später in die Verbannung folgen, von Silvester von Hößlin mit viel Elan und jugendlichem Übermut ausgestattet.

Zerrissen zwischen seinen Idealen und der Vaterrolle, lässt Tevje die Tochter ziehen. In Momenten des Zweifels und der Hilflosigkeit wendet sich der gläubige, bibeltreue Mann an Gott, der ihm in seiner dialektischen Selbstbefragung („einerseits-andererseits“) zur Seite steht, auch wenn er bisweilen humorvoll mit ihm hadert. Diese Szenen der Reflexion, stets in gelbes Licht getaucht, erscheinen als Vorläufer der aufkommenden Psychoanalyse Siegmund Freuds um die Jahrhundertwende.

NTM Mannheim / ANATEVKA © Christian Kleiner
NTM Mannheim / ANATEVKA © Christian Kleiner

Bei der Hochzeitsfeier von Zeitel und Mottel wird nicht mit jüdischen Klischees gespart, und die traditionellen Bräuche ausgelassen zelebriert: man rückt die Tische zusammen, auf denen Männer und Frauen gemeinsam tanzen, was nicht der Tradition entspricht, denn „große Veränderungen bahnen sich an in unserem Land“.

Die Staatsmacht in Gestalt des Wachtmeisters (Thomas Jesatko: verhalten gefährlich, pantomimisch brillant, mit heldenbaritonalen Tönen) sowie des jungen Russen Fedja, beide grün gekleidet, brechen gewaltsam durch die Wand und zerstören in einem brutalen Gewaltakt Mottels Geige. Unheilvolle Erinnerungen werden wach, denn „es geschehen abscheuliche Dinge …“.

Nichts ist nun mehr wie es war: Tevje verstößt seine Tochter Chava, da sie sich für den  Christen Fedja entschieden hat, ein mutiger Tabubruch, der dem Vater keine Versöhnung erlaubt. Und zu allem Übel müssen die Menschen auch noch ihre Heimat binnen drei Tage verlassen, um den antisemitischen Pogromen zu entkommen. Das leidgeprüfte jüdische Volk sieht sich wieder einmal Vertreibung und Exil gegenüber und muss alles zurücklassen: „Anatevka war nicht der Garten Eden, was gab‘s denn hier schon groß…“. Als Überlebensstrategie erkennen sie im Tragischen immer auch das Komische, nehmen ihre Träume und die Hoffnung mit auf ihre Reise und machen sich mit Zuversicht auf zu neuen Ufern.

Klaus Brömmelmeier als Tevje ist das Kraftzentrum dieser Produktion, eine energetische,  facettenreiche und lebenskluge Persönlichkeit, zentrale „Anlaufstelle“ in der Gemeinschaft, liebender Vater, und Ehemann, mit tiefgründigem Humor und Glauben an eine bessere Welt. Unsentimental, innerlich, singt er sein berühmtes Lied „wenn ich einmal reich wär“, eine subtile Figur der leisen Töne.

Chantal de Moign gibt seiner Frau Golde selbstbewusste und herb-mütterliche Züge, das gemeinsame Duett mit Tevjeist das Liebe“ gerät zum aufrichtigen Liebesbeweis.

Die „Leseratte“ Chava zeichnet Nataliia Shumska sympathisch zurückhaltend, ihren Auserwählten Fedja gibt Bene Greiner einerseits radikal, andererseits feingeistig.

Das ausgezeichnete Orchester unter der Leitung von Jürgen Goriup ließ keine Wünsche offen, die dreizehn Musiker wechselten virtuos zwischen den Stilrichtungen, mal mit schwungvollen Musicalmelodien, Jazzelementen, dann wieder einfühlsam begleitend, von  Jürgen Goriup perfekt ausbalanciert. Besonders begeisterte die brillante Klezmer - Klarinette, die mit einer Vielzahl an Ausdrucksnuancen die Stimmungsverläufe nachzeichnete.

Sängerisch und darstellerisch ebenfalls hervorragend: Uwe Eikötter als vergesslicher Rabbi, Daniel Wagner (Mendel), Susanne Scheffel (Schandel), Gerda Maria Knauer (Rifka), und Karl Adolf Appel (Mortschach).

Das Publikum in der annähernd ausverkauften Schildkrötfabrik, Foto oben, feierte Ensemble, Musiker und Dirigent mit anhaltendem Beifall. Eine meisterliche Produktion des NTM, das auch in der schwierigen Sanierungsphase wieder einmal seine außergewöhnliche Qualität unter Beweis stellte.