Mainz, Staatstheater Mainz, DIE TOTE STADT - Erich Wolfgang Korngold, IOCO
Die Beziehung ist toxisch
Ljerka Oreskovic Herrmann
Brügge ist keine tote Stadt, im Gegenteil, mit einem herrlichen alten Stadtkern und langer Geschichte, zieht der belgische Ort heutzutage (massenhaft) Touristen an. Doch in Erich Wolfgang Korngolds Oper ist das Leben daraus verschwunden, es ist ein dunkler Flecken in dem man nicht verweilen möchte. Korngold war gerade 23 Jahre alt, als er 1920 seine berühmteste Oper komponierte und diese nach 105 Jahren zum ersten Mal am Staatstheater Mainz gegeben wird. Das Team um die Regisseurin Angela Denoke hat es wörtlich genommen: Brügge ist nicht vorhanden, verloren im düsteren schwarz-nebeligen Bühnenraum, ohne Romantik oder einen Hinweis auf das reale Stadtbild. Muss auch nicht sein, der mögliche Kontrast zwischen einer an sich schönen Außen- und einer tristen Innenwelt fällt damit aber weg, denn das Seelenleben des „Helden“ Paul entspricht gänzlich dem Zustand Brügges. Er trägt Brügge in sich oder es ist seine Vision der Stadt: unwirtlich und irgendwie auch „schräg“. Die drei Holzhäuser (oder Hütten), die sich öffnen, neu zusammensetzen und gedreht werden, sind ziemlich geneigt; das Fallen ist nicht nur symbolisch gemeint. Für das Bühnenbild wie auch die ansprechenden Kostüme zeichnen Timo Dentler und Okarina Peter verantwortlich.

Dass es sich bei Denokes äußerst gelungener Regiearbeit, die selbst die Marie gesungen hat, um Traum und Wirklichkeit – jedoch miteinander nicht in Einklang gebracht werden können – handelt, wird gegen Ende der drei Bilder deutlich. Sie hat vor allem der Frauenfigur gutgetan, die nicht auf das allzu leichtgängige Motiv der Heiligen und Hure heruntergebrochen wird. Bei Denoke ist Marie respektive Marietta „auf Augenhöhe“ mit Paul, was von Nadja Stefanoffs Spiel atemberaubend bezeugt wird; auch stimmlich überzeugt sie vollkommen als lebenshungrige Marietta, zurückgenommener, und innerlicher als Marie. Im dritten Bild ist es ihr eindringlicher Gesang, den sie noch zu steigern weiß, der ihre Lebensfreude überwältigend und kraftvoll – ohne zu forcieren – mit jedem Ton und hervorragender Höhe in die Welt Brügges trägt. Ihr Sopran harmoniert hervorragend mit Corby Welchs Tenor. Im Gestus reduziert, was seine emotionale Blockade spiegelt, verleiht er dem trauernden und untröstlichen Witwer Paul eine unerwartete Größe, der am Ende die Diskrepanz zwischen Realitätsverlust und Sehnsucht erkennt und Erlösung sucht – anrührend und schmerzensreich ist sein Gesang, die Brüchigkeit, Verletzlichkeit und Einsamkeit der Figur stimmlich mit großer Variation über die drei Bilder hinweg beglaubigend. Beide – Stefanoff und Welch – leisten außerordentliches und unvergessliches.
Paul beklagt den Verlust seiner Frau, über ihren Tod kommt er nicht hinweg, er lebt in der Vergangenheit und bewahrt die Flechte ihres blonden Haares wie eine Reliquie auf. Einzig seine Haushälterin Brigitta versteht seine Pein, während Frank, sein Freund, ihn an die Realität erinnert. Da taucht im ersten Bild die Tänzerin Marietta auf, die seiner Frau – im wahrhaftigsten Sinne des Wortes – bis aufs Haar gleicht. Und neue Bedürfnisse bei Paul weckt, die die beiden – so die Regisseurin – in einer toxischen Beziehung enden lässt. Dass es daraus letztendlich keine befriedigende Lösung geben kann, keine jedenfalls, die beide entweder zueinander oder unversehrt wieder auseinander führen würde, versteht sich von selbst, und doch zieht es einen in den Bann, wie das komplizierte Beziehungsgeflecht unhaltbar und die Spannung steigernd in der Katastrophe mündet.

Paul kann nicht anders, der Druck seiner Frau nach ihrem Tod noch treu zu bleiben, engt seinen Handlungsspielraum, seine Lebens- und Gedankenwelt ein, alles ist für ihn buchstäblich tot und kann durch lebendige Wesen nicht belebt werden. Marietta, die glaubte über die Tote einen Sieg errungen zu haben, bezahlt mit ihrem Leben – ohne allerdings tatsächlich tot zu sein. Denoke gesteht ihr eine Beobachterrolle zu, die mit ansieht, wie Brigitta am Ende Paul erdrosselt und ihn – von ihm geradezu ersehnt – von seiner Qual erlöst. Das Ende ist in dieser Lesart irgendwie nicht traurig, sondern gewährt diesem Mann eine Befreiung aus seinem selbstgewählten Alptraum – Traum und Wirklichkeit fügen sich nicht zusammen, viel zu spät muss Paul erkennen, dass seine geliebte Marie nicht wiederkehrt und Marietta nur das Äußere mit seiner Frau gemein hat. Zu einer anderen Gefühlsverbindung ist er aber nicht fähig, auch nicht die zu Brigitta – was (nur) theoretisch eine Option hätte sein können. Karina Repova verleiht der Haushälterin Brigitta Statur, gesanglich ebenfalls auf hohem Niveau und einem beeindruckend unaufgeregten, aber sehr präsenten Spiel.
Zuvor geht auch die Freundschaft von Paul und Frank zu Bruch, als dieser ihm gesteht ebenfalls Marietta zu begehren, ja sogar ein Verhältnis mit ihr zu haben. Allzu leichtlebig und leichtsinnig ist sie, lebenslustig bezeugt von ihren Theaterfreunden, die in Pauls Augen ein blasphemisches Schauspiel aufführen. Brett Carters Frank/ Fritz besitzt eine gesangliche Wendigkeit und Geschmeidigkeit, auch seine Figurendarstellung überzeugt, er ist der realistische, in der Gegenwart verankerte Mann, dem es aber nicht gelingen wird, Paul aus seiner selbstgewählten Isolation herauszuholen.

Denokes Regiearbeit überzeugt, denn sie unterstreicht nicht nur die Modernität des Stoffes – Stichwort: toxisch –, sondern sie veranschaulicht regelrecht sezierend die Abgründe, Wunschträume und Gefühlsregungen realer Menschen, keiner Kunstfiguren und damit das unabwendbar nach sich ziehende Scheitern dieser – trotz aller Versuche und Anstrengungen das eigene Sehnen irgendwie in die kalte und prosaische Wirklichkeit zu übertragen; toxisch sind die Beziehungen tatsächlich, denn sie lassen das Gegenüber und seine Begierden außer Acht. Beglaubigt wird ihre szenische Arbeit durch das hervorragend disponierte Orchester unter der Leitung des neuen Mainzer Generalmusikdirektors Gabriel Venzago. Er und das Philharmonische Staatsorchester Mainz leisten Großartiges, es gelingt ihm „die Fülle an stilistischen Anleihen“ hörbar zu machen: Richard Strauss und Wagner, Gustav Mahler, Alban Berg und auch Arnold Schönberg klingen durch, die verschiedenen Stilmöglichkeiten ergeben aber ein „Korngold-Ganzes“, weil sie die jeweiligen Gefühlslagen abwechselnd hervorbringen, bestimmen und wieder neu zusammensetzen. Venzago fasst es prägnant zusammen: „Ein Kaleidoskop der Wiener Musikwelt aus dieser Zeit.“ Dass Korngold zusammen mit seinem unter dem Pseudonym Paul Schott schreibenden Vater das Libretto (nach dem Roman Das tote Brügge von Georges Rodenbach) anfertigte, unterstreicht die einheitliche Verfasstheit seiner Oper.
Der Chor des Staatstheaters trägt auch spielfreudig und sängerisch gut aufgelegt zum Erfolg des Abends bei. Zu den weiteren, ebenfalls hervorragenden Mitwirkenden, gehören: Dorin Rahardja als Juliette, Alexandra Uchlin als Lucienne, Collin André Schöning als Victorin/ Gaston, Myungin Lee als Graf Albert und Johannes Knieps als Gaston.
Ein spannender und anregender Opernabend, der vom Publikum zurecht mit großem Applaus bedacht wird.