Luzern, Theater, Peter Grimes - B. Britten, Luzern Festival 2025, IOCO

Luzern,  Theater, Peter Grimes - B. Britten, Luzern Festival 2025, IOCO
Luzerner Theater © Wiki commons


06.09.2025

 

EIN SENSIBLER PAZIFIST IN  EINEM SCHWARZEN JAHRHUNDERT…

 

PETER

What harbour shelters peace, away from tidal waves,

Away from storms! What harbour can embrace terrors

and tragedies? Her breast is harbour too where night

is turned to day.

 

CHORUS

Or measured cadence of the lads who tow some

entered hoy to fix her in their row. Or hollow sound

that from the passing bell to some departed spirit bids

farewell.

 

(Aus dem Finale / 3. Akt)

 

Von Crabbe bis Britten…

Der immense Erfolg der Uraufführung von Benjamin Brittens (1913-1976) Peter Grimes durch das Londoner Publikum am 7. Juni 1945 überraschte. Denn während die Oper ihren Zuschauern einen Spiegel vorhielt, konnten sie nur ein herzzerreißendes Gefühl entfalten, denn das so vermittelte Bild war so gewalttätig und brutal, dazu noch unterstrichen durch Brittens Musik. Im zweiten Akt, im Mutterland der Parlamente und der Habeas Corpus, bricht eine selbsternannte Miliz unter Führung des bürgerlichen Magistrats in Grimes‘ Hütte ein und verletzt damit das Gesetz und die Konvention der Privatsphäre, die das Verhältnis zwischen Staat und Bürgern in einer Demokratie regelt. Begleitet wird dies vom Klang einer Aufstands-Trommel und einem unisono singenden Chor, der davon spricht, Verleumdung oder Sünde mit heißem Eisen und Messer niederzuschlagen. Im dritten Akt ergreift eine gefährliche mörderische Trunkenheit Besitz von den Bewohners einer Bourg (Fischerdorf oder sehr kleine Stadt) und verwandelt das Walzerthema des Balls in Musik für eine Menschenjagd, nachdem eine opiumsüchtige, wohlhabende und vom Mord besessene Frau Grimes in den Selbstmord getrieben und ihn damit in Bedrängnis gebracht hat. Nichts dergleichen in The Borough (1810), einer Sammlung des Dichters George Crabbe (1754-1832), der sich in realistischer Weise und fernab der Romantik der Lyrical Ballads (1798) von William Wordsworth (1770-1850) und Samuel Taylor Coleridge (1772-1834), eines bescheidenen Themas annimmt, nämlich das des täglichen Lebens der Einwohner von Aldeburgh in all seiner Erbärmlichkeit, die Britten und seinem Freund, dem englischen Tenor Peter Pears (1910-1986), zu ihrer ersten gemeinsamen Oper inspiriert hat. In einem Brief zitiert Crabbe unter Berufung auf Richard III (1593) und Macbeth (1623) von William Shakespeare (1564-1616), einen gesetzlosen und alkoholkranken Fischer, der seinen alten Vater schlägt, grausame Freude daran hat, seine Lehrlinge zu misshandeln und der durch das Verbot, sie zu beschäftigen zu Müßiggang und Isolation gezwungen wird und im Wahnsinn stirbt, heimgesucht von den Geistern seiner Opfer. Es ist diese Figur, die Britten und Pears in den ersten Szenen und Dialogen der 1941 entwickelten Oper zu retten versucht hatte, bevor sie einen Librettisten finden.

Brett Sprague (Peter Grimes) und Chor © Emanuel Ammon / Festival Luzern

 

Im Februar 1942 nahmen sie Kontakt mit dem Romanautor Christopher Isherwood (1904-1986) auf, der gemeinsam mit dem Dichter Wystan Hugh Auden (1907-1937), dem „Papst“ der linken Intellektuellen, Parabeln im Stil von Bertold Brecht (1898-1956) für das Theater schrieb – The Ascent of F6 (2937) und On the Frontier (1938), für die Britten die Bühnenmusik komponierte. Im Jahr 1935 arbeiteten Auden und Britten, denen Auden sein Konzept der Kunstparabel vermittelte, gemeinsam  an Night Mail (1936) und Coal Face (1935) an  Dokumentarfilmen der GPO Film Unit unter der Regie von John Grierson (1898-1972), dessen Version von Kunst als Faktor des sozialen Fortschritts und der politischen Rolle des Künstlers in Filmen zum Ausdruck kommen, die das annehmen, was er „die kreative Behandlung der Realität“ nennt.

 

Nach Isherwoods Ablehnung nahm Britten im April 1942 Kontakt zu Montagu Slater (1902-1956) auf, einem Dichter, Literaturkritiker, Kommunist und Chefredakteur von The Left Review, einer mit dem Left Theatre verbundenen linken Zeitschrift von großer Qualität, den  Britten  bei der GPO Film Unit kennengelernt hatte. Slater, der sich dem realistischen Theater und den Interessen der Arbeiterklasse verschrieben hatte, bat Britten um mehrere Bühnenmusiken für Easter 1916 (1935), das dem Aufstand der irischen Patrioten gewidmet war, Stay Down Miner (1936), das von einem Bergarbeiterstreik inspiriert war, Pageant of Empire (1938) anti-imperialistische Satire und Old Spain (1939). Im Jahre 1939 widmete Britten ihm die Ballad of Heroes, eine Hommage an die britischen Kämpfer im Spanischen Bürgerkrieg, basierend auf Gedichten von Auden und dem Kommunisten Randall Carline Swingler (1909-1967).

 

Britten und Slater arbeiten begeistert zusammen. Ziel ist es, eine Gemeinschaft zu zeigen, deren Leben durch die Tragödie der Morde “erleuchtet“ wird, wobei Grimes, sehr ambivalent, die Fehler dieser Gesellschaft aufdeckt. Die Rolle ist damals einem Bariton zugedacht – weder Bass, die Stimme von Verrätern oder Schurken, noch Tenor, die der Helden – und Grimes ist immer noch ein Kinderquäler. Doch im April 1943 ermutigen Pears stimmlich Fortschritte, nachdem er Solist an der Sadler‘s Wells Opera geworden ist, wird Britten ihm die Rolle anvertrauen, was zu einem Perspektivwechsel führt. Slater hatte bereits die Episode mit der geächteten Miliz erfunden, um die Eliten der Bourg in den Tod des Lehrlings John zu verwickeln. Grimes, befreit von den Verbrechen, die Crabbe ihm vorwirft, wird zu einem Außenseiter der Gesellschaft, dessen Verhalten zwar entschuldbar, aber nicht verständlich ist. Im Sommer 1943 übernahm Eric Crozier (1914-1994), Regisseur des Wells, die Leitung der Opernproduktion und stellte sich Bühnenbilder des „selektiven Realismus“ vor. Das Libretto wurde nach seinen Anmerkungen sowie denen von Pears und Britten erheblich überarbeitet. Er führte das Scheitern von Paul Bunyan, einer Operette nach einem Libretto von Auden, die im Mai 1941 in New York uraufgeführt wurde, auf die verbale Pyrotechnik des Dichters zurück und beabsichtigte, die Kontrolle über sein Libretto und seine Vorstellung von Grimes zu behalten, einem Mann mit Visionen von Feuer, den Füßen im Schlamm und den Kopf in den Sternen. Jeder Hinweis auf Sadismus bei Peter Grimes oder auch auf homoerotische Beziehungen zu seinem Lehrling wurde eliminiert. Selbst Britten schrieb die Wahnsinnsszene im dritten Akt und ihre großartige Reprise mit dem Dichter Ronald Duncan (1914-1982) neu.

 

Das Individuum gegen die Masse…

Im Jahre 1946 veröffentlicht Slater seine eigene Version, Peter Grimes and other poems, doch das Libretto der Oper behielt seine sozialkritischen Züge bei und porträtierte einen Einzelnen gegen die Masse. Sein Vorwort wies darauf hin, dass die Kostüme der Produktion von 1945 eher denen des 19. Jahrhunderts als denen des späten 18. Jahrhunderts entsprachen und argumentierte, Crabbe habe den Geist und die Probleme des folgenden Jahrhunderts vorweggenommen. Crabbe, der Moralist, wurde dann zum Reformer wie Robert Owen (1771-1858), der Vater des britischen Sozialismus, ein Feind des Liberalismus, der die Arbeiterklasse nur in bloße Arbeitsmaschinen verwandelte. Während der Prolog in Prosa verfasst war, verwendete Slater für alle drei Akte den Tetrameter der beliebten Ballade, was zu markanten Phrasen, starken Symbolen und eindrucksvollen poetischen Bildern führte.

 

Inspiriert von dem sozialistischen Dichter George Bernard Shaw (1856-1950) und seinen Thesen-Stücken, die von den Regieanweisungen zu intensiven konkretisierenden Charakterporträts werden. Die Bourg präsentiert streng unterteilte Gesellschaftsklassen! Auf der einen Seite die Dreifaltigkeit von Macht, Gesetz, Kirche und die wohlhabenden Rentiers mit Swallow, Anwalt, Richter und Bürgermeister; der Reverend Horace Adams, einem Anglikaner, der sich mehr um seine Rosen als um seine „religiösen Schafe“ kümmert; Mrs. Sedley, eine Witwe und Rentierin der East India Company und Captain Balstrode, ein pensionierter Kapitän der englischen Handelsmarine. Alle pflegen gemeinsam gesellige Rituale, die besonders die zwei Nichten im ersten Akt verspotten. Auf der anderen Seite die Fischer und ihre Frauen, deren Leben den Launen der Gezeiten unterworfen ist; der  „Zahnlosen“, von denen Bob Boles abstammt, der ein methodistischer Prediger geworden ist, jedoch wieder dem Alkohol verfallen ist. Zwischen ihnen die nicht einzuordnenden Charaktere in prekärer Lage: Auntie, die Besitzerin des Kabaretts, Ned Keene, der Apotheker-Scharlatan, zwei Geister, die sich in Aphorismen ausdrücken, bevor sie zum Schweigen gebracht werden und Ellen Orford, die sozial deklassierte Witwe, die Lehrerin geworden ist. Aber ganz unten im Korb das Subproletariat der Nichten, Bourgs „fruchtbare“ Näherinnen und der Lehrling, ein uneheliches oder mittelloses Kind, das von der Pfarranstalt aufgenommen wird und dann an einen brutalen Meister verkauft wird, wie in Oliver Twist (1837) von Charles John Dickens (1812-1870).

 

Wir werden jeden vernichten, der uns verachtet…

Nur Bob Boles protestiert gegen diese Praxis, die die Bourg einstimmig akzeptiert, doch sein Wort wird durch seinen Alkoholismus  und einem religiösen Fanatismus entkräftet, der Peter Grimes dämonisiert und seinen Lynchmord fördert. Swallow befürwortet die Prostitution und erinnert uns daran, dass die Macht in der Bourg auf der Seite der Bärtigen, der Nichten liegt. Ellen Orford und Auntie werden von einem Patriarchat, dass Frauen in zwei Kategorien einteilt: Die Mütter und die Huren, die an ihren Strom zurückgeschickt werden. Da im „Königreich Dänemark Fäulnis herrscht“, steht der Bezirk unter dem Einfluss von viel Giften. Für die Sünder gibt es Gin, das tödliche Getränk, das William Hogarth (1697-1764)  anprangerte. Für Mrs. Sedley ist es das Opium! Für Peter Grimes ist es das Geld, das der Bürger zum höchsten Wert erhebt, das Gesetzt der Sonntagsruhe zu übertreten und in seinem Lehrling sein „Besitz“ zu sehen. Und vor allem Gerüchte, Klatsch und Verleumdungen, die durch das Urteil des Magistrats in einer Gemeinschaft gefördert werden, in der jeder gesündigt hat und sich gegenseitig ausspioniert. Dieses Gerücht ist durch die Angst vor jemandem motiviert, der sich weigert, sich den Gesetzten der Stadt zu fügen und die Klassen der Stadt dazu treibt, sich in einer Episode kollektiver Psychose zu vereinen, für die es in der Geschichte zahlreiche Beispiele gibt und die schlicht und einfach zu ihrer Beseitigung führt, ohne dass die tragische Krise der Gemeinschaft irgendeine Katharsis oder moralischen Fortschritt bringt.

Valentina Stadler (Mrs. Sedley), Tania Lorenzo Castro (1.Nichte), Elvira Margarita (2.Nichte), Rueben Mbonambi (Swallow) und Chor © Emanuel Ammon / Festival Luzern

 

Peter Grimes, der aufdringlich auftritt, Gemeinschaftsrituale wie den Matrosenreigen unterbricht und ständig über seine Andersartigkeit singt, verinnerlicht schließlich das Urteil der Unreinheit, das die Bourg und Ellen Orford ihm durch das Zurückziehen seiner Hand ausdrücken wollen – daher dieser mysteriöse Selbstmord. Reduziert auf ein Gerücht und eine Rauchwolke – hat er jemals existiert? Für Pears  ist Peter Grimes ein ganz gewöhnlicher Mann, der nicht mit der ihn umgebenden Gesellschaft Schritt hält und versucht sie zu erobern, indem er ihre Werte übernimmt und dabei ihre Regeln bricht – daher seine Eliminierung. Er macht aus der Oper eine moderne Parabel der Unterdrückung in einer Welt, die von „Mrs. Grundy“ regiert wird, der britischen Verkörperung der erstickenden Tyrannei der etablierten Ordnung. Pears und Britten, Pazifisten und Kriegsdienstverweigerer in Kriegszeiten, die trotz Gesetzen, die die Homosexualität unter Strafe zu stellen, in der Öffentlichkeit als Paar leben. Sie identifizieren sich mit ihrem Antihelden, den die Kritiker mit Alban Bergs (1885-1935) Wozzeck (1925) nach dem gleichnamigen Drama (1837) von Georg Büchner (1813-1837), vergleichen: Einem Opfer von Militarismus, Heuchelei und Szientismus! Die Oper zeichnet das Bild einer durch sechs Jahre Krieg entmenschlichten und desorientierten Gesellschaft, die bereit ist, dieselben Fehler wieder zu begehen. Wir können in dem Mann auch die Visionen des verstorbenen Künstlers erkennen, der von der egalitären und normalisierten Gesellschaft, die der Wohlfahrtsstaat der Labour-Party 1945 vorbereitete, gequält wird. Diese universelle Parabel berührt uns noch immer!

 

(Siehe auch unsere IOCCO-Kritik: Peter Grimes / Opéra National de Paris vom 01.O2.2023)

 

Zur Premiere im Luzerner Theater im Rahmen des Luzern Festival 2025 am 6. September 2025:

 

Brett Sprague (Peter Grimes) © Emanuel Ammon / Festival Luzern

Peter Grimes oder wenn die Sehnsucht stirbt…

Was Brittens Opern-Drama Peter Grimes neben der kraftvollen, ergreifenden und atemberaubenden Musik so reichhaltig macht, ist die Mehrdeutigkeit seiner Charaktere. Das Libretto enthüllt nicht alle Geheimnisse der Handlung und überlässt daher einen Großteil der Interpretation dem Regisseur. Nägele, liefert daher eine sehr persönliche Vision des Werks: Auf einer sehr kleinen reduzierten und fast leeren Bühne wird man über die gesamte Länge eine Mauer aus Naturstein sehen, die wohl symbolisch die Grenze zwischen dem Dorf und dem nur angedeuteten Strand ist. Eigenartiger Weise riecht man gewissermaßen Salzwasser und Meereswellen! In dieser Ästhetik der Leere werden einige verstreute Fischkisten stehen und nach dem Fischfang sieht man die Frauen beim Ausnehmen der frischen Fische zu, alles geschmackvoll und hinreißend gestaltet. Die von der deutschen Kostümbildnerin Marie-Luise Otto entworfenen Kostüme sind zeitgenössisch und passen sich diskret an die fade und bleiche „Mond“-Landschaft an, die der deutsche Bühnenbildner Valentin Köhler mit viel Talent gestaltet hat. Der finnische Lichtbildner Petri Tuhkanen entwickelte dazu ein überzeigendes malerisches Licht, das sich gewissermaßen von wilden hysterischen Wellen und zwischen kaltem Mondgesang sich polternd bewegt.

 

Captain Balstrode, der stets anwesend ist, um über seine „Herde“ zu wachen. Peter Grimes verheimlicht und versteckt mit viel Not seine Homosexualität. John, sein Lehrjunge ist ein junger, gut gekleideter Praktikant, der sowohl Ellen Orfords als auch Captain Balstrodes Begierde und damit auch Grimes‘ Eifersucht erweckt.

 

Der deutsche Regisseur Wolfgang Nägele beschreibt eine gewalttätige, toxische Umgebung, in der jeder seinen Impulsen ungehindert freien Lauf lässt. Die Spannung bleibt daher konstant und geht in den explosivsten Passagen über die Musik hinaus. Doch in den subtileren Passagen kommt die Emotion nur schwer zum Vorschein. Der schweizerische Kinderstatist Arush Khatri in der Rolle des Lehrjungen John ist kein unschuldiges Kind: Sein kaum geahnter Tod ist weniger herzzerreißend als sonst. Grimes, ein durchweg negativer Charakter, erzeugt weniger Empathie, als wenn seine Verletzlichkeit stärker betont wird. Ebenso wirken auch Captain Balstrode und Ellen Orford zynischer und wecken weniger Zuneigung.

 

Das Vokalensemble passt perfekt zur Vision des Regisseurs. Der amerikanische Tenor Brett Sprague ist ein heiterer Peter Grimes mit rauer Stimme, aber einem reichen und schillernden Mitteltonbereich. Seine Figur ist ständig energiegeladen, kraftvoll: Der Schauspieler seines Untergangs! Vielleicht aus künstlerischer Entscheidung fehlt es ihm daher an Subtilität in seinen Monologen. Die Plejaden-Arie handelt mehr von Wut als von Verzweiflung und Zurückhaltung: Sie beeindruckt mehr, als dass sie bewegt. Aber trotz allem ist er ein beeindruckender Peter Grimes mit einer ungewohnt harschen Stimme,  aber zugleich auch mit einer wunderbaren gewaltigen und schönen Tonwiedergabe. Für uns war er eine sehr große Entdeckung!

Brett Sprague (Peter Grimes) und Arush Khatri (Lehrjunge John) © Emanuel Ammon / Festival Luzern

 

Die isländische Sopranisten Eyrún Unnarsdóttir in der Rolle der Ellen Orford spielt äußerst glaubwürdig und dramatisch, mehr „berufstätiges Mädchen“ als Mutter. Ihre Wechsel zwischen klaren, reinen Höhen, brillanten Mitten und rauen Tiefen sind manchmal brutal, aber sie schafft es, ihre Stimme gut zu mildern und ihre Phrasierung gekonnt zu konstruieren, wenn ihre Zweifel auftauchen und lässt so die Not ihrer Figur an die Oberfläche kommen.

 

Der ukrainische Bariton Vladyslav Tlushch interpretiert den Captain Balstrode bereits seit 2014. Seine Stimme ist hart und vollmundig, was gut zur Vision der Figur passt, weniger umgebend und freundlich: Sein stimmlicher Abdruck ist eher der eines Dandys als der eines Seemanns. Aber auch hier erkennt man eine wunderbare schöne und schillernde Stimme, wenn man nur ein wenig tiefer schürft, um die Süße seiner Tonfärbungen näher hören kann. Auch eine phantastische Entdeckung!

 

Die schweizerische Sopranisten Judith Schmid ist eine überaus gutmütige Auntie, Wirtin des Gasthauses „Zum Eber“, mit einer berauschenden Stimme, die so voll ist wie der Likör, den sie ihren Kunden serviert. Ihre beiden Nichten, hier interpretiert von der spanischen Mezzo-Sopranisten Tania Lorenzo Castro (1. Nichte) und der armenischen Sopranistin Elvira Margarian (2. Nichte), sind harmonisch perfekt: Ihre Stimmen ergänzen sich, die warmen Mitten der Ersten verschmelzen perfekt mit den satten Höhen der Letzteren.

 

Der Rest des Dorfes bietet eine Galerie gut charakterisierter Gestalten! Der britische Bariton Michael Temporal Darell spielt Ned Keene, Apotheker und Quacksalber, mit einer klaren, fokussierten Stimme und mit tiefen Bassregistern. Als Bob Boles, Fischer und Methodistenprediger, hat der österreichische Tenor Robert Maszl eine liebliche Stimme, die seine Figur eher naiv und tollpatschig als wirklich böse erscheinen lässt. Der schweizerische Bass Marc-Olivier Oetterli ist ein Hobson, Fuhrmann und Konstabler, mit der kraftvollen, tiefen Stimme eines Kolosses. Der schweizerische Bariton  Luca Bernard ist der Pfarrer Horas Adams mit einer klaren, hohen Farbtönung. Seine Stimme mit ihrer sorgfältigen Artikulation verleiht ihm den herausragenden Platz, den er im Dorf einnimmt.

 

Der südafrikanische Bass Rueben Mbonambi, ist Swallow, Friedensrichter und Advokat, strahlt eine gutmütige Autorität mit einer breiten, tiefen Stimme aus. Die deutsche Mezzo-Sopranistin Valentina Stadler schließlich ist eine Mrs. „Nabob“ Sedley mit einer polierten Metallstimme und breiten Vibrato, einfühlsam, aber nicht sehr voluminös.

 

Der junge britische Dirigent Jonathan Bloxham steht an der Spitze des Luzerner Sinfonieorchesters und reckt in den komplexesten Ensemble seine Hände in die Höhe, sodass sein präziser Takt für jeden hörbar ist. Er entfacht kraftvolle, stürmische Orchesterwellen und zeigt bereitwillig Eifer, wodurch ein Gefühl der Dringlichkeit erzeugt wird. Der Opernchor Luzerner Theater, der in diesem Werk allgegenwärtig ist, ist in den komplexen Ensembles ausgewogen und besonders präzise. Einstudiert von seinem deutschen Chorleiter Manuel Bethe, führt er seine Parts mit großer Musikalität aus. Wir waren äußert überrascht, ja man kann ungeniert sagen sogar verblüfft! Ein kleines Stadttheater mit einem überaus  begrenzten Bühnenraum, mit einem verhältnismäßig verkleinertem Orchester und Chor hat eine wahnsinnige traumhafte Produktion geliefert: Solisten, Chor und Orchester waren einmalig! Eine solche qualitätsvolle Aufführung steht in keiner Weise im Schatten der großen Weltbühnen!

 

 

 

 

 

 

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