Köln, Theater Tiefrot, SEX ODER EX - Paarsatire von Anthony Neilson, IOCO
Sex oder kein Sex.
Das ist hier mitten auf offener Bühne die Frage.
Das Theater Tiefrot ist ein kleines, aber feines Privat-Theater in Köln. Das fast privat wirkende Kellertheater wurde 2002 eröffnet, Gründer und künstlerischer Leiter ist der Schauspieler und Regisseur Volker Lippmann. Das Theater sieht sich als
- gesellschaftlich engagiertes Literaturtheater und
- politisches und experimentelles Theater.
Mit "Sex oder Ex" hat der schottische Autor Anthony Neilson ein Stück über die abebbende Lust bei Langzeit-Beziehungen im gegenwärtigen Gesellschaftsklima geschrieben. Das Setting des Stücks ist schnell beschrieben:
- Seit 9 Jahren sind Jimmy und Jessica ein Paar. Nun aber haben sie seit 14 Monaten keinen Sex mehr (sie führt Tagebuch darüber).
- Das wollen sie an diesem Abend - in einer Verzweiflungsaktion - gemeinsam ändern - auf offener Bühne, im Scheinwerferlicht und unter den Augen des Publikums.
- Wenn sie es bis zum Ende der Vorstellung nicht schaffen sollten, Sex zu haben, werden sie ihre Beziehung beenden.

Vielleicht müsste vor dem Besuch dieses Stücks bei diesem Setting eine Warnung ausgesprochen werden. In den Köpfen und Herzen des Publikums werden heute die folgenden Themen verhandelt, die recht schwer verdaulich sein könnten:
- Erleben wir heute den tragischen Abgesang auf das tausendjährige Kulturgut "Langfristbeziehung"?
- Oder stimmt es einfach schlicht, so wie es hier gezeigt wird? Und wenn ja - was dann? Vielleicht doch besser nur Kurzfrist-Beziehungen? Oder gar keine?
- Oder sind wir vielleicht selbst verantwortlich, weil wir in den Jahren des Miteinanders den schönen Sex einfach Stück um Stück gemeinsam ermordet haben?
Wir könnten uns natürlich damit trösten, dass das Stück nur komische Groteske ist, die es erlaubt, über dieses Thema einfach mal nur befreiend zu lachen. Wir könnten danach einfach nur nach Hause gehen und uns einreden: "Ach, was haben wir gelacht." Oder: "So was gibt´s doch gar nicht in Wirklichkeit."
Also gut, trotz der Warnung ist das Publikum zum Nikolausabend sehr zahlreich erschienen. Welche Abgründe werden heute denen geboten, die sich nicht abschrecken ließen?
Als Bühnenbild sieht man zunächst mal ein Bett - was wäre naheliegender? Hier soll die Sache also vollzogen werden. Sonst ist das Bühnenbild im positiven Sinne sparsam - mit genug Raum für das Wesentliche. Denn die Aufmerksamkeit des Publikums auf die gesprochenen Texte und die Reaktionen wird ultimativ gefordert. Zusätzlich darf noch jeder nachdenken, was für ihn selbst zutrifft. Auffällig am Bühnenbild ist nur noch ein Plakat mit der Aufschrift: make love not war.
Und Gott sei Dank wird schnell auch klar: Schenkelklopfende Zoten hören wir heute nicht. Eher einen Höhenflug an packenden Dialogen und - ja - auch Monologen über die jeweilige Innenwelt: Immer wenn der Spot nur auf einer der beiden ruht, spricht er nur seine sonst nicht mitteilbaren Gedanken aus, die der andere - eingefroren - Gott sei Dank nicht hören kann.

Die beiden Protagonisten übertreffen sich selbst und schaukeln sich offenbar sogar noch aneinander hoch. Kein Wunder bei diesen grell gefärbten, abgründigen Themen, möchte man sagen.
Jimmy (dargestellt von Marcus Michael Mies) stellt einen prominenten Vertreter der heutigen Männerwelt dar:
- Sensibel, hoch reflektiert, stark davon gefärbt, was der Mann heute bei voller Wokeness alles nicht sein darf.
- Therapie-erfahren und seit Jahren gestählt in der Psycho-Mühle der Männergruppen.
- Er ringt vor allem mit sich selbst und scheitert an dem Anspruch, den er an sich als moderner Mann hat. Zu viel gleichzeitig müsste er umsetzen und bedenken.
Und so wird klar: Für ein simples "nur so-Lust-haben" und erotisches Zupacken bleibt da kein Raum. Das Spiel von Marcus Michael Mies zeigt die Lasten sehr eindrucksvoll, die ein heutiger "moderner" Mann mit sich tragen muss. Sein Blick scheint mehr nach innen als nach außen gerichtet und so kommt er auch mit viel Gebrochenheit daher.

Jessica (dargestellt von Julia Karl) zeigt sich in dieser Inszenierung keine Spur von gebrochen-reflektiert.
- Als moderne Frau, die die Wokeness auf ihrer Seite weiß, ist ihr klar, was sie alles fordern darf in dieser Welt und insbesondre von der Gattung Mann.
- Sie ist sich ihrer überlegenen Kraft in der Geschlechter-Grundsatzdebatte voll bewusst, es ist die Duell-Waffe ihrer Wahl.
- Gleichwohl scheitert sie auch daran, auch nur die kleinste erotische Annäherung zu wagen - außer verbal eben.
Anstatt vorwiegend nach innen zu schauen schmettert ihm vielmehr ihr Dauer-Feuerwerk von explodierenden Primärgefühlen um die Ohren: Schrei-Szenen, Heulkrämpfe, Vorwürfe, Hitzewallungen, erotische Verzweiflung, schneidende verbale Diskussionsgewalt, groteske Komik, Grimassen-Akrobatik. Alles ist dabei.
Zusätzlich ist dieses Gefühlsfeuerwerk verbunden mit etwas, was man wohl als mimisches Naturereignis bezeichnen kann: Jeder Blick, jedes Augenbrauen-Heben, jedes Augenrollen schreibt einen eigenen Subtext zur gesprochenen und gespielten Handlung, was Tiefe und Ambivalenz gleichzeitig schafft. Allein dafür hätte sich der Abend schon gelohnt. Man möchte ihr fast die Lisa-Eckhart-Frage stellen: " Sind Sie privat auch immer so?"
Vielleicht ein paar Appetithäppchen aus diesem Setting von heute Abend:
- Sie will einen Vorschlag machen: Er soll am besten erst mal eine Viagra nehmen um starten zu können. Dann wäre ja auch das latente Erektionsproblem gleich mit gelöst. Chris weigert sich ultimativ, ihrem Vorschlag zu folgen. Das auf keinen Fall, das ist mit seinem Selbstbild absolut nicht vereinbar.
- Er will einen fast schon komisch-verzweifelten Vorschlag machen. Vorher aber fleht er sie an, ihn "bitte bitte" auf keinen Fall auszulachen. Und er bringt ihr dann ein Krankenschwester-Negligé, das den langjährigen Schlaf in seinem erotischen Erinnerungspalast schadlos auf Platz 1 überstanden hat. Natürlich muss sie ihn dann doch völlig selbstvergessen "in Grund und Boden" lachen, als er es wagt, ihr zu zeigen. Und danach weigert sie sich natürlich, diesen Fummel des Grauens anzuziehen. Hoch entrüstet und empört, eine militante, gesellschaftspolitische Generaldebatte beginnend.
- Nach der Pause ist Chris zutiefst davon geplagt, dass sich bei einer völlig unpassenden Stelle eine Dauererektion eingestellt hat (gemäß Regie nur unter der Hose, jedoch sehr auffällig sichtbar). Seinem Über-Ich ist völlig klar: Politisch geht diese Erektion bei denkbar falschen Thema überhaupt nicht. Und so muss das Paar die politische Ebene heftig und kontrovers diskutieren - anstatt herzhaft zuzugreifen. Beide fühlen ihre Identität bedroht - einem gegenseitigen ultimativen Anschreien folgt eine lange Totenstille. Man würde eine Stecknadel fallen hören. Das Publikum wagt fast nicht, zu atmen.

Ein Lob für die sanfte Regie von Marc Ossendorf ist mehr als angemessen. Er versucht nicht, noch mehr aus dem Stück zu machen oder eine neue Deutungsebene aufzutun. Das Stück ist ihm gut genug. Sein originärer Regie-Beitrag gelingt ihm gut:
- Tempo, Pointen, Stimmungswechsel, Humor und Betroffenheit lösen sich in gutem Rhythmus ab.
- Bodenlosen Tiefen und münden auch mal in ein erleichtertes Auflachen des Publikums.
- Die Doppelbödigkeit (es sind ja 2 Personen) schwingt immer mit.
- Die beiden Sex suchenden Endgegner können sich wirklich zeigen. Es ist nicht eine Länge vorhanden.
Und natürlich hat heute jeder Zuschauer im Kopf: Werden sie es machen - auf offener Bühne. Wie soll das gehen? Oder wo biegen sie ab in ihrem Vorhaben. Gibt es eine Lösung bei diesem verfahrenen Dilemma? Die am Schluss gezeigte Lösung darf natürlich noch nicht verraten werden.
Im neuen Jahr sind noch weitere Aufführungen vorgesehen. Unbedingt hingehen! Es ist ein Stück auf voller Höhe des Zeitgeistes und wohl bestens geeignet, sich selbst oder als Paar mit einer der vielen heute gezeigten Klippen zu konfrontieren. Und so viel sie doch verraten: Neben all der Auseinandersetzung wird an dem Abend auch klar, wie rührend-bemüht beide eine Lösung zu suchen. Trotz aller Empfindlichkeiten, trotz all der Verletzungen im Streit.