Insight Wilhelm Furtwängler, DVD Blue Ray Film Edition

Filmischer Nachlass des Dirigenten und Zeitzeugnisse erstmals auf DVD

Wilhelm Furtwängler starb vor mehr als siebzig Jahren. Für die junge Bundesrepublik und die Musikwelt war dies ein Schock. Er wurde nur 68 Jahre alt.
Großes stand bevor. Eine Amerika-Tournee mit den Berliner Philharmonikern war geplant. Für die EMI sollte er Wagners gesamten Ring des Nibelungen aufzeichnen. Gleichzeitig hatte er mit einem erheblichen Verlust des Gehörs zu kämpfen. Das Ende des tauben Beethovens muss ihm vor Augen gestanden haben. So wurde nach den schweren Jahren der NS-Zeit auch sein Tod für ihn zu einer furchtbaren Tragödie oder vielleicht auch eine Erlösung.
Furtwängler war ein Musiker, dessen Karriere im Kaiserreich begonnen hatte. Seit den zwanziger Jahren war er ein international geachteter Repräsentant deutscher Musikkultur. Trotz des Mordens und der Barbarei, die Deutsche im Namen des NS Regimes über Europa gebracht hatte, wurde er schon kurz nach dem Krieg nach Großbritannien und Frankreich eingeladen.
In Großbritannien führte er 1948 einen vollständigen Beethoven Zyklus auf und nahm dort unter anderem die legendäre Tristan und Isolde Einspielung mit Kirsten Flagstad und Ludwig Suthaus auf.

Furtwänglers Werden war tief in im neunzehnten Jahrhundert verhaftet. Geprägt wurde er durch seinen Vater, den berühmten Archäologen Adolf Furtwängler, Familie und Privatlehrern. Er war zutiefst der Antike, Klassik, Romantik aber auch Sportarten wie Reiten und Skifahren verpflichtet. Zudem war er beliebter Gast bei seinen Orchestern und in Gesellschaften. Zugleich war er ein Einzelgänger und Individualist, der in einem Kosmos der Musik lebte. Die frühe Prägung zur Tradition hat ihn später nicht gehindert, sich zeitlebens für Musiker wie Stravinsky, Bartok und Hindemith einzusetzen. Zu Hause war er in der Opern- und Konzertwelt. Zu seinem Schicksal gehörte es, dass er auch in der NS-Diktatur wirkte und dadurch bis heute polarisiert, obwohl er politisch nicht unmittelbar verstrickt war.
Trotz seines Todes vor sechzig Jahren ist er in die Musikgeschichte eingegangen. Er ist einer der Dirigenten, die als Musikerlegende angesehen werden. Seine außergewöhnlich suggestiven Interpretationen und seine wahrhaftige aus eigenem Erfindungsreichtum geschöpften Wiedergaben verfügen über eine starke Sogkraft und Individualität und werden bis heute veröffentlicht. Durch seine künstlerischen Visionen und seine Gestaltungskraft erreichte er allein durch seine Tonträger weltweite Popularität selbst in Japan und den USA.
Ich bin habe Wilhelm Furtwänqler in den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts kennengelernt. Als Jugendlicher hatten mich Musik und Welt Richard Wagners fasziniert. Nur mit knappen Finanzen ausgestattet, war der Ring des Nibelungen aus der Mailänder Scala seinerzeit die einzige Möglichkeit, eine Gesamtaufnahme des Ringes des Nibelungen in einer obskuren Ausgabe für schmale 30 DM auf 11 LP zu erwerben.

Was trotzt der tontechnischen Einschränkungen aus den Lautsprechern erklang, machte mich sprachlos. Schon das Strömen und Weben des Vorspiels im Rheingold war wesentlich tiefgängigerer als in bisher konsumierten Rundfunkübertragungen. Die Kraft und Wehmut mit der Wotans Abschied oder Kirsten Flagstads Schlussgesang und die musikalische Gestaltung Furtwänglers wirkten selbst damals schon auf mich wie Magie.
Ein wenig beleuchten Äußerungen Wilhelm Furtwänglers zum Dirigat eines Kollegen seine Auffassung zur Interpretation und seine durch seine Interpretationsgrundsätze ausgelöste faszinierende Wirkung.
Aus seiner Sicht muss der Interpreten die funktionelle Bedeutung der Modulationen auf lange Sicht vermitteln. Diese spiele in der absoluten Musik, zumal Beethovens, aber eine gewichtige Rolle. Ferner bemängelte er, dass statt einer seelisch-psychologischen Durchdringung die Werke häufig rein musikalisch dargeboten wurden. Als einen weiteren negativen Aspekt sah er das fehlende organischen Werden des Beethoven-Werkes an. Für Furtwängler bedeuteten die Beethoven-Sinfonien ein lebendiges organisches Herauswachsen jeder melodischen, rhythmischen, harmonischen Bildung aus dem Vorhergehenden. Diese Kritik beschreibt in Kürze wesentliche Aspekte und die Qualität von Furtwänglers Interpretationen.
Claudio Abbado erklärte seine Nähe zu Furtwängler so: „Für mich war Furtwängler immer der größte Interpret. Weil bei ihm jede Note, jede Phrasierung eine logische Bedeutung gefunden hatte. Was den Zusammenhang zwischen allen Noten in der Musik betrifft, das konnte Furtwängler dirigieren und uns hören lassen.“
Durch die Vielzahl seiner Aufnahmen hat er einen immensen Einfluss auf die Musik- und Schallplattengeschichte. Von der Erfindung und praktischen Einführung des Tonbands beim Rundfunk haben er und die Nachwelt immens profitiert. Furtwängler hatte eine Aufnahmequalität des letzten Satzes der 4. Sinfonie von Brahms die für die öffentliche Vorführung der Erfindung des Tonbandes im Berliner UFA-Palast gemacht. Vom Ergebnis war er so begeistert, dass er sich die Aufnahmen immer und immer wieder vorführen ließ. Er hatte noch nie erlebt, dass man während oder kurz nach der Aufnahme, und mit einer solchen Qualität, abhören kann.
Damit war wohl das Eis gebrochen und die frühere Ablehnung von Schallaufnahmen beseitigt. Furtwängler hinterließ insbesondere in den etwa sieben Jahren zwischen seinem Wiederauftreten nach dem zweiten Weltkrieg bis zu seinem Tod reiches Erbe an Studio- und Live-Aufnahmen.
Der Trend zur Herausgabe großvolumiger Boxen hat auf dem CD Markt dafür gesorgt, dass in einer übersichtlichen Zahl an Veröffentlichungen die wichtigsten Aufnahmen Furtwänglers in hervorragender Tonqualität vorliegen. Dadurch ist sein Schaffen ausgezeichnet dokumentiert. Bedeutend sind die Aufnahmen der Reichsrundfunkgesellschaft aus den Kriegsjahren, die zuletzt in fulminanter Qualität auf SACD beim Label der Berliner Philharmoniker erschienen sind. Seine bei EMI entstandenen Studioaufnahme liegen auf 55 CD bei Warner vor. Hinzu treten Rundfunkaufnahmen aus Berlin und Luzern bei Audite, aus Salzburg und Wien bei Orfeo und eine große Ausgabe auf 80 CD mit Aufnahmen aus aller Welt beim japanischen Label King. All dies ist auch bei den großen Streaming-Diensten verfügbar. Daher ist der Zugriff auf Furtwänglers Aufnahmen heute unfassbar leicht. Wer der Faszination Wilhelm Furtwänglers erliegt, erhält in John Ardoins Buch „The Furtwängler Legacy“ eine profunde Einordnung der wichtigsten Aufnahmen.
Auf dem Auf dem Youtube Kanal hcleskov-fischer sind zahlreiche seiner Opernaufnahmen zum Hören und download in guter Tonqualität verfügbar. Der Kanalinhaber hat alle Gleichlaufschwankungen der Tonbänder beseitigt und die Aufnahmen in die richtige Tonhöhe transferiert.
Bei allen Veröffentlichungen blieb bisher das Desiderat einer DVD, die Furtwängler im Film zeigte und wichtige existierende Interviews von Zeitzeugen enthielt. Die deutsche Wilhelm Furtwängler hat diese Lücke nun mit einer herausragenden Veröffentlichung geschlossen. Die hervorragend restaurierte und editierte Edition besteht aus drei Blu-ray DVDs und einem Begleitbuch.
In bestechender Bild und Tonqualität werden auf der ersten Disc die wichtigsten Bilddokumente Wilhelm Furtwänglers vorgelegt. Dies sind Konzert- sowie Probenausschnitte mit Kompositionen von Strauss, Beethoven und anderen. Die zweite Disc enthält Gespräche und Ausschnitte einer italienischen TV-Dokumentation mit Beiträgen von Theodor W. Adorno, Claudio Abbado, den Orchestermitgliedern Werner Thärichen sowie Eberhard Finke und vielen anderen. Als letztes wichtiges Dokument ist auf DVD 3 die überaus sehenswerte Filmdokumentation über Wilhelm Furtwängler von Florian Furtwängler aus dem Jahr 1968 enthalten.
Die Edition eröffnet die Möglichkeit, Furtwänglers auf dem Podium in Bild und Ton kennenzulernen. Durch die Filmaufnahmen werden sein Dirigierstil und dessen Wirkung anhand der Filmaufnahmen insbesondere im Don Juan sichtbar. Diesen beschreibt die Bratscherin, Dramaturgin, Musikschriftstellerin und Journalistin Karla Höcker wie folgt: „Furtwängler holte er mit seinen weit ausladenden Bewegungen Klangwirkungen von ungewohnter Intensität aus dem Orchester heraus. Er erinnerte in der Art, wie er sich neigte und bog, zuweilen eher an einen sturmgepeitschten Baum als an einen sorgfältig taktierenden Kapellmeister“.

Am erschütterndsten sind Dirigat und Publikumsrektionen in einer Filmaufnahmen des Vorspiels zum 1. Aufzug Meistersinger aus einem Berliner AEG-Werkskonzert in einer Pause aus dem Jahr 1943 zu sehen. Die Gesichter der Zuhörer spiegeln dort die Schrecken des Krieges wieder. Zwei Frauen wirken äußerlich um zwanzig Jahre gealtert aber gelöst und verklärt bei Hören der Musik. Ein etwa siebzehnjähriger Blondschopf blickt mit angsterfüllten Augen in die Kamera. Ihm glaubt an, dass er in den Bombennächten Dantes Inferno gesehen hat. Ältere Arbeiter blicken mit leeren Augen und gelösten Gesichtern in die Kamera.
Das gleiche Werk ist in Auszügen auch aus einem Film nach dem Krieg enthalten. Vergleicht man beide Aufnahmen ist der Unterschied zwischen den Interpretationen Furtwänglers während und nach dem Krieg deutlich sichtbar. Furtwänglers Lesart ist in der Kriegsaufnahme bei weitem dramatischer und intensiver. Furtwängler kontrastiert viel stärker und auch die Tempovariationen unterscheiden sich deutlich von der ruhiger dahinfließenden Nachkriegsaufnahme.
Die Dokumentation über Wilhelm Furtwängler produzierte Florian Furtwängler in schwarz-weiß 1968 für das Studienprogramm des Bayerischen Rundfunks. Das Drehbuch stammt von Karla Höcker, die Furtwängler gut kannte und das Buch Wilhelm Furtwängler: „Begegnungen und Gespräche“ verfasst hat. Der Film erzählt das Leben Furtwänglers und enthält Beiträge von Theodor W. Adorno, des Journalisten Joachim Kaiser, des Konzertmeisters Siegfried Borries und vielen anderen.
Die biographische Erzählweise und der gleichzeitige Ansatz, das Phänomen Furtwängler einzufangen, machen den Film heute noch sehenswert. Wünschenswert wäre, wenn der Bayrische Rundfunk die dort verwendeten Beiträge in ganzer Länge in seiner Mediathek einstellen würde.
Inhaltsreich und überaus informativ kommt der Begleitband daher. Eingangs erläutert Daniel Barenboim in „Warum uns Wilhelm Furtwängler bis heute bewegt“ sein Plädoyer für die Aktualität Furtwänglers. „Blick auf einen singulären Dirigenten“ vereint ein Kurzportrait mit Zeitzeugnissen. „Furtwängler und die Medien“ erzählt von Furtwänglers Weg zu Tonaufnahmen. Der Beitrag „Furtwängler und der Film“ stellt den filmischen Nachlass vor und erläutert die Relevanz der Bilder in NS- und Nachkriegs-Zeit. Weitere Beiträge zur klassischen Musik im Rundfunk und zur Schallplatte als Tonträger runden das Buch ab.
Für an Furtwängler Interessierte bildet die Box eine ausgezeichnete Grundlage, sich mit ihm als Interpreten, Mensch und historische Person zu beschäftigen. Für Furtwängler-Begeisterte ist die Veröffentlichung so wertvoll, weil die Filmdokumente glänzend aufbereitet vorliegen und zur vertieften Betrachtung einladen. Auch die verwendeten Zeitzeugnisse sind große Novitäten mit hohem Informationsgehalt.
Dem Vorsitzenden der Wilhelm-Furtwängler-Gesellschaft Helge Grünewald, dem Archiv der Wilhelm-Furtwängler-Gesellschaft Berlin und der musicas. de, Hamburg gebührt großer Dank für die Erstellung dieser herausragenden und wichtigen Box.
Eine wichtige und überfällige Veröffentlichung, die durch die Filme einen elementaren Bestandteil des künstlerischen Vermächtnisses Wilhelm Furtwänglers öffentlich zugänglich macht.