„Ich bin fromm ohne Religion!“

Gedanken zur Person Gustav Mahler und seiner Kompositionsweise am Beispiel seiner 2. Sinfonie
im Vorfeld des Konzertbesuches beim Oldenburgischen Staatsorchester am 29. Juni 2025
Essay I von Thomas Honickel
„Das Wichtigste in der Musik steht nicht in den Noten.“
Mahlers kompositorisches Wirken beschränkt sich ganz wesentlich auf sein Liedschaffen und seine Sinfonik. Erstaunlich bleibt, dass er, der seinerzeit als „bester Kapellmeister der Welt“ gehandelt wurde (mit Stationen von Budapest über Hamburg und Wien bis New York), der die gesamte Operndirektion und Regiearbeit reformierte (oder es mindestens versuchte), niemals eine Oper komponierte.
Seine Heimat war der Konzertsaal mit der absoluten Musik, die jedoch häufig durchdrungen war von seinem Liedschaffen („Wunderhorn-Sinfonien“) und nicht unbeträchtlichen vokalen Anteilen, die da zur Sprache kamen, wo das Instrumentale an seine Grenzen stieß, wo die menschliche Stimme als Partner das Ganze zu neuen Höhen führen sollte.
Im Reigen der neun (plus dem Torso der 10.) Sinfonien sind die 2. - 4. und 8. Sinfonie („der Tausend“) solche Beispiele, wo das gesungene Wort das Instrumentale erweitert und ergänzt, verdeutlicht oder vertieft. Zuvor gab es das nur bei Beethovens 9. Sinfonie, wenigen kleinen (oft optionalen) Anteilen bei dramatischen oder Programmsinfonien von Liszt, Berlioz, Raff und Mendelssohn („Lobgesang“), die eigentlich eher eine „Sinfonie-Kantate“ ist.
Bei Mahler sind die vokalen Anteile in einen großen, inhaltlich bedeutsamen Kontext gesetzt, wo sie fast zwangsläufig erscheinen müssen, um der Architektur zu ihrem Recht zu verhelfen. Sie sind integral; deuten und veranschaulichen die spirituellen und metaphysisch-jenseitigen Dimensionen an.
Komponisten wie Schönberg („Gurre-Lieder“), Delius („A Mass of life“), Schostakowitsch (gleich viermal in seinen Sinfonien 2, 3, 13 „Babi Jar“ und 14), Vaughan Williams („A Sea Symphony“ / „Sinfonia antartica“), Penderecki (7. Sinfonie „Seven Gates of Jerusalem“) und Bernstein („Kaddish“) sowie viele weitere im 20. Jahrhundert nahmen diese Impulse auf und führten sie weiter.
„Eine Symphonie muss wie die Welt sein. Sie muss alles umfassen.“
Mahlers sinfonisches Schaffen ist eines der permanenten Brüche: Zusammenbrüche, Aufbrüche, Abbrüche, was sich teilweise auch in konkreten Anweisungen des Komponisten niederschlägt. Selten gibt es Ruhepole (vor allem ganzer, kleinbesetzter Sätze), die als Inseln in sich verbleiben. Populärstes Beispiel ist etwa das berühmte „Adagietto“ aus der 5. Sinfonie. Bestimmend für Mahlers Kompositionstechnik ist eine Setzweise, die scheinbar Unvereinbares aufeinanderprallen lässt, ohne es zu einer Synthese führen zu wollen: Da stehen Naturstimmungen neben Militärmusik, Klezmer-Anklänge aus seiner jüdischen Tradition neben Sakralem, das bisweilen an Bruckners weihrauchgetränkte Passagen erinnert, Pompöses à la Wagner neben Lyrischem im vermeintlichen Volkston. Zusammengebunden häufig durch eine Vielzahl an musikalischen Gedanken, die weiträumigsten Entwicklungen unterworfen sind.
Solche Kompilationen von Heterogenem und die Art, in der sie häufig unvermittelt aufeinandertreffen, waren (und sind?) angreifbar. Vor allem für die Klassizisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts, allen voran Johannes Brahms und seinen „Apostel“ Eduard Hanslick, war ein solches Kom-Ponieren (sic!) ein Gräuel, das lautstark kritisiert wurde. Die Polarisierung in der zweiten Jahrhunderthäfte war ja ohnedies von den „Neudeutschen“ um Wagner, Liszt und Bruckner einerseits und Brahms und die Klassizisten andererseits wie z.B. Dvorak, Tschaikovsky, Rheinberger, Bruch, Saint-Saens und später Reger geprägt.

In der Kompositionsklasse um den von Brahms abfällig beurteilten Bruckner befanden sich neben Mahler auch Hugo Wolf und ein gewisser Hans Rott, von dem in einem gesonderten Essay noch zu reden sein wird. Aber auch im Ausland galt diese von Mahler kultivierte Lesart der Spätromantik, die oben beschrieben wurde, als stilistisch verworren, manche Parodie wurde zum Plagiat erklärt, im besten Fall noch als Stilkopie: Debussy etwa meinte nach dem Hören von Mahlerscher Musik „Prophete links – Prophete rechts!“, womit er die von ihm herausgehörten Vorbilder meinte. Heute würde man mit dem Vokabular der Postmoderne von einer „Collagetechnik“ sprechen, die durchaus eigenständige Strömungen hervorgebracht hat. Nicht selten hört man etwa bei Zeitgenossen heute Mahler als Vorbild heraus.
Im Großen weitet Mahler seine Sinfonie bis zur Sechssätzigkeit, bindet Gruppen, verlangt große Zäsuren (in der Zweiten eine 5minütige Pause nach der „Totenfeier“). Im Kleinen mäandert er von klarer Harmonik über heftigste Durchchromatisierung bis zur völligen Auflösung der Tonalität, womit er weit ins 20. Jahrhundert vorausweist. Dazu integriert er bislang nie oder selten im Sinfonischen zu hörende Instrumente ins große Ganze (Mandoline, Orgel, Harmonium, Tenorhorn, extrem erweitertes Schlagwerk wie Kuhglocken), entwickelt völlig neue Spieltechniken, besonders beliebt bei ihm etwa die Spielanweisung für die Holzbläser „Schalltrichter nach oben“; er inszeniert das Sinfonische (Hammerschlag in der „Tragischen“ Sechsten) und baut das Vokale als Farbe ins Spektrum ein.
In der sogenannten „Gründerzeit“ der Jahrhundertwende entwickeln sich zahlreiche neue Strömungen vom Impressionismus, Expressionismus, den Anfängen der neuen Musik mit der Zerstörung der Tonalität über neue Tonsysteme (Hindemith, Skrjabin) und die Auseinandersetzung mit außereuropäischen Tonsystemen und -kulturen bis zur weit über Wagner hinausgehenden Durchchromatisierung der noch bestehenden Dur-Moll-Tonalität (Reger, Strauss und eben Mahler). Einige überschritten diese Grenze zur Atonalität, andere tuschierten sie nur „leicht“. Jedenfalls waren diese Jahrzehnte bis zum Ersten Weltkrieg Phasen größter Experimentierfreude; und Zeiten, in denen die Besetzungen Ausmaße annahmen, die durch das (allerdings selten wirklich erreichte) Prädikat „Sinfonie der Tausend“ dennoch gut beschrieben sein mögen.

„Muss man denn immer erst tot sein, bevor einen die Leute leben lassen? – Meine Zeit wird kommen!“ (1904)
Was hat man nicht zu (späten) Lebzeiten und dann erst recht posthum alles an negativen Konnotationen über Mahlers Werk geschrieben: „Kapellmeistermusik“, „Besinnungskomposition“, „Selbsternannter Priester eines musikalischen Weltgefühls“, „Sensation statt Erlebnis“. Maßlose Übersteigerung von Mitteln, von Ausdruck, von überbordender Überladenheit testierte man ihm. Das Schreiben „im Volkston“ wurde ihm vorgeworfen, da ihm das „Volkstum“, was immer das denn sei, nicht gefolgt sei. Das Aufblähen im Formalen wie Inhaltlichen stieß viele ab, war nach dem Krieg für kaum jemanden noch von Interesse oder nachvollziehbar.
Die Absichten Mahlers, das Gebrochene der Zeit, der aufkeimenden Ideologien, der Dekadenz und des Niedergangs einer alten Zeit schildern zu wollen mit allen ihren Unvereinbarkeiten, diese Absichten wurden als dumpfes Aufeinandertreffen ohne formalen Sinn und inhaltliche Bestimmung gegeißelt.
So brandmarkte man Mahlers Ironie als Plattheit, Weltzweifel, als Gedankengespinst, Ringen um Antworten existentieller Art als geistlose Selbstverspottung. Er, der in manchen Passagen seines Werkes das Grauen der heraufziehenden Kriege vielleicht erahnte („Nachtmusiken“ der Siebten), mindestens aber schon musikalisch aufflackern ließ, musste sich von den Klassizisten (das Duo Brahms/Hanslick und auch Richard Strauss) ebenso verbal bespucken lassen wie von manch Kollegen aus dem Ausland (Debussy).
„Ich bin dreifach heimatlos: Als Böhme unter Österreichern, als Österreicher unter Deutschen und als Jude in der ganzen Welt.“
Schnell geriet er, zumal als Musiker jüdischer Abstammung, spätestens ab 1933 in den Kreis verfemter Künstler, die es dann – wie manch andere, über die wir hier bereits ausführlich berichteten (Korngold, Braunfels) – nach dem Krieg nicht mehr in den Kanon des Konzertwesens schafften.
Assoziative Gedanken zu „Die Vögel“ von Walter Braunfels (ioco.de)
ERICH WOLFGANG KORNGOLD – der Mozart des 20. Jahrhunderts, IOCO Essay, 15.11.2023 – Test WordPress
Noch in den 50er Jahren berichten Konzertführer eher beiläufig über Mahler als letzten Heroen der Sinfonik, als einen Verirrten, Verblendeten, ins Chaos Abgedrifteten.
Im Konzertführer aus dem Hause Reklam, einem Standartwerk über Jahrzehnte (Auflage 10, 1976), also lange nachdem bereits die Mahler-Renaissance eingesetzt hatte, der Künstler im Kanon rehabilitiert war, schreiben die Autoren: „Überblickt man sein sinfonisches Schaffen, so ist da immer ein Zug…ins Monströse. Das eine Mal gibt sich Mahler problematisch, revolutionär, kunstvoll, tiefsinnig. Das andere Mal greift er auf längst Erprobtes, ja Abgetanes zurück. Nietzsche und „Wunderhorn“, religiöse Extase und „Faust“, Erhabenes und Triviales, Mystisches und Banales werden übergangslos nebeneinandergestellt…Daß die Verschmelzung des Heterogenen nicht gelang,…ist Mahlers Tragik.“
Wie fassungslos mag der, der sich mit dem kompositorischen Erbe des letzten Sinfonikers im 19. Jahrhundert auseinandergesetzt hat, der ihn oft gelesen, der ihn in Auszügen dirigiert hat, noch öfter gehört, selbst erlebt und oft mit ihm gelitten hat, wie fassungslos muss der vor solchem Dictum stehen. Das vermeintlich Epigonale trifft hier den Neuerer und Visionär aufs Schärfste.
Und noch in den 60ern hat Theodor W. Adorno, der bedeutende Philosoph der Frankfurter Schule und der 68er-Generation, ein Dictum über Mahlers 8. Sinfonie „der Tausend“ geprägt, das möglicherweise beim einen oder anderen auch auf dessen 2. „Auferstehung“ gemünzt sein könnte: „Symbolische Riesenschwarte“.
Den Selbsternannten der „2. Wiener Schule“ (Schönberg, Berg, Webern) galt er indes als Wegbereiter der Neuen Zeit, einer Neuen Musik, der mit seinem Gesamtwerk, vor allem aber den letzten Werken, die Tür ins 20. Jahrhundert weit aufgestoßen hatte. Viele Nachfolger berufen und beriefen sich auf Mahler und seine Sicht auf das Gebrochene, Gestörte, Getriebene.
Als er 1910 am Wiener Bahnhof Deutschland Richtung New York verließ, standen viele der jungen Meister am Gleis, um ihm Adieu zu sagen. Man wusste, wen man hier verabschiedete.
In New York, wo der schon schwer erkrankte Mahler dann startete, gab es nicht nur Ovationen, sondern auch Ränke mit der MET, dem Orchester, den Sängern und Teilen des Publikums. Dazu der wenige Jahre zuvor erfolgte Tod der älteren Tochter und die Ehekrise mit Alma Mahler, deren Affäre mit Walter Gropius der Komponist durch Zufall entdeckte. Vielen war er in der Neuen Welt zu detailverliebt, Disziplin heischend und Perfektion fordernd. Ihn wiederum störte der damals bereits kommerzialisierte Apparat und die pure Sucht nach „Unterhaltung“. Immerhin bildeten Freunde und Förderer für ihn ein eigenes Orchester, die späteren New Yorker Philharmoniker.

„Ein Komponist ist kein Mensch, der Musik schreibt, sondern jemand, dem die Musik geschrieben wird.“
Aus dem Kreis der dann im 20. Jahrhundert arrivierten Komponisten der Enkel und Urenkel-Generationen berufen und beriefen sich immerhin einige auf ihn und sein Werk. Neben den o.g. der 2. Wiener Schule waren das Schostakowitsch, Britten, Berio, Boulez, Kurtag, Pärt, Schnittke, Gorecki u.v.a.
Einige von ihnen haben dem Werk durch Bearbeitungen, Rekonstruktionen (10. Sinfonie), Verarbeitungen Mahlerscher Elemente in eigenen Werken oder durch das geschriebene Wort gehuldigt. Vor allem aber gilt es denen zu danken, die in schwerer See nach Mahlers Tod und dann vor allem mit deutlicher Verzögerung in den 60er Jahren dem Werk Mahlers zu Weltgeltung verhalfen: Den frühen, teils anfeindbaren Meriten durch Franz Schalk folgte nach der Nazi-Zeit eine völlige Ruhe um Mahlers Werk, die in der Folge vor allem durch seinen Freund und Assistent Bruno Walter durchbrochen wurde; später dann durch prominente Sachwalter wie Otto Klemperer, Bernard Haitink, Claudio Abbado, Daniel Barenboim, Rafael Kubelik, Georg Solti und Michael Gielen.
Vor allen Genannten aber gilt es das Verdienst des damals noch vergleichsweise jungen Leonard Bernstein zu rühmen, der die Musik Mahlers wieder an ihren Ursprung nach Wien zu den dortigen Philharmonikern führte. Ihm vor allem gelang es, mit seiner Persönlichkeit, seiner absoluten Hingabe an die Partituren und mit einer großen Kraft seiner verbalen, emotionalen, gestischen und kognitiven Größe das Wesen und die Leidenschaft dieses letzten spätromantischen Sinfonikers zu vermitteln. Unvergessen bleiben hier erschütterte Aussagen von Orchestermusikern der Wiener Philharmoniker dieser Zeit, die bekannten, jetzt erst Mahlers Musik begriffen zu haben. Von diesen ersten flammenden Ereignissen in Wien geht eine Erfolgsspur des missionarischen Eifers, den Bernstein offensichtlich auszustrahlen vermochte, bis in unsere Zeit.
„Es ist alles Musik über Musik, also Musik, die es schon gegeben hat, die man aus anderen Zusammenhängen her kennt. Dass Musik über sich selbst reflektiert – das ist der entscheidende Punkt bei Mahler. Und das ist vielleicht der Punkt, der sie auch so modern macht.“ (Mahler-Experte Bernd Sponheuer)

„Ich bin fromm ohne Religion!“
Die Auferstehungssinfonie ist durch ihre pure Länge und ihre enorme Besetzung berühmt geworden, sicherlich auch durch das zur Uraufführung im Beiheft von Mahler autorisierte „Programm“, das er aber schon kurze Zeit später wieder zurückzog. Auch der Finalsatz mit Solisten und Chor muss damals ein Ereignis gewesen sein. Isoliert komponiert wurde die „Totenfeier“ (1. Satz) schon sieben Jahre zuvor, was der Homogenität des Ganzen keinen Abbruch tut. Eine bemerkenswerte geistige Kohärenz!
Alle Mahlersinfonien sind sogenannte Finalsinfonien, deren ganze Kraft und Energie auf den Schluss des Werkes zutreiben. Bisweilen spricht man in der Fachliteratur auch von einer „per aspera ad astra“-Planung (Vom Rauen zum Gestirn). Mit anderen Worten könnte man auch sagen: Vom Tragischen zum Hymnischen, vom Kondukt zum Lobgesang, vom Gebrochenen zum Erhabenen, vom Dunkel ins Licht.
Bei der Zweiten gab es ehedem die mit den folgenden Worten knapp umrissene Programmierung: Kondukt auf den Tod des Helden, was kommt danach? – Erinnerung an sonnige Zeiten – Verzweiflung über die Sinnlosigkeit des Lebens – Kindliche Glaubenszuversicht – Apokalyptischer Kampf und triumphale Auferstehung (Apotheose).
Gerade der letzte Satz mit dem Klopstocktext und seiner freien Weiterdichtung durch Mahler selbst hat das Werk oft in einen religiös-christlichen Kontext geschoben, was Mahler dezidiert nicht beabsichtigte. Der Briefwechsel mit Kolleginnen und Kollegen gibt darüber Aufschluss: „Nein, nicht als Kirchenlehre, als Dogma! Sondern als Auferstehung im höchsten, reinsten Sinne; als Auferstehen des in uns Besseren, das unsterblich ist.“ (1895)
Zahlreiche weitere, glaubhaft überlieferte Äußerungen dokumentieren das Überkonfessionelle, Nichtliturgische und betonen das existentiell Suchende, wo der Ausdruck „Auferstehung“ als Symbol für Hoffnung und Sinn steht. Mehr Kant, Schopenhauer und Nietzsche als Katechismus und Kirchenlehre.

„Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche.“
Mahler war kein Freund von Metronomzahlen. Sehr selten finden sich in den Fußnoten welche, ansonsten triumphieren blumenreiche und vielsagende Tempoanweisungen, die man auslegen mag, wie man will. Das führt zu rekordverdächtigen Differenzen bei der Spieldauer. Von 78 Minuten bis weit über 100 Minuten gibt es da vieles zu hören.
Die zahlreichen „Regieanweisungen“ des Komponisten (in Sonderheit für den Dirigenten) sind legendär und auch in der Zweiten schon üppig vorhanden. Hinweise zu Tempo, Verzögerungen und Dynamik sind da die harmloseren, bisweilen gibt er Hinweise zur Schlagtechnik, zum Aufbau und zur Einsatzweise von separat aufgestellten Klangkörpern (Fernorchester) und zur Orchesterleitung selbst, die fast schon übergriffig wirken: Pedantisch oder gründlich? Berlioz hatte einst mit solchen „Hinweisen“ („Symphonie fantastique“) begonnen, Mahler hat das fortgeschrieben.
Aber sei´s drum: Mahler hat sich ja auch in Hamburg und Wien für eine Reformation des Opernwesens massiv eingesetzt und oft kaum noch Fäden aus der Hand gegeben. Es gab sogar Opernaufführungen, bei denen er dirigiert und inszeniert hat; und das durchaus kreativ und fähig, wie Zeitgenossen zu berichten wissen.
Den im Herzen offenen Hörerinnen und Hörern mögen bestimmte Momente in der abendfüllenden musikalischen Seelenschau der „Auferstehungssinfonie“ im Gedächtnis verbleiben: Die gigantischen Abmessungen des Kopfsatzes mit seinen mannigfaltigen Stimmungen, das Idyll des 2. Satzes und die beißende Satire des „Antonius“-Scherzo, das innig-naive Gebet des „Urlicht“ im 4. Satz und das monumental-erschütternde Finale, in dem die Welt nach Zusammenbruch und Chaos beim anschließenden „Großen Appell“ vor dem dann tastenden Choreinsatz stillzustehen scheint, um sich zuletzt hymnisch mit Klangfülle von allen Seiten (Fernorchester) der Hoffnung und dem Sehnen hinzugeben. Große Musik!
Epilog: Zeitgenössische Voten

„Das Werk überwältigte mich – wie das Weltgericht selbst. Ich stand fassungslos da. Solche Musik hatte ich nie gehört.“ (Bruno Walter, Memoiren 1936)
„Nie habe ich Gustav so aufgewühlt erlebt wie bei der Arbeit an der Auferstehungssinfonie. Er selbst fürchtete sich vor der eigenen Kühnheit.“ (Alma Mahler-Werfel, Tagebücher)
„Ich höre viel Talent, viel Originalität – und viel zuviel, was mich schaudern macht. Aber wahrhaft ergreifend ist es doch.“ (Hugo Wolf, Brief 1895)

„Mit diesem Werk ist Mahler über sich hinausgewachsen.“ (Richard Strauss im undatierten Gespräch mit Bruno Walter)
„Das Werk, an dem wohl die meisten Mahler lieben lernten, die Zweite Sinfonie, dürfte am raschesten verblassen, durch Redseligkeit im 1. Satz und im Scherzo, durch einige Primitivität des Finales.“ (Theodor W. Adorno 1960)
„Die Auferstehungssinfonie ist nicht bloß ein sinfonisches Werk, sie ist eine Erlebnisstätte, ein Altar der modernen Seele.“ (Paul Bekker, Musikkritiker 1921)
Die letztgenannte Äußerung, vielleicht weil es gerade kein Kollege oder Beteiligter ist, trifft den Kern der spirituellen Dimension vielleicht am genauesten und am visionärsten. Und in Zeiten zunehmenden Abschmelzens unserer institutionalisierten Kirchen und einer um sich greifenden Säkularisierung allen gesellschaftlichen Lebens kommt einer solchen Musik mit dem Anspruch, die Welt und ihre Sinnhaftigkeit entschlüsseln zu wollen, wieder neu eine besondere Aufgabe und Wirkung zu.
Bernstein, der o.b. glühendste Verfechter einer dringend überfälligen Mahler-Renaissance, fasste es mit sehr persönlichen Worten zusammen: „Hier zeigt Mahler seine ganze Menschlichkeit – furchtlos, verletzlich, verzweifelnd hoffend. Diese Musik ist keine Religion – sie ist unser aller Gebet.“
Abschluss dieser Zitate mag das Wort eines höchst kritischen Philosophen sein, Theodor W. Adorno, der die Dialektik und Ambivalenz folgendermaßen ausdrückt: „In der Zweiten ist der Riss der Welt nicht geschlossen, das Auferstehungsmotiv ist kein Triumph, sondern ein tastendes Bekenntnis zur Hoffnung wider besseres Wissen.“
